Werner Thiede

Die Bibel in selbstgerechter Sprache

Protestantische Kritik einer Übersetzung zwischen Ideologie und Spiritualität


Hermeneutische Vorüberlegungen

Die Bibel ist für viele Menschen maßgeblicher Zugang zum Glauben an Jesus Christus. Sie ist aber als Heilige Schrift vor allem auch ein zentrales Element im Vollzug des Gottesdienstes: Die Liturgie ist gesättigt von biblischen Zitaten, Lesungen oder Anspielungen; die Auslegung eines biblischen Textes steht meist im Zentrum. Nicht zuletzt in Gemeindegruppen, an Bibelabenden, auf christlichen Kalendern, in den beliebten Losungsbüchern und auf Evangelisationsveranstaltungen – immer wieder dreht sich fast alles um Texte aus der Heiligen Schrift. Für all die hier angesprochenen Vollzüge gilt: Sie haben mit direktem Kontakt zum Heiligen zu tun. Es geht um gelebte Spiritualität, die in der Regel ja nichts Freischwebendes und Geschichtsloses ist, sondern sich tradierter Frömmigkeit verdankt und mit entsprechenden Denkmustern und Inhalten auch vielfach auf geprägte und bewährte Sprachformen abhebt. Solch überkommene Sprachformen zu überdenken und zu überarbeiten, ist im Interesse der Zeitgemäßheit selbstverständlich erlaubt, ja ein Stück weit geboten, doch sollte sich entsprechendes Vorgehen neben dem Bemühen um wissenschaftliche Korrektheit gerade aus spirituellen Gründen im Rahmen angemessener Rücksichtnahme bewegen.

Aus diesen Gründen ist die jeweilige Verwendung einer bestimmten Bibelübersetzung eine keineswegs zweit- oder drittrangige Frage. Das wird allein schon daran deutlich, dass es ökumenisch bis heute nicht gelungen ist, eine allseits akzeptierte Übersetzung zu finden oder zu erarbeiten. In den jeweiligen Übersetzungen innerhalb der verschiedenen Konfessionskirchen drücken sich international1 und national sprachlich inhaltliche Deutungen und Festlegungen aus, wie sie der jeweiligen Kirche dogmatisch bzw. „ideologisch“ entsprechen. Kein Wunder, dass auch manche der sogenannten Sekten2 ihre je eigene Übersetzung haben – man denke etwa an die „Neue-Welt-Übersetzung“ der Zeugen Jehovas, die stringent und flächig deren Ideologie widerspiegelt. Eine Bibelübersetzung ist Ausdruck einer bestimmten Theologie3 oder Spiritualität und ebenso ihres Prägewillens. Über diesen hermeneutischen Sachverhalt muss man sich in jedem Fall im Klaren sein.

Hinzu kommt, dass eine Bibelübersetzung grundsätzlich von ganz unterschiedlicher Qualität sein kann – je nachdem, ob sie sich mit seriösem wissenschaftlichem Anspruch verbindet oder eher doktrinären Impetus hat, ob sie von Könnern gemacht ist oder von Sektierern, ja ob sie überhaupt „Übersetzung“ sein möchte oder nicht viel eher „Übertragung“ oder dergleichen. Und der jeweilige Anspruch sagt ja noch keineswegs etwas darüber aus, ob er auch im Urteil anderer als eingelöst gelten kann. Solches Urteilen wiederum ist seinerseits bedingt durch unterschiedliche theologische oder ideologische Standpunkte.

Von welch hoher Relevanz diese grundsätzlichen Überlegungen sind, wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass sich der Protestantismus auf das Prinzip „Allein die Schrift – sola scriptura“ gründet. Nach den Worten der Konkordienformel aus den Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche „bleibt allein die Heilige Schrift der einig Richter, Regel und Richtschnur, nach welcher als dem einigen Probierstein sollen und müssen alle Lehren erkannt und beurteilt werden, ob sie gut oder bös, recht oder unrecht sein“4. Demnach muss die Bibel gerade auch Maßstab sein für jede Lehre, die mitverantwortlich für die Ausrichtung ihrer Übersetzung zeichnet. Welche Bibel aber soll das sein – und in welcher Übersetzung bitte? Hier scheint sich die Katze in den Schwanz zu beißen. Wo das protestantische Schrift-Prinzip ernst genommen und gewahrt werden soll, dort muss sich deshalb jede Übersetzung streng am hebräischen bzw. griechischen Urtext messen lassen. Die jeweilige Sprachgestalt sucht schließlich Anteil an der Heiligkeit und Autorität des biblischen Kanons (noch jenseits der Frage einer Verbalinspiration)5; verpflichtet ist sie also dem ursprünglichen Wortgehalt und geistigen Sinn, hingegen nur gänzlich sekundär dem eigenen theologischen Urteil oder dem Zeitgeist, sowenig dergleichen außen vor bleiben kann. Verpflichtet ist sie freilich auch der Sprache und dem Denken der jeweiligen Adressatenschaft in der Gegenwart, damit die biblische Botschaft hinreichend Chancen hat, gehört und verstanden zu werden. Aber diese selbstverständliche Bemühung des Übersetzens darf nicht auf Kosten des ursprünglichen Wort- und Sinngehaltes gehen. Wer hier ein Mehr an Vermittlung leisten will, sollte das nicht im Rahmen einer Übersetzung versuchen, sondern muss zu diesem Zweck den Möglichkeitsbereich von beigefügten Erklärungen, exegetischen Erläuterungen oder spirituellen Auslegungen wählen.

Wie ist nun die „Bibel in gerechter Sprache“ von diesen hermeneutischen Grundüberlegungen her zu beurteilen? Ich muss gestehen: Als ich zum ersten Mal jenen selbstgewählten Titel hörte, war ich – noch jenseits irgendwelcher inhaltlichen Kenntnisse – unangenehm berührt von der Attitüde der Selbstgerechtigkeit6, die aus der steilen Formulierung spricht. In der Einleitung wird zwar eingeräumt, man wolle andere Übersetzungen damit nicht schon als „ungerecht“ abstempeln. Aber der eigene Besitz von „Gerechtigkeit“ bzw. wirklich gerechten Kriterien wird jedenfalls ohne nähere Diskussion vorausgesetzt. Dass damit auch eine bestimmte schultheologische Ausrichtung exklusivistisch zum Zuge kommen werde, steht schon von der Titelwahl her zu erwarten.

Tatsächlich nennt die Einleitung drei maßgebliche Leitkriterien für die beteiligten Übersetzerinnen und Übersetzer: die feministische Theologie, die Befreiungstheologie und den jüdisch-christlichen Dialog.7 Diese drei „Wurzeln“ des Projekts implizieren freilich – Kenner wissen das – kritische Vorentscheidungen in christologischer Hinsicht8 und damit im Gottesverständnis selbst. Dass eine dermaßen interessengeleitete Übersetzung Konflikte provozieren und auf Widerstand stoßen würde, war vorauszusehen – ebenso allerdings, dass sie Neugier wecken und mancherlei Zustimmung finden würde. Das Gütersloher Verlagshaus kann jedenfalls zufrieden sein: Binnen eines halben Jahres liegt der „Bestseller“ bereits in 3. Auflage vor; zigtausende von Exemplaren gingen mittlerweile in deutschsprachige Pfarrbüros, Einrichtungen und Haushalte. Während des gleichen Zeitraums haben sich allerdings sowohl die Bischöfe der VELKD als auch der Rat der EKD von der „Bibel in gerechter Sprache“ mehr oder weniger distanziert9 – desgleichen namhafte Exegetinnen und Exegeten und systematische wie praktische Theologinnen und Theologen.10 Im Wesentlichen teile ich die vielfach geäußerte Kritik, auf die inzwischen zurückgeblickt werden kann. Aus der Perspektive protestantischer Theologie halte ich die folgenden Vorbehalte für besonders wichtig, die sich den vier reformatorischen Prinzipien zuordnen lassen: sola scriptura, solus Christus, sola fide und sola gratia.

1. Sola scriptura – oder auch feministische Prinzipienherrschaft?

Die „Bibel in gerechter Sprache“ wird der genannten hermeneutischen Grundforderung der Bemühung um Treue zum Urtext programmatisch nicht gerecht. Ihr Gerechtigkeitsverständnis schert sich erstaunlich wenig darum, dem Urtext nach Möglichkeit Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Vielmehr legt diese Übertragung – das ist noch der gutwilligste Ausdruck für diesen selbstgerechten Übersetzungsversuch11 – als ein Hauptkriterium die „Geschlechtergerechtigkeit“ für ihre Programmatik zugrunde. Darunter ist das Ansinnen zu verstehen, sowohl bei Gottesbezeichnungen als auch bei menschlichen Amts-, Funktions- und Gruppenbezeichnungen das traditionell gewohnte repräsentative Maskulinum durchgängig zu vermeiden und möglichst durch beiderlei Geschlechterformen zu ersetzen. Solche Änderungen werden also fast überall dort vorgenommen, wo im Urtext durchaus das repräsentative Maskulinum steht – merkwürdigerweise nicht beim Teufel bzw. Satan. So gibt es jetzt – ungeachtet der Urtextes und der geschichtlichen Realität – Pharisäer und Pharisäerinnen, Hirten und Hirtinnen sowie Verwalter und Verwalterinnen, und das biblische Buch „Apostelgeschichte“ heißt charakteristischerweise „Über die Zeit der Apostelinnen und Apostel“ (abgekürzt jedoch traditionell: Apg). Geschlechtergerechtigkeit wird auf diese Weise quantifizierend umgesetzt. Gerecht aber wäre es eigentlich, die nicht zufällig im Urtext vorzufindenden Genera zu respektieren, sie qualitativ auf ihre Aussageintention hin zu befragen und diese ggf. in einem Anmerkungsapparat zu kommentieren, statt sie systematisch zu unterschlagen.

Schließlich versteht sich die der „Bibel in gerechter Sprache“ zugrunde liegende feministische Theologie12 mitnichten von selbst; vielmehr bedarf sie ihrerseits intensiver Diskussion. Von ihrer generellen Akzeptanz im wissenschaftlichen und religiösen Raum kann keine Rede sein. Vielmehr gibt es ungeachtet der fälligen Anerkennung, dass die feministische Bewegung und Theologie den einen oder anderen Aspekt in Geschichte, Sprache, Übersetzungssprache und Auslegungspraxis mit Recht herausgearbeitet hat13, mancherlei Indizien dafür, dass es sich – wie schon die Endung „-ismus“ bzw. „-istisch“ verrät – um eine Form von Ideologie handelt. Zu ihrer Rechtfertigung ist es keineswegs tauglich, sich auf Gal 3,28 zu berufen, wonach in Christus weder Mann noch Frau sei. Denn diese Aussage des Apostels Paulus ist eine negative und wendet sich gerade gegen die Betonung der geschlechtlichen Gewichtungen. Aus ihr positiv abzuleiten, dass in einer „gerechten Sprache“ immer beide Geschlechter gleichwertig vorkommen müssten, ist abwegig – und wird spätestens dort ideologisch, wo das Ganze zum rücksichtslos über alle Urtexte hinweg flächig durchgezogenen Programm erhoben wird. Man beruft sich für diese Entscheidung auf Martin Luther, der sich zur Unterstreichung seiner Rechtfertigungstheologie bekanntlich einmal in Römer 3,28 die Freiheit genommen hat, vor die Worte „durch den Glauben“ das Wörtchen „allein“ ein- bzw. hinzuzufügen. Dass diese einmalige Verdeutlichung des Reformators allerdings ein die ganze Bibel durchziehendes Übersetzungsprogramm permanenter Hinzufügungen legitimiere, ist zu bestreiten. Hinzufügungen dieses Ausmaßes werden zu einem wirklich textwidrigen Stilmittel, das dem reformatorischen Prinzip sola scriptura schwerlich entspricht.

Die Begründung in der Einleitung, Gott solle „nicht auf ein Geschlecht eingeengt werden“, verkennt den sprachlichen Sachverhalt, dass man der unbestrittenen Geschlechtslosigkeit Gottes – er ist natürlich kein Mann und auch keine Frau! – mitnichten gerecht wird, indem man im Reden von Gott beide Geschlechter variiert bzw. addiert14; denn genau damit macht man Gott in geradezu unerträglicher Weise zu einer geschlechtlichen Größe. Wenn dann beispielsweise der Gottesname „Jahwe“ mit „die Ewige“ oder „die Eine“ (z.B. in manchen Psalmen und etwa in Röm 3,30) übersetzt wird, dann liegt eine Feminisierung des Göttlichen vor, die mehr darstellt als eine bloße grammatikalische Variante.15 Wer die religionsgeschichtlichen und religionsphilosophischen Phänomene und Diskussionen um weibliche Gottheiten oder Gottesprädikate kennt (und exegetisch bewanderte Übersetzerinnen und Übersetzer sollten sie kennen!), kann hier unmöglich Naivität vorspiegeln. Ob von Gott in einer Bibelübersetzung durchgängig oder in einzelnen Büchern so gut wie ausschließlich mit weiblichen Prädikaten gesprochen wird, ist alles andere als eine rein formale Variante – als sei solche Austauschbarkeit theologisch unproblematisch. Es bedeutet mehr als einen Traditionsbruch, wenn beispielsweise das Vaterunser nun beginnt mit den Worten: „Du, Gott, bist uns Vater und Mutter im Himmel …“ Gegenwärtige ökumenische Fassungen dieses Gebetes in der Liturgie werden damit verunmöglicht. Es ist mehr als eine Formalie, wenn „kyrios“ z.B. in Röm 11,34 feministisch übersetzt wird: „Denn wer hat je die Gedanken der Lebendigen erfasst? Wer hat ihr je einen Rat gegeben?“ Es ist mehr als ein Adiaphoron, wenn der Heilige Geist feminisiert und dogmatisch entpersonalisiert wird durch allzu häufige Übersetzung von pneuma mit dem Wort „Geistkraft“ – so dass sich der Missionsbefehl am Ende folgendermaßen anhört: „Taucht sie ein in den Namen Gottes, Vater und Mutter für alle, des Sohnes und der heiligen Geistkraft.“ Kein Wunder, dass Reinhard Slenczka hier nicht nur protestiert, sondern urteilt, eine mit Einsetzungsworten aus dieser Übersetzung gespendete Taufe sei ungültig!16 Es ist auch mehr als fragwürdig, wenn Röm 8,15 mit dem originalen Gebetsanruf „Abba“ wie folgt wiedergegeben wird: „Ihr habt eine Geistkraft empfangen, die euch zu Töchtern und Söhnen Gottes macht. Durch sie können wir zu Gott schreien: ‚Du Ursprung alles Lebens, sei unter Schutz!‘“ Und es ist ganz einfach philologisch falsch, wenn die Worte „... mein Vater ist der Weingärtner“ in Joh 15,1 übersetzt werden mit „Gott ist meine Gärtnerin“.

Ganz abgesehen von alledem ist es nichts anderes als ein sprachliches Unding, wenn versucht wird, um Gott als Mann und Frau übergreifend zur Sprache zu bringen, die grammatikalische Satzstruktur zu zerbrechen: Alt- wie neutestamentlich werden geschlechtsbestimmende Artikel und Personalpronomina bewusst gewechselt bzw. in femininen Gegensatz zum maskulinen Begriff „Gott“ gesetzt. Joh 3,16f etwa klingt dann folgendermaßen: „Denn so hat Gott die Welt geliebt, dass sie ihren Erwählten, ihr einziggeborenes Kind, gegeben hat, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern ewiges Leben haben. Denn Gott hat ihren Erwählten nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird.“ Joh 16,32 – um ein weiteres Beispiel zu nennen – lautet dementsprechend: „Was ihr Gott in meinem Namen bitten werdet, das wird sie euch geben.“ Solche Übersetzungsweise ist nicht nur unschön, sondern in verantwortungsloser Weise verwirrend. Wer als frommer Mensch jene Verse vermehrt auswendig lernen und in seiner Seele bewegen wollte, liefe am Ende Gefahr, den Verstand zu verlieren – aus rein grammatikalischen Gründen oder besser: aus Gründen einer ideologisch versponnenen Übersetzungsprogrammatik.

Entscheidend aber ist der theologische Aspekt. Denn es ist eben theologisch keineswegs gleichgültig, welcher geschlechtlichen Symbolik der Gottesgedanke primär zugeordnet wird. Weibliche Symbole stehen – wie die Tiefenpsychologie bestätigt – für Zyklik und von daher auch für Regression, männliche dagegen vergleichsweise eher für Fortschreiten, für Progression. Eine krasse Alternative bilden sie freilich nicht; auch in soziologischer Hinsicht ändern sich in unserer modernen Gesellschaft teilweise die überkommenen Gewichtungen. Schon der Umstand, dass Gott den Menschen zu seinem Ebenbild in Gestalt von Mann und Frau geschaffen hat (Gen 1,26f), sollte vor radikal einseitigen Sexualisierungen der Transzendenz-Symbolik bewahren. Feministische Theologie steht mit ihrem Kampf fürs „Feminine“ offenkundig in dieser Gefahr, weshalb Hans-Jürgen Fraas mit Recht warnt: „Wollte man die Weiblichkeit Gottes gegen seine Männlichkeit ausspielen (etwa in Umbenennungen wie ‚Gott-Mutter, Jesa Christa und die Geistin’ ...), so würde dieser Vorgang religionsgeschichtlich wie religionspsychologisch einen Rückfall an die Mutterbindung, die undifferenzierte Einheit mit der ‚Mutter Natur’ darstellen und damit auch Jungs Individuationstendenz widersprechen. Allerdings liegt in dieser Regression offensichtlich ein verbreitetes psychisches Bedürfnis ...“17

Diesem Bedürfnis kommt unter anderem die moderne Esoterik entgegen: In ihr gibt es etliche geistige Mütter und Prophetinnen, das zyklische Seelenwanderungsmodell und einen regressiv gestimmten Monismus als vorherrschendes Paradigma.18 Dass die feministische Theologie deutliche Affinitäten zur esoterischen Spiritualität aufweist und zum Teil auf deren Erfolgswelle segelt, ist unschwer erkennbar. Ob aber christliche Theologie und Kirche gut daran tun, dem genannten regressiven „Bedürfnis“ nachzugeben, muss bezweifelt werden. Hat doch der christliche Gottesbegriff ungeachtet manch weiblicher Züge, wie sie im Begriff der göttlichen Liebe und Barmherzigkeit gewiss mitschwingen, strukturell eine unaufgebbare Tendenz zur progressiven Nach-Vorne-Ausrichtung!19 So verlangt das Progressive der Reich-Gottes-Hoffnung nicht zufällig nach einer eher „männlichen“ Symbolik, ohne dass diese zu eng im sexuellen bzw. patriarchalischen Sinn missverstanden werden darf. Feministische Theologie hat – wie schon gesagt – in dieser Hinsicht solchen Missverständnissen mit Recht entgegengearbeitet und manchen soziokulturellen Missbrauch verdienstvoll benannt. Ihre Kritik am biblischen „Vatergott“ trägt aber ideologische Züge und bedarf ihrerseits theologischer Gegenfrage und Kritik, weil es ansatzweise um Grundelemente christlicher Gotteslehre geht.

Angebracht ist zudem der Hinweis, dass eine forcierte „Mutter“-Anrede Gottes die religionskritische Projektionsthese begünstigt: Im Himmel findet sich dann eben genau das wieder, was der Mensch in seiner geschlechtlichen Doppelung natürlicherweise darstellt.20 Das Alte Testament kann zwar selten einmal auch mütterliche Züge Gottes benennen, aber es wendet sich entschieden und oft genug gegen entsprechende zweigeschlechtliche oder weibliche Ausprägungen des Göttlichen. Denn damit würde ja einer Naturreligiosität oder natürlichen Theologie Raum gegeben, der die prophetische Offenbarungsrede von Gott keineswegs entspricht. Insbesondere sollte abwegigen Vorstellungen in Richtung einer natürlichen Verwandtschaft zwischen Gott und Mensch kein Vorschub geleistet werden.21

2. Solus Christus – oder auch spirituelle Gotteskindschaft?

Wenn das Apostolische Glaubensbekenntnis von dem „eingeborenen Sohn“ spricht, erblickt es im „Vater“ keineswegs einseitig den zeugend „Männlichen“, sondern weist ihm in aller symbolischen Freiheit auch die weibliche Eigenschaft des Gebärens zu. Dieser Umstand allein belegt bereits deutlich, dass die Rede von Gott dem Vater mitnichten in geschlechtlich verengendem Sinn gemeint ist.22 Dementsprechend darf sie auch nicht kurzschlüssig von irgendwelchen individuellen Vater-Beispielen her gedeutet werden23; mit Viktor E. Frankl gesprochen: „In Wirklichkeit ist nicht Gott eine Vater-Imago, sondern der Vater eine Imago Gottes.“24 Christlicher Glaube erkennt Gott als den „Vater“, der die Welt nicht mütterlich geboren25, sondern als echtes Gegenüber, als wirklich Anderes geschaffen hat, um sie in mütterlicher Weisheit und Hingabe auf ihrem Entfremdungsweg zu begleiten. In diesem „Vater“ ist wie in Christus (Gal 3,28) „weder Mann noch Frau“: „Gott ist Geist“ (Joh 4,23f). Für „Geist“ aber steht im griechischen Original der Neutrum-Begriff pneuma. So wenig man aus dem deutschen Begriff des Geistes dessen Männlichkeit ableiten wird, so absurd ist der Versuch, ihm als solchem irgendein Geschlecht zuordnen zu wollen. Deshalb darf man auch nicht viel darauf geben, dass das hebräische Wort für „Geist“ weiblich ist. Aus diesem alttestamentlichen Befund etwa die „Weiblichkeit des Heiligen Geistes“26 ableiten zu wollen, zeugt wiederum von ideologischer Herangehensweise an die Gottesfrage, die dafür denn doch zu ernst genommen werden sollte.

Was den Sohn angeht, so ist dem christlichen Glauben der Tatbestand vorgegeben, dass es Gott gefallen hat, in männlicher Gestalt ein für allemal Mensch geworden zu sein. Auf symbolischer Ebene korrespondiert dem bekanntlich die Weiblichkeit der Kirche als seiner eschatologischen Braut – wofür ja alle feministischen Theologinnen dankbar genug sein sollten, statt Jesus von Nazareth womöglich zu einer „Jesa Christa“ umzudichten oder ähnlichen Unfug mit der Zentral­ gestalt kirchlichen Glaubens zu treiben. Gerade aus protestantischer Perspektive muss klar sein, dass das Wort Gottes zuallererst, also noch bevor es in der Gestalt der Heiligen Schrift begegnet, als der Gottmensch Jesus Christus selbst zu bestimmen ist. Er ist das eine Wort Gottes, die lebendige Anrede des Schöpfers an seine Geschöpfe. Auf deren Seite hat sich der Logos, der letzte Sinn aller Dinge, mit allen Konsequenzen und für immer gestellt. Sein geschichtliches Kommen und Durchbrechen der Todesmacht ist von unerhörter progressiver Dynamik, der sein Erscheinen in weiblicher Gestalt symbolisch und tiefenpsychologisch kaum entsprochen hätte. Insofern ist es ein Unglück, dass gerade auch der Johannesprolog in „gerechter Sprache“ in Auszügen feminisiert wurde durch die Fehl-Übersetzung von „Logos“ durch „Weisheit“.27 Das vierte Evangelium beginnt demnach mit den Worten: „Am Anfang war die Weisheit ...“ Vers 14 lautet dann: „Und die Weisheit wurde Materie“. Die Übersetzer wissen, dass „damit ein Element aus der Vorgeschichte des Konzeptes einer personalen Größe ‚Wort‘“ verwendet wird28, aber sie gehen überhaupt nicht näher auf die Problematik ein, die sich mit der diffizilen Begriffsgeschichte verbindet. Aus einer theologischen Aussage wird so leider eine eher theosophische. Die Übersetzung ist jedenfalls philologisch inakzeptabel; das griechische Wort für „Weisheit“ (sophia) steht eben nicht im Johannesprolog.

Dass die im Urtext anzutreffende Bevorzugung des Maskulinums bei der Rede von Gott und seinem Sohn mitnichten für einen patriarchalischen Stil steht, geht im Grunde schon aus der zitierten Aussage von Gal 3,28 eindeutig hervor. Darum besteht kein Anlass, die progressive Symbolik im Begriff des Sohnes gewaltsam zu neutralisieren, indem das Wort „Sohn“ stets mit „Kind“ wiedergegeben wird. Dieser Versuch der „Bibel in gerechter Sprache“ aber birgt in sich die häretische Tendenz, die Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit der Sohnschaft Jesu Christi im Vergleich mit der Adoptions-Kindschaft der Gläubigen zu nivellieren. Im Hintergrund steht ein liberal-theologisches und befreiungstheologisches Programm, das dem neutestamentlichen Textbefund ebenso wenig gerecht wird wie der altkirchlichen Bekenntnisformulierung. Der Kolosserhymnus klingt dann in Auszügen wie folgt: „Das Kind göttlicher Liebe ist Abbild der unsichtbaren Gottheit ... Alles ist durch es und auf es hin geschaffen. Und es ist vor allem dagewesen, und das All hat in ihm Bestand. Und es ist das Haupt der ganzen himmlischen Versammlung. Das Kind göttlicher Liebe ist Anfang, erstgeboren aus den Toten ... Denn in ihm hat es der ganzen Fülle Gottes gefallen, Wohnung zu nehmen und durch es das All zu versöhnen mit Gott ...“ Die geschlechtslose „Kind“-Formulierung wirkt farblos und sprachlich unbeholfen gegenüber der ja nicht nur symbolischen, sondern auch an der realen Erscheinung des männlichen Menschen Jesus orientierten Sohnesformulierung in dem frühen Hymnus.

Auch an dem „doppelt“ männlichen Begriff „Menschensohn“ stößt sich die neue Übersetzung natürlich: Er wird regelmäßig ersetzt durch „der Mensch“ bzw. „der kommende“ oder „der himmlische Mensch“ – oder aber durch ein großgeschriebenes Personalpronomen. Damit wird die hochdifferenzierte Forschungslage zu dem doch wohl mystagogisch zu verstehenden Begriff29 teils aufgegriffen, teils verdunkelt. Indirekt wird eine christologische Nivellierung versucht. Dem korrespondiert die (zu) häufige Wiedergabe des Christus-Begriffs durch den Funktionstitel „Messias“: Sie entpersonalisiert intentional das Christus-Verhältnis und dient insofern der ideologischen Christologie der feministischen und der Befreiungstheologie. Diese gibt sich im Anhang zu erkennen, wo behauptet wird: Dass Jesus Gott sei, könne trotz Joh 20,28 „keineswegs als neutestamentliche Lehre aufgefasst werden“30.

Nach reformatorischer Auffassung stellt Jesus Christus als Gegenstand der mündlichen Verkündigung die zweite, von dem im Fleisch erschienenen Logos abgeleitete Gestalt des Wortes Gottes dar. Unter dem Aspekt des Gegenwartsbezugs hat unter heutigen gesellschaftlichen Bedingungen eine doppelte Anrede an die Hörerschaft weiblichen und männlichen Geschlechts ihren sinnvollen und angemessenen Ort. Und das bedeutet viel, wenn man den Tatbestand berücksichtigt, dass Martin Luther den Vorrang der mündlichen Verkündigung vor der schriftlichen Fixierung im Bibeltext betont hat.31 Es kann aber nicht bedeuten, von daher legitim massive textliche Einträge und Abänderungen beim Übersetzen vorzunehmen.

Erst als die dritte, wiederum hiervon abgeleitete Gestalt des Wortes Gottes hat theologisch die Schrift gewordene Verkündigung als Bibelbuch zu gelten. Demnach ist die Heilige Schrift durchaus Wort Gottes, aber eben in einem abgeleiteten Sinn. Insofern kann der Reformator sagen, die Heilige Schrift fasse Gottes Wort.32 Dieses schriftliche Buch nun in unsere Zeit zu übersetzen, ist ein Vorgang, der unbedingt seine eigenen grundlegenden geschichtlichen Voraussetzungen beachten und respektieren muss: das Kommen des Sohnes zu Beginn unserer Zeitrechnung, seine ureigene Verkündigung, die nun einmal hauptsächlich in maskuliner Metaphorik von Gott gesprochen hat, und die Verkündigung der Urkirche, die den Vater und den Sohn im Geist bezeugt und überliefert hat.

Schon diesen Voraussetzungen wird die „Bibel in gerechter Sprache“ nicht gerecht. Ihre permanenten, dadurch aufdringlich und ideologisch wirkenden Erweiterungen der maskulinen Gottesbezeichnungen missachten die geschichtliche Gestalt nicht nur des biblischen Urtextes, sondern auch der Erscheinungsform, in der Gott sich nach christlichem Glauben zu erkennen gegeben hat. Diese Kritik fußt mitnichten auf einem fundamentalistischen oder biblizistischen Bibelverständnis33, sondern auf einer protestantisch selbstverständlichen Hochachtung vor der Schrift. Es sind ja gerade die reformatorischen Prinzipien des Bibelverständnisses, die in der Übersetzung namens „Bibel in gerechter Sprache“ zumindest teil- und ansatzweise mit Füßen getreten werden. Bei Luther steht das Prinzip des solus Christus im Streitfall noch über dem schriftlichen Wort.34 Die Heilserkenntnis in Christus war ihm wichtiger als ein formales Schriftprinzip, so dass er sagen konnte: „Wenn aber die Gegner die Schrift treiben gegen Christus, so treiben wir Christus gegen die Schrift ...“35 Denn Christus ist ja doch der Herr der Schrift!36 Sollte nicht demgemäß Christus auch der Herr jeder Übersetzung sein? Der Reformator konnte zugespitzt sagen: „Nimm Christus aus der Schrift: was wirst du in ihr dann noch finden?“37 Freilich kann eine Übertragung, die noch dazu eine Übersetzung sein will, nicht Christus aus der Schrift hinausstoßen. Aber sie kann den Eindruck von Christus doch in einer Weise ein- und umfärben, dass das Jesus- bzw. Christus-Bild des Neuen Testaments verzerrt und damit beschädigt wird. Und das geschieht denn auch in der „Bibel in gerechter Sprache“: Hier wird in der Tendenz oft so „übersetzt“, dass Jesus als spiritueller Mensch zwar, aber doch nicht als der eine, Mensch gewordene Gottessohn erscheint, als den ihn die neutestamentlichen Schriften und in deren Gefolge die großen Dogmen der Kirchengeschichte bezeugen.38

3. Sola fide – oder auch spirituelles Grundvertrauen?

Das solus Christus wird reformatorischerseits genauer beschrieben durch die beiden Prinzipien sola fide und sola gratia. Auch diese Deutungsrichtlinien verlieren in der „Bibel in gerechter Sprache“ an Durchschlagskraft. Weniger auffällig ist das zunächst beim Prinzip „allein durch Glauben“, weil ja hier die jeweiligen Begriffe konkret übersetzt werden müssen und auch tatsächlich an manchen Stellen durch das Wort „Glauben“ wiedergegeben werden. Oft aber – wie ich meine: zu oft – wird hier übersetzt mit „vertrauen“. Das ist gewiss nicht einfach verkehrt; zweifelsohne schwingt in der biblischen Begrifflichkeit bei dem Wort „glauben“ das Element des Vertrauens meist mit. Aber dass es sich im biblischen Kontext stets um ein starkes Beziehungswort handelt, bei dem der Sinn der damit ausgedrückten Haltung in der Relation, nämlich primär im göttlichen Relationsobjekt und weniger im Subjekt des frommen Menschen liegt, das kommt im Begriff des „Glaubens (an)“ intensiver zum Ausdruck als in dem des „Vertrauens (auf)“. Es handelt sich insofern um eine kaum merkliche Akzentverschiebung, die aber doch ihre Wirkung hat, zumal bei häufiger Wiederholung. Wenn im biblischen Sprach­ gebrauch das Wort „glauben“ ohne ausdrückliches Relationsobjekt verwendet wird, ist dieses doch vom Sinn her – etwa in der Anwesenheit Jesu – stets mitgemeint. „Vertrauen“ indessen kann eher für sich stehen und eine bloße Haltung auch relativ unabhängig vom verschwommen bleibenden Relationsobjekt zum Ausdruck bringen. „Der Gerechte wird aus Glauben leben“ (Gal 3,11) klingt dann so: „Gerecht ist, wer Vertrauen lebt.“ Aus einer dem Glauben gegebenen Verheißung wird hier – unter Weglassung des Wörtchens „ek“ (aus) – eine fromme Lebensmaxime. Derselbe programmatisch ausformulierte Satz findet sich in der neuen Übersetzung von Röm 1,17, wo es zuvor in Vers 16 mit befreiungstheologischem Akzent heißt, in der Freudenbotschaft wirke Gottes Kraft „zur Befreiung aller, die auf sie vertrauen“ – statt: zur Rettung für jeden Glaubenden. Gilt laut Röm 3,22 Gottes Gerechtigkeit allen Glaubenden, so übersetzt die „Bibel in gerechter Sprache“, sie sei da „für alle, die vertrauen“. Hier wird „vertrauen“ zum bloßen existentiellen Akt, zum spirituellen Grundvollzug noch jenseits aller Relationsgrößen und religiösen Festlegungen. Verkündet wird dann „das Wort des Vertrauens“ (10,8) – statt das „Wort vom Glauben“. Gemeint sei – so erläutert diese Übertragung den Begriff „vertrauen“ – „eine Lebenspraxis, die dem kommenden Gottesreich schon in der Gegenwart entspricht“39. Damit wird eine ganzheitliche, zuerst in Herz und Verstand angesiedelte Haltung zu einer Praxis, ja einer generellen Lebenspraxis umdefiniert, die noch dazu als solche dem kommenden Gottesreich entsprechen solle. Durch diese Akzentverschiebung kommt ein gesetzlicher Zug ins Glaubensverständnis hinein. Und dass das nicht ganz unbeabsichtigt ist, wird deutlich, wenn man nach der Geltung des Prinzips „sola gratia“ in dieser modernen Übertragung fragt.

4. Sola gratia – oder auch menschliches Mitwirken am Heil?

Auch das reformatorische Prinzip sola gratia verliert in der „Bibel in gerechter Sprache“ an Durchschlagskraft – und zwar zunächst dadurch, dass zentrale paulinische Texte, die für die reformatorische Position von besonderem Gewicht waren und sind, sprachlich holprig und unverdaulich formuliert werden. Als Beispiel sei hier ein bekannter Text aus Röm 3 angeführt, der Rechtfertigung elementar zur Sprache bringt. In der Lutherübersetzung lautet er: Sie „werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist. Den hat Gott für den Glauben hingestellt als Sühne in seinem Blut ...“ In der neuen Übertragung klingt Paulus wie folgt: „Gerechtigkeit wird ihnen als Geschenk zugesprochen kraft der Zuwendung Gottes als Freikauf, der im Messias Jesus vollzogen wird. Ihn hat Gott als ein durch Vertrauen wirksam und wirklich werdendes Mittel der Gegenwart Gottes, als Ort, an dem Unrecht gesühnt wird, in seinem Blut öffentlich hingestellt ...“ Rein sprachlich ist dieser konstruierte Satz ein Ungetüm, mag er philologisch hier noch so korrekt übersetzt sein!

Gravierender aber ist der Umstand, dass der Rechtfertigungsgedanke, das zentrale Zeugnis von der Gerechtigkeit Gottes als reinem Gnadengeschenk in der „Bibel in gerechter Sprache“ theologisch verwässert wird. Karin Bornkamm weist in einem Aufsatz nach, dass der Grund dafür in der programmatischen Berücksichtigung des jüdisch-christlichen Dialogs liegt.40 Die Antithetik der Bergpredigt-Thesen wird sprachlich in der Folge ebenso klein geredet wie die paulinische Gesetzeskritik. Ob das bei angemessenem Dialog-Verständnis so sein müsste, ist zu bezweifeln, da dann jede beteiligte Religion in ihrer spirituellen und theologischen Authentizität geachtet und ernst genommen würde.41 Hier aber wird der jüdisch-christliche Dialog zum Vorwand genommen, die radikale reformatorische Rechtfertigungslehre einschließlich ihres Gesetzesverständnisses auf ein befreiungstheologisches Maß zurechtzustutzen. Röm 3,28 lautet in der „Bibel in gerechter Sprache“ folgendermaßen: „Nach reiflicher Überlegung kommen wir zu dem Schluss, dass Menschen aufgrund von Vertrauen gerecht gesprochen werden – ohne dass schon alles geschafft wurde, was die Tora fordert.“ Karin Bornkamm kommentiert diese Übersetzung: „Die erfolgreiche Bemühung um die Erfüllung der Tora gehört dann eben doch auch dazu, um von Gott Gerechtigkeit zuerkannt zu bekommen. Eine ganze Menge ist eben doch schon geschafft.“42 Die emeritierte Theologieprofessorin verweist weiterhin auf Röm 9,32: Die Israeliten haben demnach die Gerechtigkeit vor Gott verfehlt, „weil sie so handelten, als ob aufgrund von Anstrengungen allein ans Ziel zu kommen sei und nicht von Vertrauen“. Hierzu erklärt Bornkamm: „Das aber heißt: ohne Anstrengungen geht es natürlich auch nicht. Dasselbe Bild ergibt sich bei Römer 11,6.“ Was bei Luther dort übersetzt wird mit „nicht aus Verdienst der Werke“, lautet nun: „nicht auf Grund von Anstrengungen allein“. Mit Recht bemerkt Bornkamm dazu: „Das sind schwerwiegende Fragen, sie betreffen das Herzstück des christlichen Glaubens. Hier muss man von einer groben, theologisch irreführenden Abänderung des Textes sprechen, die weder als Übertragung noch gar als Übersetzung tolerabel ist. Hier wird die paulinische Rechtfertigungslehre im Kern verfälscht.“ Mit Blick auf den jüdisch-christlichen Dialog, der solche Verfälschung legitimieren soll, erläutert die „Bibel in gerechter Sprache“ im Anhang: „Jetzt durch Christi Tod und Auferstehung ist der Weg der Gerechtigkeit nach der Tora neu geöffnet“43. Der Boden reformatorischer Theologie ist hier allemal verlassen.44 Mit Hans-Martin Barth formuliert: „Hier wird zu Grundeinsichten der Reformation programmatisch Distanz gesucht.“45 Der Verdacht drängt sich auf, dass diese angebliche Übersetzung den allzu menschlichen Versuch bedeutet, sich das Wort Gottes als in Anspruch nehmende Gnadenbotschaft durch sprachliche Umverwandlung nach Möglichkeit vom Leib zu halten.46 Vor allem deshalb verdient sie die abgewandelte Bezeichnung „Bibel in selbstgerechter Sprache“!

5. Resümee: Um die Klarheit der Schrift streiten!

Nach reformatorischer Überzeugung besitzt die Heilige Schrift eine ihr eigene Klarheit. Luther zufolge verhält es sich so, „dass die Schrift durch sich selbst ganz gewiss, ganz leicht verständlich, ganz offenbar und ihr eigner Interpret ist, indem sie alles prüft, beurteilt und erleuchtet“47. Wie aber soll die Schrift das tun können, wenn sie sozusagen im Ansatz, in der Form der Übersetzung immer wieder – teils programmatisch, teils vielleicht aus mangeln­ dem Sprachvermögen – so sehr daneben greift, dass ihr Kritiker bescheinigen, „nicht seriös, nicht brauchbar und nicht empfehlenswert“ (Axel Freiherr von Campenhausen im „Rheinischen Merkur“)48, „bekenntniswidrig“ (Altbischof Ulrich Wilckens), ja „aberwitzig“ (Heike Schmoll in der F.A.Z.)49 zu sein? So wie sich protestantisches Schriftverständnis gegen die katholische Addition der „Tradition“ auf der Grundlagenebene wendet, muss es sich auch wehren gegen eine ideologische, nämlich feministisch intendierte Addition von textlich nicht gerechtfertigten Hinzufügungen und massiven Umdeutungen über sämtliche Schriften hinweg. Der Neutestamentler Jens Schröter unterstreicht, die „Bibel in gerechter Sprache“ stelle einen Rückfall hinter die reformatorische Einsicht in die Unverfügbarkeit der Schrift und hinter die historisch-kritische Bibelwissenschaft dar.50 Der Systematiker Ingolf U. Dalferth resümiert: „Ihr Umgang mit den Texten hat alle Züge einer schwärmerischen Ideologie.“ Flapsiger, aber nicht weniger treffend formuliert der Fernsehmoderator und Bestsellerautor Peter Hahne, es handele sich um eine „sektiererische Sonderbibel aus dem Geist eines fundamentalistischen Feminismus“51.

Im Evangelischen Erwachsenenkatechismus heißt es einmal, die Bibel sei „ein Buch der Gemeinschaft“52. Dass dem neuen, am Reformationstag 2001 begonnenen und genau fünf Jahre später öffentlich präsentierten Projekt der „Bibel in gerechter Sprache“ dermaßen viel Kritik von verschiedensten Seiten zuteil geworden ist, beweist zur Genüge, dass es mitnichten gemeinschaftsdienlich ist. Die protestantische Konsequenz, es kirchenamtlich nicht zur liturgischen Verwendung zuzulassen, ist nur zu verständlich. Die Urheber der „Bibel in gerechter Sprache“ hätten es gern, dass ihre Übertragung die Autorität der kirchlichen norma normans non normata prägen und so theologischen Feminismus ins Zentrum des protestantischen Heiligtums eintragen darf. Sich diesem Ansinnen mit theologischen Gründen entschieden und nachhaltig zu widersetzen, ist dringliche Aufgabe jeder verantwortlichen Instanz, die sich reformatorischem Bibelverständnis verpflichtet weiß. Es geht hier um eine schwer wiegende Herausforderung, ja um einen geistigen Kampf auf dem Gebiet der Deutungshoheit für die zentralsten Texte der Christenheit. Dieser Kampf wird längst auch in anderen Ländern geführt, in denen es analoge Übersetzungsversuche gibt. Wie er auf die Dauer ausgehen wird, dürfte nicht zuletzt davon abhängen, ob er als Kampf begriffen und mit dem angemessenen Ernst geführt wird.

Abschließend gilt es nochmals zu würdigen, dass die „Bibel in gerechter Sprache“ auch mancherlei Zustimmung erfahren hat. Sie sei eine sehr spannende und gelungene Sache, urteilen vor allem Frauen, zum Beispiel Karin Mack und Petra Schnitzler.53 „Mit der neuen Übersetzung werden alte Bilder aufgebrochen und gezeigt, dass Gott auch mütterliche Seiten hat“, lobt Renate Jost, Neuendettelsauer Professorin für Feministische Theologie.54 Ihr Kollege an der Augustana-Hochschule, der Alttestamentler Helmut Utzschneider, meint jovial: „Wer lesen will, wie engagierte, innovative und gelehrte Theologinnen und Theologen die Bibel heute verstehen und verstanden wissen wollen, der wird mit Gewinn zur ‚Bibel in gerechter Sprache’ greifen.“55 In der Tat kann man ungeachtet aller vorgebrachten Kritik auch interessante Gedanken und Anregungen in diesem Übersetzungsprojekt finden.

Manche Formulierungen stimmen im guten Sinne nachdenklich, irritieren in beabsichtigter Verfremdung und eröffnen neue Zugänge zu biblischen Texten. Insofern ist es fraglich, ob eine pauschale Verurteilung oder Verwerfung diesem Projekt und seinen spirituellen Anliegen gerecht wird. Gleichwohl meine ich: Die längst von berufenen Anderen, aber auch von mir genannten Bedenken sind von solchem Gewicht, dass erwägenswerte Vorteile die Nachteile nicht aufwiegen. Die Warnungen vor gottesdienstlichem Gebrauch bleiben berechtigt, und auch der persönliche oder etwa religionspädagogische Gebrauch sollte nur im Vergleich mit anderen Übersetzungen und keinesfalls fernab von hermeneutischen Grundüberlegungen geschehen. Zu sehr dominieren bestimmte theologisch-ideologische Weichenstellungen das Projekt; und ich meine nach wie vor, dass das bereits in der selbstgerechten Titelformulierung ungewollt zum Ausdruck kommt. Moderne Übersetzungen gibt es auf dem Markt mehr als genug. Es muss ja nicht unbedingt diese eine sein – es sei denn, man teilt die feministische Grundintention, die freilich das Hauptproblem dieser selbsternannten „Übersetzung“ darstellt.


Werner Thiede, Regensburg


Anmerkungen

1 Vgl. Freddy Dutz: Wo das Gefühl im Bauch sitzt. Von den Herausforderungen der Bibelübersetzungen, in: Mission EineWelt 18, 3/2007, 10f.

2 Zum Begriff vgl. Werner Thiede: Sektierertum – Unkraut unter dem Weizen? Neukirchen-Vluyn 1999, 17-54.

3 Das räumt auch Frank Crüsemann als Übersetzer der „Bibel in gerechter Sprache“ ein, in: Jenseits der Gemütlichkeit, in: zeitzeichen 5/2007, 39-41, hier 39.

4 BSLK 769, 22-26.

5 Vgl. dazu Ernst Koch: Die Lehre von der Heiligen Schrift in der lutherischen Orthodoxie, in: Lutherische Kirche in der Welt 51/2004, 31-41.

6 Besser solle die „Bibel in gerechter Sprache“ heißen „Bibel in selbstgerechter Sprache“, urteilte bereits am 11.11.2006 das gemäßigt konservative „Forum Lebendige Kirche“ in der hessen-nassauischen Kirche. Inzwischen titelt auch Jürgen Albert: „Ein Flop der Ewigen. Die Bibel in selbstgerechter Sprache“, in: CA 1/2007, 88-90.

7 Insofern ist das Projekt insgesamt durchaus als „Einheit“ zu betrachten, auch wenn das Crüsemann unter Hinweis auf die vielen beteiligten Übersetzer(-innen) bestreitet (a.a.O. 40).

8 Vgl. z.B. Elisabeth Schüssler Fiorenza: Jesus – Miriams Kind, Sophias Prophet. Kritische Anfragen feministischer Christologie, Gütersloh 1997.

9 Für den Gebrauch im Gottesdienst sei die „Bibel in gerechter Sprache“ ungeeignet, so die Bischofskonferenz der VELKD in einer Presse-Erklärung vom 6.3.2007, mit der sie sich von der neuen Bibelübersetzung distanzierte: Diese trage „bewusst moderne Vorstellungen ein. Das widerspricht dem von der Reformation wieder eingeschärften Respekt vor der Heiligen Schrift.“ Ende März folgte die Distanzierung durch den Rat der EKD, der mahnte, eine Übersetzung solle nicht „an die Stelle der Auslegung treten“.

10 Auch Bücher üben bereits Kritik: Vgl. z.B. Michael Kotsch: Moderne Bibel oder modernes Babel? Lage 2007.

11So auch Ingolf U. Dalferth: Der Ewige und die Ewige. Die „Bibel in gerechter Sprache“ – weder richtig noch gerecht, sondern konfus, in: NZZ Online vom 18.11.2006. Die Interpretation werde als Übersetzung ausgegeben, und das sei ein Verstoß gegen das reformatorische Schriftprinzip, urteilt der EKD-Ratsvorsitzende Bischof Wolfgang Huber in einer Erklärung vom 12.2.2007. Dass „das protestantische Schriftprinzip mir piepegal“ ist, verlautbart indessen eine begeisterte Leserin der „Bibel in gerechter Sprache“ auf der Homepage von Pastorin i. R. Hanna Strack (16.2.2007).

12 Vgl. z.B. Irene Dingel (Hg.): Feministische Theologie und Gender-Forschung. Bilanz, Perspektiven, Akzente, Leipzig 2003.

13 Vgl. auch Ursula Sigg-Suter u.a.: „... und ihr werdet mir Söhne und Töchter sein“. Die neue Zürcher Bibel feministisch gelesen, Zürich 2007.

14 Das verkennt Crüsemann, a.a.O. 41. Richtig dagegen Hans-Martin Barth: „Gott ist nicht Mann und Frau, sondern weder Mann noch Frau“ (Brücke zur Heiligen Schrift. Sieben Thesen zur „Bibel in gerechter Sprache“, in: Korrespondenzblatt 3/2007, 35f).

15 Von einem „theologischen Bankrott“ spricht Dalferth (a.a.O.).

16 Vgl. Reinhard Slenczka: Die Anbetung der Weiblichkeit Gottes und das Bilderverbot. Dogmatische Beurteilung der „Bibel in gerechter Sprache“, in: Evangelische Verantwortung März/April 2007, 1-12.

17 Hans-Jürgen Fraas: Die Religiosität des Menschen. Religionspsychologie, Göttingen 1990, 128.

18 Vgl. Werner Thiede: Theologie und Esoterik. Eine gegenseitige Herausforderung, Leipzig 2007.

19 Vgl. Wolfhart Pannenberg: Das Glaubensbekenntnis, ausgelegt und verantwortet vor den Fragen der Gegenwart, Gütersloh 1972, 40.

20 Wolfhart Pannenberg: Systematische Theologie, Bd. 1, Göttingen 1988, 285f.

21 So Eberhard Busch: Credo, Göttingen 2003, 119.

22 Vgl. zu der hier nicht weiter zu vertiefenden Problematik Notger Slenczka: Feministische Theologie. Darstellung und Kritik, in: ThR 58, 4/1993, 396-436; Christine Axt-Picalar: Trinitarische Entzauberung des patriarchalischen Vatergottes, in: ZThK 91, 4/1994, 476-486; J. Christine Janowski: Feministische Theologie – ein Synkretismusphänomen? Versuch einer systematisch-theologischen Klärung, in: V. Drehsen / W. Sparn (Hg.): Im Schmelztiegel der Religionen, Gütersloh 1996, 143-192.

23 Gegen Tilmann Moser: Gottesvergiftung, Frankfurt/M. 1976.

24 Viktor E. Frankl: Der unbewußte Gott, München 31974, 52f.

25 Das unterstreicht Dietrich Korsch: Dogmatik im Grundriß. Eine Einführung in die christliche Deutung menschlichen Lebens mit Gott, Tübingen 2000, 134.

26 Vgl. Elisabeth Moltmann-Wendel (Hg.): Die Weiblichkeit des Heiligen Geistes. Studien zur Feministischen Theologie, Gütersloh 1995. Die Sachfrage erörtert bereits vor Aufkommen der feministischen Theologie, die ja selbst nicht nur Frauenrecht im Blick hat, sondern auch archetypisch-mythische Affekte anrührt, Ernst Benz: Ist der Geist männlich? in: Antaios 7, 1966, 452-475.

27 Vorschläge in dieser Richtung sind aus theosophisch-esoterisch inspirierten Traditionslinien bekannt (vgl. z.B. Günter Schiwy: Der kosmische Christus. Spuren Gottes ins neue Zeitalter, München 1990, 52f, 74).

28 Vgl. Bibel in gerechter Sprache, 2342f. Zur Problematik siehe näherhin Werner Thiede: Der gekreuzigte Sinn. Eine trinitarische Theodizee, Gütersloh 2007, 151ff.

29 Vgl. bes. Volker Hampel: Menschensohn und historischer Jesus. Ein Rätselwort als Schlüssel zum messianischen Selbstverständnis Jesu, Neukirchen-Vluyn 1990.

30 Bibel in gerechter Sprache, 2360.

31 Bernhard Lohse: Luthers Theologie, Göttingen 1995, 207, unter Verweis auf WA 10 I 1, 626, 15-20.

32 Vgl. WA 10 I 2,75, 3-7 (1522).

33 Vgl. meine Fundamentalismus-Kritik in der Studie „Fundamentalistischer Bibelglaube im Licht reformatorischen Schriftverständnisses“, in: H. Hemminger (Hg.): Fundamentalismus in der verweltlichten Kultur, Stuttgart 1991, 131-162; Wiederabdruck in meinem Buch: Sektierertum, a.a.O. 197-234.

34 Das ist auch Sebastian Franck (1499-1542) entgangen, wenn er sich gegen das sola-scriptura-Prinzip wandte mit dem Hinweis auf mancherlei Widersprüche in der Bibel (vgl. Wilhelm Kühlmann: Staat und Kirche in der Literatur religiöser Dissidenten, in: Dieter Fauth / Erich Sattler [Hg.]: Staat und Kirche im werdenden Europa. Nationale Unterschiede und Gemeinsamkeiten, Würzburg 2003, 15-38, hier 16f).

35 Übersetzt nach WA 39 I, 47, 15ff.

36 Vgl. WA 40/1, 458.

37 WA 18, 606, 29.

38 Vgl. Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth, Freiburg i. Br. 2007.

39 A.a.O. 2354.

40 Vgl. Karin Bornkamm: Vermisst: der Menschensohn. Die „Bibel in gerechter Sprache“: theologisch zweifelhaft, sprachlich missglückt, in: zeitzeichen 4/2007, 15-17.

41 Vgl. dazu meinen Aufsatz „Apologetik und Dialog“ in: Sektierertum, a.a.O. 235ff.

42 A.a.O. 17. Nächstes Zitat ebd.

43 A.a.O. 2349.

44 Albert kritisiert: „Die Erfüllung des Gesetzes also wird Norm für die Rechtfertigung“ (a.a.O. 89).

45 H.-M. Barth, a.a.O. 36.

46 Die Berufung auf neuere, aus dem angloamerikanischen Raum kommende Paulus-Exegese darf dabei nicht den Blick dafür verstellen, dass gerade auch exegetische Schulrichtungen als wissenschaftliche keineswegs per se ideologiefrei sind.

47 WA 7, 97, 23f (1520), übersetzt vom Vf.

48 Als Herausgeber im Rheinischen Merkur 51/52 2006, 18. Johan Schloemann kritisierte in der Süddeutschen Zeitung das „gewaltige Ideologieprojekt“ unter der Überschrift „Geht nicht fremd“ (Nr. 296, 13).

49 F.A.Z. vom 9.2.2007. „Es handelt sich um eine ideologische Textmanipulation, deren Folgen theologisch nicht leicht zu nehmen sind“, bemerkt Heike Schmoll mit Blick auch auf entsprechende Vorschläge für den Gottesdienst in der Rheinischen Evangelischen Kirche.

50 Meldung in: epd-Bayern Nr. 27, 29.3.2007, 11. Auch der Wiener Systematiker Ulrich H. J. Körtner urteilt, diese Übersetzung mache mit ihren Kriterien die biblischen Texte „mundtot“ (vgl. Stephan Cezanne: Zwischen „Irrlehre“ und Befreiungstheologie, in: epd-Bayern Nr. 27, 29.3.2007, 20f).

51 Laut idea spektrum 15/2007, 8.

52 Evangelischer Erwachsenenkatechismus, 6., völlig neu bearb. Aufl., hg. im Auftrag der VELKD, Gütersloh 2000, 103.

53 In: Die Zeitung. Verband Evangelischer Religionspädagogen und Katecheten in Bayern, 1/2007, 16.

54 Interview in der Fränkischen Landeszeitung Nr. 4 vom 5.1.2007.

55 Helmut Utzschneider: Neu über Luther nachdenken, in: Sonntagsblatt 18, 6. Mai 2007, 24.