Ulrich H. J. Körtner

Die Bibel beim Wort nehmen

Als Ergänzung und Vertiefung zum Stichwort „Bibel“ in diesem Heft (311-316) dokumentieren wir im Folgenden das Eingangsstatement des Wiener Systematischen Theologen Ulrich H. J. Körtner bei der Veranstaltung „Bibel. Fundament. Fundamentalismus. Vom Verstehen und Missverstehen“. Sie fand am 4.6.2015 auf dem Stuttgarter Kirchentag im Rahmen des Zentrums Bibel statt.

Die Bibel beim Wort nehmen

1. „Einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus“ (1. Kor 3,11). Fundament des christlichen Glaubens ist allein Jesus Christus. Die Bibel als Heilige Schrift ist Quelle und Richtschnur des Glaubens nur, soweit und sofern sie das Evangelium von Jesus Christus bezeugt.

2. Das Christentum ist keine Buchreligion wie der Islam, der glaubt, mit dem Koran ein direkt von Gott seinem Propheten Mohammed Wort für Wort diktiertes Buch zu besitzen, das himmlischen Ursprungs ist. Im Islam nimmt der geoffenbarte Text des Koran jene Stelle ein, die im Christentum Jesus Christus als Gottes Wort in Person einnimmt.

3. Im Unterschied zum Koran, aber auch zum Tanach, der Hebräischen Bibel des Judentums, ist die christliche Bibel in ihrem Umfang und Aufbau nicht genau festgelegt. Es gibt bis heute unterschiedliche Versionen eines christlichen Kanons, bestehend aus Altem und Neuem Testament. Die in der Geschichte des Christentums maßgebliche Version des Alten Testaments, die griechische Septuaginta, unterscheidet sich in Aufbau und Umfang von der Hebräischen Bibel. Auch der heutige Kanon des Neuen Testaments ist das Resultat einer längeren geschichtlichen Entwicklung, die bis ins vierte Jahrhundert reicht.

4. Anders als die römisch-katholische Kirche und die reformierten Kirchen hat das Luthertum seinen biblischen Kanon niemals genau fixiert. „,Die Schrift‘ sind für die lutherische Tradition irgendwie die Lutherbibel bzw. die Ausgaben des hebräischen Alten und des griechischen Neuen Testaments, ohne dass dieses ‚irgendwie‘ näher definiert ist (was später lutherische Dogmatiker durchaus versuchen).“1

5. Die Reformation beruft sich für ihre Lehren allein auf „die Schrift“ und lehnt die Bindung ihrer Auslegung an ein kirchliches Lehramt und an die kirchliche Tradition ab. „Sola scriptura“ lautet die Parole. Streng genommen ist „die Schrift“, auf welche sich die reformatorischen Kirchen berufen, jedoch nicht der Ausgangspunkt, sondern das Produkt der Reformation, nämlich ein aus hebräischem Umfang und griechischer Struktur gemischter, jedoch in einer dritten Sprache – sei es Deutsch, Englisch oder sonst eine lebende Sprache – dargebotener Kanon. Man kann diesen reformatorischen Kanon als Hybrid bezeichnen.

6. Das Wechselverhältnis von Kanon, Übersetzung und konfessioneller Identität muss evangelischerseits als Anfrage an das reformatorische Schriftprinzip ernst genommen werden. Zudem ist bei der Vielzahl von deutschen, englischen oder sonstigen fremdsprachigen Übersetzungen nochmals zwischen Privatübersetzungen, Leseausgaben und wissenschaftlichen Übersetzungen sowie kirchlich approbierten, d. h. für den gottesdienstlichen Gebrauch zugelassenen, Übersetzungen zu unterscheiden. Vor dem Akt des Lesens steht die Auswahl der Übersetzung, in welcher man die Bibel lesen möchte. Mindestens insofern gilt, dass nicht nur der Sinn eines einzelnen Textes, sondern auch die Bibel als Makrotext im Akt der Rezeption je und je neu entsteht.

7. Weder gibt es die eine Bibel noch einen biblischen Urtext. Alle historisch-kritischen Ausgaben der Hebräischen Bibel, der Septuaginta und des Neuen Testaments fußen auf komplexen Überlieferungsvorgängen und komplizierten textkritischen Entscheidungen, die nicht unumstößlich sind. Insbesondere der griechische Text des Neuen Testaments, wie er den heutigen Bibelübersetzungen zugrunde liegt, ist eine Rekonstruktion nach dem Stand der heutigen Textwissenschaften.

8. Die Annahme des christlichen Fundamentalismus, aber auch mancher Christen, die sich selbst als bibeltreu bezeichnen, wir hätten in der Bibel die eine von Gott gegebene, vom Heiligen Geist diktierte und irrtumslose Quelle und Norm christlichen Glaubens und christlicher Lehre, beruht nach allem, was bereits ausgeführt wurde, auf historischer Unkenntnis.

9. Es geht nicht an, lediglich Ergebnisse der modernen Textkritik zu akzeptieren, jedoch die übrigen Methoden historischer Kritik abzulehnen. Die Textkritik ist unlöslich mit den übrigen Methoden der historisch-kritischen Exegese verwoben.

10. Dass es im Sinne von 2. Tim 3,16 von Gott eingegebene Schriften gibt, heißt nicht, dass diese in allen Partien buchstäblich genommen werden müssen. Wer so die Bibel liest, verkennt den literarischen Charakter ihrer Texte, die oftmals poetischer, mythischer und metaphorischer Natur sind. Die Texte der Bibel sind nicht alle wörtlich, wohl aber beim Wort zu nehmen, nämlich dazu geschrieben, „damit wir durch Geduld und den Trost der Schrift Hoffnung haben“ (Röm 15,4). Die fundamentalistische Chicago-Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift von 1978, die behauptet, alles, was die Bibel „über Gottes Handeln in der Schöpfung, über die Geschehnisse der Weltgeschichte und über ihre eigene, von Gott gewirkte literarische Herkunft aussagt“, sei buchstäblich wahr, ist haltlos und auch aus theologischen Gründen zurückzuweisen.

11. Schriftgemäßheit liegt nicht schon dann vor, wenn für eine einzelne theologische Aussage eine oder mehrere Bibelstellen als Beleg zitiert werden. Das liefe auf einen unreflektierten Biblizismus oder Fundamentalismus hinaus. Das Kriterium der Schriftgemäßheit fordert vielmehr, das Gesamtzeugnis der biblischen Schriften zu hören und zu bedenken. Und zwar ist das biblische Gesamtzeugnis daraufhin je und je neu zu befragen, inwieweit es das Evangelium in seiner Unterschiedenheit und Zuordnung zum Gesetz zur Sprache bringt. Das Kriterium der Schriftgemäßheit setzt darum immer einen hermeneutisch reflektierten Umgang mit der Bibel voraus. Ein solcher Umgang schließt nicht nur eine historisch-kritische Interpretation biblischer Texte ein, sondern auch die Möglichkeit der theologischen Sachkritik, die aber aus dem Gesamtzeugnis der Bibel selbst zu begründen ist. So ist auch der biblische Kanon nicht ohne Kanonkritik als theologische Norm zu akzeptieren.

11. Das Evangelium von Jesus Christus begegnet uns vom Beginn des Christentums an in einer Vielzahl historischer Gestalten und Interpretationen. Auch die Texte der Bibel sind solche Interpretationen, die ihrerseits immer wieder neu interpretiert werden müssen und sich gegenseitig auslegen, bisweilen auch ins Wort fallen oder widersprechen. Schon die Rekonstruktion der mutmaßlich ältesten Gestalt der biblischen Texte ist eine Interpretation und ebenso jede Lektüre, ja schon jede bloße Rezitation. Erst recht gilt dies für jede Übersetzung in eine andere Sprache. So hat sich letztlich der von der Bibel bezeugte Gott selbst dem Konflikt der Interpretationen ausgesetzt.

12. Am Kreuz Christi und in der Schriftwerdung des Wortes erleidet Gott den „Tod des Autors“ (Roland Barthes). In jeder Bibellektüre wird die tote Sinnspur des Textes zu neuem Leben erweckt – wann und wo es Gott gefällt. So können wir vom Wirken des Heiligen Geistes im Akt des Lesens sprechen, durch den ebenso wie der Text auch seine Leserinnen und Leser zu neuem Leben erweckt und befreit werden. Jenes Verstehen des Textes, das zum Glauben führt, den Glauben stärkt, tröstet und aufrichtet, Hoffnung und Freude weckt, aber auch zur Umkehr befreit, ist nicht die Leistung des Lesers, sondern ein sich zwischen Text und Leser abspielendes Geschehen.

13. Schriftauslegung geschieht nicht nur unvermeidlich plural, sondern sie ist auch niemals voraussetzungslos, hat sie doch ihren Ort in der Kirche bzw. den einzelnen Konfessionen als Auslegungsgemeinschaften. Nach reformatorischer Tradition ist die Kirche, konkret die gottesdienstliche Gemeinde, freilich nicht das Subjekt, sondern das Objekt der Auslegung. Sie ist eine Wort-Schöpfung, „creatura Euangelii“ (Luther, WA 2,430, 6-8), d. h. ein Geschöpf des Evangeliums bzw. eine Schöpfung des Wortes Gottes. Ähnlich wie der Christenmensch nach Luther täglich aus der Taufe neu herauskriecht (Kleiner Katechismus), so wird auch die Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden stets aufs Neue aus dem Wort geboren. Eben in diesem Sinne ist sie ein Geschöpf des Evangeliums und nicht sein Schöpfer.2


Ulrich H. J. Körtner


Anmerkungen

  1. Dieter Lührmann, Auslegung des Neuen Testaments, Zürich 1984, 12.
  2. Literaturhinweis: Ulrich H. J. Körtner, Arbeit am Kanon. Studien zur Bibelhermeneutik, Leipzig 2015.