Gesellschaft

Die Ausstellung als Religionsunterricht. Zur Berliner Babylonschau „Wahrheit und Mythos“

Biblischen Geschichten begegnen Menschen nicht nur in Kirche und Schule, sondern z. B. auch im Museum. Mehrere hunderttausend Interessierte haben sich von der Ausstellung über Babylon „Wahrheit und Mythos“ im Pergamonmuseum in Berlin (25.6.-5.10.2008) faszinieren lassen. Was für Botschaften nahmen Berlintouristen, Schülerinnen und Schüler hinsichtlich der biblischen Geschichten aus dem Pergamonmuseum mit?

Die Ausstellung bestand aus zwei Teilen. Der erste zeigte unter dem Titel „Wahrheit“, wie es wirklich war im antiken Zweistromland und was „hinter den Legenden von Babel steckt“ (Ausstellungsflyer). Fundstücke aus drei Jahrtauenden vermittelten in thematischen Räumen Informationen über Götterwelt und Königsideologie Babyloniens. Sie zeigten eine staunenswerte Gesellschafts- und Rechtsordnung mit beachtlicher Wirtschafts- und Wissenschaftsleistung. Die Gegenstände aus Berliner Beständen, aus dem Louvre und dem Britischen Museum wurden didaktisch hervorragend erschlossen. Die Ausstellung wollte die Wurzeln unserer Kultur im Zweistromland zeigen: Kalender, Zahlen, Sternzeichen, Schrift – all dies stammt aus Babylon.

Der zweite Teil verfolgte unter dem Begriff „Mythos“ mit sieben thematischen Schwerpunkten die andere Wirkungsgeschichte Babylons bis in unsere Gegenwart: die Wirkungsgeschichte einer Legende. Babel wird die historische Wahrheit verfälschend, in der Geschichte unserer Kultur aufgrund biblischer Texte immer wieder tendenziös erinnert und grell inszeniert – so zeigten es die Ausstellungsmacher: Es wird zur Hure, zum Unterdrückungssystem, der Turmbau wird zum Aufstand gegen Gott. Die Ausstellung suggerierte, wie „die Mythe log“ (Gottfried Benn). Das historische Babylon war ganz anders als Babel. Nebukadnezar war kein Gewaltherrscher, sondern ein gerechter, weiser König. Die Ballade von Heine, die Bilder von Rembrandt – alles trügerischer Mythos? Man konnte Plakate kaufen wechselweise mit den Slogan „Kein Gott. Babylon war nicht Babel“, „Kein König. Babylon war nicht Babel“, „Kein Turm, keine Hure. Babylon war nicht Babel“. Die Bibel hat also nicht Recht, sie ist der Ursprung einer die historische Wahrheit verfälschenden Mythisierung. Ausdrücklich wurde darauf verwiesen, dass es den deportierten Juden in der babylonischen Gefangenschaft nicht schlecht ging. Der König Jojakim bekam genug zu essen. Niemand will das bestreiten.

Diese Hermeneutik wirft mindestens drei Fragen auf:

1. Darf man die andere Rezeption, die das babylonische Exil bei Zeitgenossen und bei den kommenden Generationen fand, so einfach als „Mythos“ bezeichnen? Missbrauchen die Klagen des Propheten Jeremia, Erinnerungen an Tränen an den Strömen von Babylon und die Unterdrückung von Verschleppten das historische Babylon?

2. Der schlichte Gestus „Ich sag euch, wie es wirklich war“ kann nerven. Zeigte die Ausstellung in schlichter Entdeckerfreude zu wenig hermeneutische Sensibilität dafür, dass es „die“ eine historische Wahrheit nicht gibt? Das Bild Babylons im Wahrheitsteil war doch auch ein Konstrukt, bei dem Gegenstände aus mehreren Jahrtausenden unter thematischen Gesichtspunkten ein bestimmtes Bild einer fortschrittlichen, effektiven, auf Nachhaltigkeit bedachten Kultur ergaben.

3. Die sieben Themen Nebukadnezar, Babylon-System, Semiramis, Turm, Apokalypse und Sprachverwirrung erzählten, so der Flyer, „nicht die historische Wahrheit über Babylon, sondern die Wahrheit über eine Zivilisation, die den Mythos Babel braucht, um sich selbst zu verstehen“. In diesem Text wird zwischen Wahrheit und Mythos ein anderes Verhältnis aufgezeigt als auf manchen Tafeln und in der schrillen Vermarktung der Ausstellung. Mythos und Wahrheit sind keine diametralen Gegensätze. Gälte es diese Botschaft nicht zu vertiefen? Die Berliner Ausstellung hatte zu wenig Sensibilität für diese Lektion. Sie setzte zu sehr auf „simplify the history“ und bot deswegen schlechten Religionsunterricht.


Michael Nüchtern, Karlsruhe