Hans-Martin Barth

Dialog mit dem Atheisten in mir

„Ich glaube; hilf meinem Unglauben!“

Der gemeinsame Ausgangspunkt für den Atheisten und den Christen in mir

Atheist (A): „Es gibt nur die durch die Wissenschaften erkennbare Erfahrungswelt.“1 Das ist – zusammen mit einer dieser Tatsache entsprechenden Haltung – die Rahmenbedingung, innerhalb derer wir zu diskutieren haben.

Christ (C): Unter dieser Rahmenbedingung, die ich als die heute als gültig angesehene „Metaphysik“ akzeptiere, kommt es aber gleichwohl zum Glauben. Das Evangelium gewinnt Menschen, so auch mich. Es dient mir nicht dazu, die Welt in einem bestimmten Sinn zu erklären, sondern es ermöglicht mir einen spezifischen Umgang mit der Welt, nämlich ein Leben in Vertrauen, Hoffen und Lieben.

A: Unterstelle mir nur nicht, ich könne nicht vertrauen, hoffen und lieben.

C: Nein, aber im christlichen Glauben finde ich immer wieder den Impuls dazu und die Kraft dafür, wenn mein eigenes Vertrauen, Lieben und Hoffen schwach ist oder zu schwinden droht.

A: Das lässt sich als natürlich erklären, nämlich durch deine psychosomatische Konstitution (du hast bestimmte äußere und innere Bedürfnisse), als Folge deiner Sozialisation (du bist in einer christlichen Familie aufgewachsen) oder infolge aktueller kontingenter Faktoren.

C: Das wird bis zu einem gewissen Grad stimmen, obwohl es – besonders im Blick auf die Sozialisation – auch Gegenbeispiele gibt, siehe Nietzsche, die sich wohl ebenfalls durch bestimmte Faktoren werden erklären lassen. Doch ist mir damit nicht alles geklärt. Zum einen bleibt die Frage nach dem Woher dieser Faktoren offen. Zum anderen kann ich nicht davon absehen, dass ich es bin, der sich auf meinen, vom Evangelium inspirierten Weg gerufen weiß, wie auch immer sich dies natürlich erklären lassen mag. Die Ich-Perspektive lässt sich durch die Es-Perspektive nicht befriedigen.2

A: Auch das lässt sich als natürlich gegeben verstehen. Die Ich-Perspektive hebt die Es-Perspektive nicht auf. Sie ist die von der Natur gegebene Möglichkeit eines „Transzendieren[s] ohne außermenschliche Transzendenz“3.

C: Ich will aber auch gar nicht eine Transzendenz jenseits der Immanenz postulieren. Es geht mir nicht darum, schließlich von der Existenz Gottes sprechen zu können. Ich will diese Fragen nur offenhalten.

A: Sie können nicht offengehalten werden. Unter den Rahmenbedingungen des Naturalismus gibt es keine offenen Fragen, es sei denn solche, die irgendwann natürlich geklärt werden können oder werden.

C: Aber die Voraussetzungen des Naturalismus können natürlich infrage gestellt werden, sogar auf naturalistischer Basis, wenngleich ein definitives Ergebnis dabei nicht erreichbar ist. Trotz aller zu erklärenden Einzelphänomene bleibt die Unfasslichkeit des Ganzen.

A:. Mir ist klar, dass ich als Mini-Partikel des Universums das Universum nicht überschaue. Damit muss ich mich abfinden.

Nach Jesus aus Nazareth fragen, nicht nach „Gott“

C: Aber auch, wenn ich mich damit abfinde, muss ich mich in dieser teils fasslichen, teil unfasslichen Wirklichkeit bewegen. In dieser Situation begegnet das Evangelium oder konkret: die Gestalt und die Botschaft Jesu. Jesus kommt in der natürlich erklärbaren Welt vor; Glaube an Jesus Christus findet statt.

A: Das ist ein soziokulturell erklärbarer Vorgang. Jesus ist historisch wenig greifbar; bei der Berufung auf ihn kann es sich um Missverständnis und Fehlorientierung handeln. Zudem: welcher Jesus?

C: Am historischen Jesus scheint immerhin dreierlei deutlich: Sein einladendes Wesen, sein forderndes Liebesgebot, sein Weg zum Kreuz.4 Wer sich auf die Jesus-Tradition einlässt, erkennt: Das Geheimnis des Lebens zeigt sich in Liebe, Leiden und Scheitern – und in einem bodenlosen Vertrauen. Ein daraus abgeleitetes Ethos kann sich sogar rational empfehlen.

A: Die Goldene Regel gibt es in vielen Religionen.5 Auch Humanisten werden sie teilen. Die hohe Einschätzung des Leidens ist ambivalent. Sie kann sich auch negativ auswirken. Zudem: Warum gerade Jesus für wichtig halten und nicht Buddha oder den Koran?

C: Die ersten Christen sind Jesus nicht aufgrund rationaler Erwägungen nachgefolgt. Sie hätten sich auch Johannes dem Täufer anschließen oder die Diana von Ephesus verehren können. Sie haben den Ruf Jesu zur Nachfolge gehört und sind ihm gefolgt. Es war ein kontingentes Geschehen. Manch einer wird erst im Nachhinein bemerkt haben, was ihm da zugestoßen war, und danach wird er auch darüber nachgedacht haben. Bei Entscheidungen in der Liebe ist es doch ähnlich.

A: Wenn ich aber den „Ruf“ nicht höre oder mit guten Gründen lieber auf den Ruf der Ratio achten will?

C: Dann ist diesem folgen zu wollen letztlich ebenfalls eine kontingente Entscheidung, abhängig von bestimmten Kontexten.

A: Die Ratio ist in jedem Menschen in irgendeiner Weise vertreten. Jeder muss auf sie hören. Was sollte mir darüber hinaus nahelegen, gerade dem „Ruf“ Jesu zu folgen?

C: Die Tatsache, dass es die Wirkungsgeschichte Jesu, ihren Anspruch und die Inspiration durch sie gibt. Es gibt Menschen, die sich auf den Weg und die Botschaft Jesu eingelassen und damit für sie wichtige Erfahrungen gemacht haben! Auch mit den Traditionen Buddhas, Laotses und mit dem Koran können wichtige Erfahrungen gemacht werden. Ich verstehe sie als einen wichtigen Kontext für die Botschaft Jesu. Sie gehören ja auch alle in ein bestimmtes Stadium in der Entwicklung der Menschheit. Ich könnte mir die Bedeutung Jesu rational z. B. so erklären: Die Evolution findet eine Kulmination in der Hominisation, die Hominisation nach vielen Zwischenstufen in den Erkenntnissen der Achsenzeit, die Achsenzeit einen Höhepunkt in der Gestalt und der Botschaft Jesu. In ihm tritt zutage, was die Welt im Innersten zusammenhält. Die Erkenntnisse der Achsenzeit können erst einmal als gemeinsames Erbe wahrgenommen werden. Überall begegnen hier Plädoyers für Liebe, Frieden, Zuversicht. Ich aber bin, aus welchen Gründen auch immer, nicht so sehr an Buddha und den Koran, sondern eher an Jesus und seine Botschaft und an die Gemeinschaft geraten, deren Zustandekommen er ausgelöst hat und immer noch auslöst. Ich kann mich dem nicht entziehen; für mich bewährt es sich, auch rational. Die Möglichkeit, sich von der Gestalt und Botschaft Jesu ansprechen zu lassen und ihr zu folgen, besteht auch für den Atheisten, der eine Existenz Gottes ausdrücklich bestreitet.

A: Wie und warum sollte er sie ergreifen?

C: Er muss seiner eigenen Einsicht folgen. Sie sollte aber nicht kategorisch ausschließen, dass er das Evangelium als einen Impuls versteht, seine bisherige Sicht der Dinge zu überprüfen und zu bedenken, worin ihm Jesu Gestalt und Botschaft wichtig werden könnte, auch ohne dass er die Existenz Gottes bejaht.

A: Du willst mir den Gottesglauben und die Annahme einer Transzendenz ersparen, weil du beides vielleicht selbst nicht akzeptieren kannst. Deswegen fliehst du zu der Gestalt Jesu als Orientierungsmuster und Hoffnungsanker und empfiehlst das auch mir. Aber wird daraus nicht eine Mogelpackung? Der historische Jesus hat doch wohl die Existenz Gottes nicht infrage gestellt!

Die Sache Jesu vertreten, nicht ein religiöses Weltbild

C: Natürlich kann der historische Jesus nicht ohne Gott, ohne den Gott des Alten Testaments/der Hebräischen Bibel gedacht werden. Eben darin ist er eben „historisch“, nämlich abhängig von seinem soziokulturellen Umfeld. Doch was er vermitteln wollte, war doch nicht ein religiöses Weltbild, sondern Zuversicht, Vertrauen, Hoffnung, Liebe, und das ist ihm offenbar in einer kontingenten Weise gelungen. Dabei ist die Berufung auf den historischen Jesus innerhalb seiner konkreten Lebensdaten allein gar nicht der springende Punkt. Zu ihm gehört, was er ausgelöst hat, seine Wirkungsgeschichte, das von ihm Berichtete und Erwartete, gehören die Menschen, die sich auf ihn eingelassen haben.

A: Zur Wirkungsgeschichte Jesu gehört auch viel Problematisches, ja Übles. Und liegt hier nicht eine unbegründete und unerlaubte Überhöhung eines Menschen vor? Wird er so nicht mit „Gott“ identifiziert?

C: Wenn es eine „Kriminalgeschichte des Christentums“6 gibt, liegt das bestimmt nicht an Jesus, wie ihn das Neue Testament beschreibt und bezeugt. Ich will ihn ja gerade nicht mit einem traditionellen theistischen Gottesbild in Zusammenhang bringen, sondern für die Einsicht und Erfahrung werben, dass es lebensförderlich ist, den Spuren Jesu zu folgen, sich seiner Autorität anzuvertrauen.

A: Was heißt „auf den Spuren Jesu“? Geht es da um mehr als um Ethik, um Jesus als Vorbild? So gesehen bin ich auch als Atheist auf den Spuren Jesu.

C: Es steht mir nicht zu, zu beurteilen, wer sich auf den Spuren Jesu bewegt und wer nicht. Immerhin ist als Wort Jesu der Satz überliefert: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). Auf den Spuren Jesu heißt: Ich verstehe und gestalte von Jesu Leben und Lehren, von seinem Vertrauen, Hoffen und Lieben her auch mein Leben, das Verhältnis zu meinen Mitmenschen, ja „die Welt“. Das setzt voraus, dass ich in Kontakt mit den Menschen bin, die ebenfalls seinen Spuren folgen wollen, in Haltung und Verhalten, das heißt: mit seiner Gemeinde, mit der Kirche. Es impliziert Kontakt mit den Zeugnissen, die seinen Geist ausstrahlen, also zunächst einmal mit dem Neuen Testament und dessen Auslegung und Verkündigung.

A: Da ergeben sich für mich natürlich viele weitere Fragen, zur Bibel, zur Institution Kirche und ihrer Geschichte. Ich lasse das mal unberücksichtigt. Jedenfalls aber wird Jesus damit zu einer überirdischen Größe. Das ist von unseren eingangs akzeptierten Rahmenbedingungen her auszuschließen.

C: Die uns beide bestimmenden naturalistischen Rahmenbedingungen sehe ich damit nicht infrage gestellt. Jesu Autorität realisiert sich einerseits innerhalb der genannten Rahmenbedingungen und steht ihnen gerade so auch gegenüber. Im „intra nos“ realisiert sich das „ultra nos“.

A: Das gilt für jede weltanschauliche Positionierung: Immer muss ich innerhalb des „intra“ einen Ort einnehmen, von dem aus ich dem „intra“ sozusagen gegenüberstehe. Insofern ist es nichts Besonderes, wenn ich nun etwa die Bergpredigt zum Ausgangspunkt meiner Perspektive nehme. Ich wähle aufgrund bestimmter psychischer oder soziokultureller Mechanismen. Als Atheist wähle ich z. B. Nietzsche als meinen Orientierungspunkt.

C: Jesus kann ich zwar im Sinne einer ethischen Orientierung wählen, nicht aber im Sinne einer Autorität, die mich ganzheitlich erfasst, trägt und bestimmt. Ich kann mich nicht für sie entscheiden; sie legt sich mir nahe, sodass ich sie annehme, und ich kann die Entscheidung nachträglich bejahen.

A: Oder ablehnen. Mir hat sie sich nicht nahegelegt. Ich möchte im Übrigen rational prüfen, was etwa sich mir nahelegen will. Was heißt „sich nahelegen“? Braucht der Christ zur Begründung seines Christus-Glaubens nicht doch eine göttliche Instanz, die ich als Atheist ablehne?

Transzendenz anders verstehen

C: Mein Glaube an Jesus erkennt sich nicht als rational abgesichert oder psychologisch plausibel. Er erfährt sich als immer neu sich einstellende innere Gewissheit. Er hat nichts, worauf er sich stützen könnte – außer der Jesus-Tradition, den Menschen, die ihr zu folgen versuchen, und meiner eigenen Erfahrung. Er versteht sich aber letztlich nicht als davon abhängig. Das Neue Testament sagt das so: Jesus selbst ist dem Glaubenden gegenwärtig, nicht nur eine Theorie über ihn. Im Glaubenden lebt Christus selbst: So „lebe … nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20). Dieser Glaube steht für sich, bodenlos, verwirklicht sich in Bodenlosigkeit, er hängt in der Luft wie der Gekreuzigte, der sein „Warum hast du mich verlassen?“ schreit und es doch einem Du zugewiesen weiß. Hier vollzieht sich, wenn man mit dem Transzendenz-Begriff arbeiten will, mitten in der Immanenz „Transzendenz“. Es lässt sich auch auf die traditionelle Dogmatik beziehen: Hier vollzieht sich „Inkarnation“ oder, anders gesagt, „Auferstehung“ Jesu.

A: Wird damit aber nicht doch, sozusagen durch eine Hintertür in der Immanenz, „Gott“ wieder eingeführt?

C: Wenn man es so verstehen will: ja, aber doch auf eine vom traditionellen Weltbild charakteristisch verschiedene Weise. Es könnte doch sein, dass sich durch diese „Hintertür“ ein neuer Horizont erschließt, aber eben nicht ein Gott, den ich als Glaubender voraussetzen müsste, sondern ein Gott, der sich in der Nachfolge Jesu erst „ergibt“; es eröffnet sich ein Erwartungshorizont, eine Deutungsperspektive. Die Möglichkeit einer transzendenten Welt ist unter naturalistischen Bedingungen ausgeschlossen. Aber innerhalb der immanenten Welt gibt es das Phänomen des Transzendierens: die Erfahrung, dass der Glaube an Jesus orientiert und trägt. Ausgehend von dem, was Jesus zu sagen hat, blicke ich dankbar und zuversichtlich auf die Welt, die mich umgibt.

A: Das mache ich ebenfalls, allerdings ohne einen Jesus zu bemühen. Deine „Erfahrungen“ sind doch aus naturalistischer Sicht ebenso Projektionen wie die, von denen traditionell theistische Gläubige sprechen.

C: Ohne Projektion und Vision wird man nicht leben können. Aber die auf den Spuren Jesu sich einstellenden Projektionen haben sozusagen Hand und Fuß, weil sie für mich, ausgelöst von der Jesus-Tradition, konkrete Orientierung im Blick auf mein Dürfen und Sollen implizieren. Als Mensch, der zu projizieren vermag und genötigt ist, kann ich mir sogar eine zweite Naivität denken, in der ich Gott per Du, als den in Jesus mir begegnenden Vater anrufe, ohne mir Gott als existent oder gar als allwissenden Vater vorstellen zu müssen. Das ist aber gerade nicht Voraussetzung für die Nachfolge Jesu, sondern eine ihrer möglichen Implikationen.

A: Du meinst, das Ontische, die Existenz Gottes, das Gegebensein einer transzendenten Welt mindestens zunächst außen vor lassen oder ins Reich der Projektionen verweisen zu können. Diese Überlegung soll es mir leichter machen, mich auf den Weg Jesu einzulassen. Zugegeben: Der Gott, der sich in der Nachfolge Jesu ergibt oder ergeben kann, ist jedenfalls nicht notwendig das theistisch gedachte personale Superwesen des landläufigen christlichen Verständnisses. Aber ist das nicht eine nutzlose und unfaire Gedankenspielerei?

C: Die christliche Theologie hat aufgrund eigener Prämissen gegen einen Gott protestiert, den „es gibt“7. Dass Glaube an Jesus sich einstellt, dass es zu Vertrauen kommt, ohne dass eine erkennbare Hilfe in Sicht ist, zu einem Lieben, das ohne Gegenliebe liebt, und zu einem Hoffen, wo es nichts zu hoffen gibt – darin geschieht Gott. Das verstehe ich als ein Aufflammen von Transzendenz. Das ist das Wunder, das sich auf den Spuren Jesu vollzieht.8

Konsequenzen für Leben und Sterben

A: Ich muss es offenlassen, ob da etwas in mir aufflammen will. Ich kann auch ohne diese Variante von Transzendenz gut leben. Ich lebe, wie es kommt, genieße, traue meiner Intuition, versuche aus allem das Beste zu machen. Ich übergehe dabei nicht meine Rationalität, die mir konkret nahelegen kann, Verantwortung zu übernehmen und mich zu engagieren.

C: In Ordnung. Dir kann das offenbar genügen. Aber wenn du gegen die Religion oder insbesondere gegen das Christentum zu Felde ziehst, kannst du dich nicht darauf berufen, dass Gott nicht existiert und dass Transzendenz nicht denkbar ist. Der christliche Glaube birgt Denk- und Existenzmöglichkeiten, die von der Annahme einer Existenz Gottes unabhängig sind. Er lädt zu einem vertrauenden, liebenden, hoffenden Leben ein, sogar in extremis.

A: Wie ich mich in extremis verhalte, weiß ich nicht, ahne ich allenfalls. Ich fliehe nicht in ein Gebet zu einem Gott, den es gibt oder „nicht gibt“. Allenfalls Meditation, in der ich mich auf mich selbst und meine Situation besinne, kenne ich als wohltuend, klärend und hilfreich.

C: Meditation kann mir helfen, mich in das von Jesus sich vermittelnde Vertrauen einzulassen.

A: Wozu brauchst du da Jesus? In der Meditation können sich Ruhe, Klarheit und Vertrauen von selbst einstellen.

C: Meditation kann mich aber auch blind machen für mein Gegenüber, meine Aufgaben, für mein mir aufgetragenes Dasein. Hier bin ich durchaus dafür, den Verstand nicht zu vernachlässigen! Mit der Präsenz Jesu im Bewusstsein verbinden sich Vertrauen, Hoffnung und Liebe. Dies führt zu einer nüchternen und zugleich zuversichtlichen Einstellung gegenüber Leben und Sterben.

A: Ich bin damit einverstanden, dass ich sterben werde. So ist das von der Natur vorgesehen. Mit meiner Lebensleistung bin ich mehr oder weniger zufrieden. Ich kann abtreten.

C: Christlicher Glaube lädt dazu ein, den Tod nicht nur hinzunehmen, sondern sich im Sterben vertrauend der auf einen zukommenden Bodenlosigkeit zu überlassen. Der „Himmel“ ist kein Ort, sondern er geht auf über denen, die vertrauen.

A: Ich vertraue der Natur. Der Blick auf eine Blume oder auf ein spielendes Kind stimmt mich positiv. Ein Kunstwerk oder ein wunderbares Konzert empfinde ich als Wohltat.

C: Das geht mir nicht anders! Besonders deswegen, weil ich sie mit der von Jesus ausgelösten Zuversicht betrachte und insofern die Blume und das Kind ihrem jeweiligen Weg anvertrauen kann.

A: Und du willst darauf verzichten, von „Gott“ zu reden?

C: Ich will den christlichen Glauben nicht von einem vergangenen Weltbild abhängig sehen. Ich versuche daher, anders von Gott zu reden. Von Gott kann man nicht reden, als wäre er jemand oder etwas. In dem Vertrauen, das das Zeugnis von Jesu Lehre, Leben und Leiden in mir und anderen auslöst und mir seinen Geist und seine Energie präsent macht, gewinne ich einen zuversichtlichen Blick auf mein Leben und auf alles: Darin verwirklicht sich Gott, wenn du es so nennen willst. Aber ich muss es nicht „Gott“ nennen.

A: Wir müssen wohl weiterhin beide miteinander auskommen …

C: Und weiter miteinander reden …

Nachbemerkung

Während religiöse Menschen mit einer jenseits der Immanenz existierenden und diese zugleich durchdringenden Transzendenz rechnen können, vermögen sich Christen und Christinnen ebenso wie ein Atheist auf das Weltbild des Naturalismus einzulassen. Auch sie müssen sich nicht hinter oder über der Welt eine zweite, eigentliche Welt vorstellen. Atheistisch oder christlich sozialisierte Menschen können der Überlieferung von Person und Botschaft Jesu begegnen und sie plausibel finden, auch ohne das Gottesbild Jesu oder einen der überkommenen Gottesbegriffe der Christenheit teilen zu müssen. Unter dem guten Geist, der von Jesus, ja von einzelnen Sätzen und Worten des Neuen Testaments ausgeht, wird „Gott“ erfahrbar als das Woher von Vertrauen, Lieben und Hoffen.

Diese Plausibilität basiert auf Jesu empathischem, einladendem Verhalten, in seinem Liebesgebot und in der Bejahung seines Wegs zur Kreuzigung. Sie vermittelt sich nicht durch Argumentation, etwa durch den Verweis auf einen sie legitimierenden Gott oder auf die durch den Glauben zu gewinnende Resilienz,9 sondern durch die Gemeinschaft der Glaubenden und deren Erfahrungen. Sie überträgt sich als Impuls zu vertrauen, zu hoffen und zu lieben. Sie realisiert sich im Widerspruch zu Misstrauen, Lug und Trug, zu Resignation und Verzweiflung, im Kampf gegen Teilnahmslosigkeit und Hass. Sie bewährt sich in extremis als bodenloses und kontrafaktisches Vertrauen, Hoffen und Lieben und ist insofern dem Tod gewachsen und dem Leben zugewandt. Sie leistet damit dasselbe wie ein sich traditionell religiös verstehender Glaube, ohne von dessen transzendental argumentativen Elementen abhängig zu sein. Sie kann Glaubende zur Vorstellung einer Halt und Orientierung gebenden Instanz führen, die sie im Sinne einer zweiten Naivität per Du anzureden vermögen. Sie wissen sich dazu durch die Jesus-Überlieferung eingeladen, ermutigt und ermächtigt, auch ohne über die Existenz einer solchen Instanz rational Auskunft geben zu können.10


Hans-Martin Barth

Anmerkungen

  1. Definition von „Naturalismus“ bei Holm Tetens: Gott denken. Ein Versuch über rationale Theologie, Stuttgart 2015, 21.
  2. Vgl. Wolf Singer: Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung, stw 1596, 2003, 22, 27.
  3. Ernst Bloch: Atheismus im Christentum, Frankfurt a. M. 1968, 287.
  4. Vgl. Matthias Kroeger: „Was bleiben will, muss sich ändern“. Zur Legitimität einer Reform in den Herzstücken des christlichen Glaubens, Gütersloh 2015, 28ff.
  5. Vgl. Stiftung Weltethos (Hg.): Weltreligionen – Weltfrieden – Weltethos, Tübingen 2000, 20f.
  6. Karlheinz Deschner: Kriminalgeschichte des Christentums, 10 Bde., Reinbek 1986ff.
  7. Dietrich Bonhoeffer: „Einen Gott, den ‚es gibt‘, gibt es nicht“, DBW 2, 112.
  8. „Dass es das Christentum überhaupt gibt, ist sein größtes Wunder“ (Jörg Lauster: Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums, Darmstadt 32015, 31).
  9. Der Neurologe und Psychiater Boris Cyrulnik findet: „Die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft stiftet enorme Sicherheit und ist ein wertvoller Resilienzfaktor.“ Er selbst aber lebe „ohne Gott. Das ist Gottes Fehler! Er hat mich noch nicht besucht!“, in: Boris Cyrulnik: Vertrauen in das Unsichtbare, in: Psychologie heute 46/1 (2019), 48.
  10. Dem an der Schuldogmatik orientierten Christen/Theologen werden die trinitarischen Implikationen dieses Ansatzes nicht entgehen: Die Gegebenheit des zur Gestaltung seines Lebens und seiner Mitwelt herausgeforderten und genötigten Menschen, die inmitten der Glaubensgemeinschaft sich vergegenwärtigende kerygmatische Präsenz Jesu als des Christus und das kontingente Ereignis von abgrundtiefem Vertrauen, Hoffen und Lieben, begleitet von einer radikalen Beachtung des Bilderverbots.