Liane Wobbe

Der Wettlauf von Ganesha und Murugan

Zwei Hindugötter erobern Berlin

In der indischen Mythologie gibt es folgende Geschichte: Ganesha und Murugan, die beiden Söhne des Götterpaares Shiva und Parvati, wurden von ihren Eltern beauftragt, einmal das Universum zu umkreisen. Derjenige, der als erster wieder vor seinen Eltern steht, sollte mit der Frucht der Weisheit belohnt werden. Darauf hin ritt Murugan auf seinem Pfau einmal um die Welt, in der sicheren Annahme, er wäre zuerst da. Ganesha, etwas dick und träge, hatte eine bessere Idee. Er setzte sich auf sein Reittier, die Ratte, und umkreiste einmal seine Eltern mit der Begründung: „Das Universum seid ihr.“ Die Eltern fühlten sich geschmeichelt und belohnten ihn dafür mit der versprochenen Frucht.

Der Hindugott Murugan erhält einen neuen Tempel

Es ist ein Spätnachmittag im September 2013. Die schwere braune Holztür des vor zwei Wochen eröffneten Hindu-Tempels in Berlin-Britz steht offen. Eine Familie sitzt auf dem Steinfußboden vor dem Hauptschrein, in dem sich die Statue des tamilischen Gottes Murugan befindet. Vor dem Schrein liegt ein großer Teller mit Reis, Bananen, Kokosnüssen und Blumen. Verschiedene Lichthalter, deren kleine Pfännchen mit Butterschmalz gespeist sind, stehen daneben.

Während ein Tempelbesucher eine von der Decke hängende Glocke läutet, beginnt der Priester mit der Puja-Zeremonie (Puja: Huldigung, Verehrung)1: Zuerst schwenkt er einen einflammigen Lichthalter dreimal im Uhrzeigersinn vor der Figur Murugans und singt Lobeshymnen in Sanskrit für den Gott. Dann kreist er dreimal ein Räucherstäbchen vor der Statue, wirft ihr Blumen zu und besprengt sie mit Wasser. Nun nimmt er eine fünfflammige Lampe und beendet sein zirkulares Schwenken durch ein Beschreiben der Silbe „Om“ in Tamilschrift vor den Augen Murugans. In diesem Moment, der den spirituellen Höhepunkt der Zeremonie darstellt, führen alle Gläubigen ihre zusammengelegten Hände an die Stirn und begrüßen die Gottheit mit einem lauten „Aro Hara“. Dann erfolgt eine Badezeremonie (Kumbha-Abhisheka genannt) für Murugan. Der Priester nimmt mehrere Kupfertöpfe (Kumbha) und übergießt die schwarze Steinfigur mit heiligem, geweihtem Wasser.2 Die Familie, die das Ritual gespendet hat, umrundet jetzt den Hauptschrein.

Eine Frau erzählt, dass die Familienmitglieder extra aus London angereist sind, um während der heiligen 48 Tage nach der Tempeleröffnung ein Einweihungsritual im Wert von 450 Euro zu finanzieren, da nach ihrem Glauben daraus ein besonderer Segen für die Nachkommen resultiert.

Inzwischen hat sich unter den Tempelbesuchern, die jetzt über hundert zählen, eine aufgeregte Stimmung ausgebreitet, die von einem emsigen Hin- und Herlaufen, lautem Gemurmel und Zurufen sowie eiligem Hin- und Hertragen von Kultgegenständen und Opfergaben wie Bananen, Kokosnüssen und Weihwasser bestimmt ist. An Steintöpfen schneiden einige Frauen die Blumen für die Puja. Denn gleich erfolgt eine ganz besondere Zeremonie für den sechsgesichtigen Murugan, der an der rechten Wand in einem Schrein mit seinen beiden Frauen Valli und Devayana dargestellt ist.

Wie an jedem Abend während der 48 Tage nach der Tempeleröffnung soll die geschmückte Bronzefigur Murugans um den Hauptschrein im Tempel getragen werden. Einige tamilische Männer sind mit einem Dhoti bekleidet, einem Tuch, das anstelle einer Hose um die Hüfte geschlungen wird und bis zu den Knöcheln reicht. Ihr Oberkörper ist unbekleidet. Sie bereiten sich darauf vor, die schwere Figur aus dem Schrein zu heben. Einige Männer in Jeans und Hemd werden angesprochen, beim Tragen mitzuhelfen, woraufhin sie ihr Hemd ausziehen und es einem Dhoti gleich um ihre Hüfte wickeln. Denn beim Tragen der Götterstatue muss der Oberkörper frei sein. Als sich acht Träger zusammengefunden haben, versammeln sie sich vor der sechsgesichtigen Murugan-Figur. Unter lautem Zurufen der Tempelgemeinde heben sie das Götterbild mit zwei Lanzen auf ihre Schultern. Tamburin, Zimbeln und Trommeln werden dazu gespielt. Dann wird ein großer Prozessionszug in Bewegung gesetzt. Zwei Männer laufen mit brennenden Fackeln vor dem geschmückten Gott her. Ein Mann hält einen Schirm über ihn. Zwei weitere Männer wedeln der Statue mit zwei Yakschwänzen Wind zu. Die Priester laufen ebenfalls vor der Menschenmenge her und schieben einen kleinen Metallwagen, auf dem sich Ritualgegenstände wie Lampen, Gefäße mit Kumkum und Sandelholzpaste, Blumen und Räucherstäbchen befinden. Während die ganze Gemeinde die Hymne „Vande Vande“ („Komm zu uns mit deinem Tanz“) singt, umrundet sie den Hauptschrein für Murugan.

Die Hindugemeinde aus Sri Lanka

In Berlin sind 1095 Zuwanderer aus Sri Lanka gemeldet.3 Während in Sri Lanka selbst die Mehrheit den singhalesisch sprechenden Buddhisten und die Minderheit den tamilisch sprechenden Hindus angehört, befinden sich unter den sri-lankischen Zuwanderern in Deutschland überwiegend tamilische Hindus. Auch die Hindugemeinde des neuen Murugan-Tempels kommt aus Sri Lanka. Sie setzt sich aus tamilischen Bürgerkriegsflüchtlingen und deren Nachkommen der zweiten und dritten Generation zusammen.

Die ersten tamilischen Flüchtlinge, von denen die meisten Hindus, einige Christen und wenige Muslime sind, kamen in den 1980er und 1990er Jahren mit Beginn des Bürgerkrieges in Sri Lanka nach Deutschland. In Berlin stellten in den ersten zehn Jahren einige Familien ihre Wohnungen für gemeinschaftliche Zeremonien zur Verfügung. 1991 erwarb die Gemeinde eine Kellerwohnung in der Urbanstraße, baute sie zu einer hinduistischen Kultstätte aus und weihte sie dem tamilischen Gott Murugan. Schreine für Hindugötter wurden installiert, Priester aus Südindien fest angestellt und der Verein „Hindu Mahasabhai e. V.“ als Träger der Tempels gegründet. Da die Mitglieder der Gemeinde shivaitisch4 orientiert sind, wurde der Tempel auch nach shivaitischer Tradition geführt. Im Laufe der Zeit entwickelte er sich durch zahlreiche Spenden zu einer kommunalen hinduistischen Andachtsstätte mit regelmäßigen Kultdiensten für die Götter und individuell durchgeführten Puja-Zeremonien für Hindufamilien. Doch mit der immer größer werdenden Hindugemeinde, die mittlerweile aus rund 300 Mitgliedern bestand und die sich besonders am Freitag und zu den Festveranstaltungen zahlreich im Tempel einfand, kam es zunehmend zu Platzmangel. Zudem schränkten aufwendige Sanierungsarbeiten die vorgeschriebene Durchführung der Rituale ein.

Das führte dazu, dass man für den Neubau eines Tempels nach südindischem Vorbild warb und nach einem geeigneten Platz dafür suchte. In Einigung mit dem Land Berlin und dem Bezirk Neukölln erwarb dann die Gemeinde das Grundstück in Britz an der Blaschkoallee/Ecke Riesestraße. An dem von einem indischen Architekten entworfenen Tempel wurde fünf Jahre lang gebaut. Der Bau kostete rund 800 000 Euro und wurde zum einen Teil durch Spenden und Rücklagen des Tempelvereins finanziert, zum anderen Teil durch einen Kredit der Berliner Volksbank.

Im Sommer 2009 fand die rituelle Grundsteinlegung, die Bhumi Puja, statt, und am 7. und 8. September 2013 wurde der neue Tempel in Anwesenheit zahlreicher hinduistischer und nichthinduistischer Besucher mit feierlichen Ritualen eröffnet.5 Der Priester, der gegenwärtig im Tempel angestellt ist und alle Puja-Zeremonien durchführt, kommt aus Chennai, einer Stadt im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu.

Komfortablere Bedingungen für die Götter und deren Verehrer

Die Außenmauer des quadratischen, etwa fünf Meter hohen Gebäudes ist nach süd­indischem Vorbild rot-weiß gestreift. Auf dem Dach ragen zwei Tempeltürme, sogenannte Gopurams empor, die mit zahlreichen bunten Skulpturen aus der hinduistischen Mythologie versehen sind. Während der hintere Turm etwa neun Meter hoch ist, hat der vordere Turm über dem Eingang eine Höhe von elf Metern.

Betritt man den Tempel, dann gelangt man durch einen winzigen Vorraum, der als Garderobe dient, direkt zum Hauptschrein des Gottes Murugan. Davor bewachen zwei installierte Torhüter, genannt Dwarabala, die im Schrein befindliche Götterfigur. Vor dem Hauptschrein ist mit Blick auf Murugan der Pfau, das Reittier des Gottes, dargestellt. Dicht an der rechten Seitenwand des Hauptheiligtums ist ein winziger Schrein mit dem relativ unbekannten Gott Sandesh­vara eingelassen. Die meisten Götter sind extra für diesen Tempel in Indien angefertigt worden und bestehen aus schwarzem Stein.

Folgt man der Reihe im Uhrzeigersinn, in dem die Götter während einer Puja-Zeremonie verehrt werden, dann trifft man an der hinteren Tempelwand links auf einen Schrein für den elefantenköpfigen Gott Ganesha. Bei ihm beginnt der Priester mit der Puja-Runde, damit auch alle weiteren Zeremonien „gelingen“. Gleich daneben findet sich ein Schrein mit dem Phallussymbol des Gottes Shiva, dem Shiva Lingam, auf dessen Besitz die Tempelbesucher mit Stolz verweisen, da es eine Neuheit in der hiesigen Götterabbildung darstellt. Etwas weiter rechts ist ein Schrein für den Gott Vishnu errichtet. Bei einer Drehung zur rechten Tempelwand erblickt man ganz links die tamilische Göttin Nagapushpani, die als Inkarnation der großen Göttin Durga gilt. Läuft man weiter, gelangt man zu einem großen Schrein, in dem alle Metallgötter des alten Tempels um die Figur des tanzenden Gottes Shiva gruppiert sind. Unter ihnen befindet sich auch der sechsgesichtige Murugan, das Götterbild aus Metall, das bei Umzügen herumgetragen wird. An der linken Ecke derselben Wand sind die neun Planetengötter, die Navagrahas, in ein Becken eingelassen. Bei einer letzten Drehung steht man vor dem Wächtergott Bhairava, der sich neben der Eingangstür befindet und dem die letzte rituelle Handlung gilt. Alle Götter, einschließlich des Shiva Lingams, sind in Saris gehüllt und mit Schmuck und Blumenketten behangen. In allen Schreinen brennt ein Lämpchen.

Links neben dem Eingang ist ein Büro. Hier werden die Aufträge für die Zeremonien entgegengenommen, Quittungen geschrieben und Opfergaben ausgehändigt. In der sich daneben befindenden Küche bereiten die Priester das Essen für die Götter zu.

In diesem Tempel finden, wie in Indien und Sri Lanka auch, periodisch wiederkehrende und persönliche, situationsbezogene Puja-Zeremonien statt. Zu den periodisch wiederkehrenden zählen die täglichen, wöchentlichen und jährlichen Zeremonien, die kalendarisch und größtenteils auch astrologisch festgelegt sind. Diese Rituale werden von den Priestern vollzogen, egal ob sich Besucher im Tempel befinden oder nicht. So werden die Götter allmorgendlich mit einer Bade- und Ankleidezeremonie bedacht. Danach folgen die täglichen Verehrungsrituale zu sechs vorgegebenen Zeiten. In jeder Puja-Zeremonie werden den Göttern Licht, Räucherstäbchenduft, Blumenblüten, sakralisiertes Wasser (durch Mantren und Gewürze) und Mantren entgegengebracht, darüber hinaus auch Kokosnüsse, Bananen oder gekochtes Essen. Da­ran schließt sich die Arati-Zeremonie an, bei der die Besucher die Flamme des Lichtes berühren und zu ihrem Gesicht führen und sich Asche (Vibhuti), gelbe Sandelholzpaste (Turmeric) und rotes Pulver (Kumkum) als segnende Elemente an die Stirn tupfen. Anschließend singt die Gemeinde Hymnen für die Götter in tamilischer Sprache.

Puja-Zeremonien, die aus einem persönlichen Anlass heraus zelebriert werden, heißen Archana (sanskrit, „Huldigung“). Archana-Zeremonien werden von den Familien beim Priester in Auftrag gegeben. Sie sollen Wünsche gewähren oder Unheil abwenden und richten sich nach einem aktuellen persönlichen Anliegen, z. B. Geburtstag, Prüfung oder Krankheit. Während die preiswertesten und am häufigsten durchgeführten Archana-Zeremonien zwischen 5 und 15 Euro kosten, liegt der Preis für ein aufwendigeres Opferritual bei 150 bis 300 Euro.

Da im neuen Tempel alle Götterstatuen aus Stein sind und sich an jedem Schrein ein Abflussrohr befindet, können die Götter täglich mit geheiligten Flüssigkeiten übergossen werden. Im alten Tempel war das nicht möglich, da es dort überwiegend Bronzestatuen gab. Während die Mitglieder der Gemeinde im ehemaligen Tempel nur als Zuschauer auf dem Boden saßen und die Rituale des Priesters beobachteten, folgen sie ihm im neuen Tempel bei der Durchführung der Puja-Zeremonien von Schrein zu Schrein.

Der Bau des neuen Tempels ist für die sri-lankische Hindugemeinde von außerordentlicher Bedeutung. Es steht jetzt ein Kultort zur Verfügung, der größer und prunkvoller ist als der alte und der Rituale in traditionsgerechterer Art erlaubt als bisher, aber nicht nur das: Die 48-tägige zeremoniell bestimmte Einweihungszeit wird als heilige Zeit gesehen, die einen großen Segen mit sich bringt. Sie lockte Hindus aus dem In- und Ausland an, von denen viele das Bedürfnis hatten, eine teure Einweihungs-Puja zu bezahlen, weil das Segen und Glück für die ganze Familie bis hin in nachfolgende Generationen bedeutet. Einen Tag vor der Eröffnung des Tempels hatten die Besucher sogar die Möglichkeit, die Götterfiguren anzufassen und mit Sesamöl zu übergießen, eine Geste, die sonst nur dem Priester vorbehalten bleibt. Eine Frau erzählte ganz gerührt von diesem Erlebnis: „Es war, als würde man ein kleines Kind baden. In meinem Heimatland Sri Lanka kam es nie dazu, aber hier in Deutschland hatte ich das Glück.“

Ganesha muss noch auf seinen Tempel warten

Am Eingang des geplanten Ganesha-Tempels in der Hasenheide in Berlin-Neukölln ertönt von Weitem indische Musik. Es ist November, am Abend des vorletzten Tages von Nauratri, dem neun Tage dauernden Fest für die Göttin Durga. Wer der Musik folgend das dunkle Wiesengelände überquert hat und in das Innere einer alten, schuppenähnlichen, aber als Tempelraum eingerichteten Sporthalle tritt, wird Zeuge einer ausgelassenen Feierlichkeit. Frauen und Männer tanzen lachend im Kreis. In jeder Hand ein Stöckchen haltend, klopfen sie diese gegeneinander und klatschen im Takt dazu. Dabei drehen sie sich um sich selbst, gehen in die Knie und improvisieren verschiedene Bewegungen. Es sind Hindus, die aus dem westindischen Staat Gutjerat stammen. Sie tanzen den Garbha-Tanz, einen gutjeratischen Tanz für die Götter, der heute der Göttin Durga gilt. Deren Bild steht links vom Eingang auf einem kleinen Altar, davor stehen gekochtes Essen und kleine Lämpchen. Auf der rechten Seite des Eingangs befindet sich ein großer Schrein für den elefantenköpfigen Gott Ganesha. Hier bereiten inzwischen der Priester und einige indische Frauen alles für die nun folgende Puja-Zeremonie vor. Pünktlich um 18 Uhr wird die Glocke an der Decke des provisorischen Tempelraumes geläutet. Der hier fungierende Priester beginnt mit der Mantren-Rezitation, während er eine Arati-Lampe vor der Ganesha-Figur aus Stein schwenkt. Weiterhin kreist er Räucherstäbchen vor der Statue, besprengt sie mit Wasser und wirft Blüten hinein.

Es kommen immer mehr indische Besucher und nehmen auf den Teppichen vor dem Schrein Platz. In den vorderen zwei Reihen sitzen Hindus, die aus den südindischen Provinzen Kerala und Tamil Nadu stammen. Dahinter hat sich eine Gruppe von 30 bis 40 afghanischen Hindus versammelt. Es fällt auf, dass diese sich nach dem Eintreten vor den installierten Götterfiguren niederwerfen, ihnen gekochtes Essen hinstellen und sich bei der Begrüßung gegenseitig umarmen. Von den übrigen Hindus unterscheiden sie sich auch rein äußerlich dadurch, dass die meisten Frauen einen Schal und einige Männer eine Kappe oder ein verknotetes Tuch auf dem Kopf tragen. In den letzten zwei Reihen stehen die gutjeratischen Hindus, die heute auch die Organisatoren des Tempelfestes sind.

Nach der Puja erfolgt die traditionelle Arati-Zeremonie, bei der der Priester mit einem Tablett durch die Reihen der anwesenden Besucher geht. Auf dem Tablett befinden sich die gelbe Sandelholzpaste Turmeric, rotes Kumkum-Pulver, hier genannt Sindur, und eine mit Butterghee gespeiste Arati-Lampe. Nachdem alle Gläubigen die Flamme mit ihren Fingerspitzen kurz berührt und sich etwas Sindur und Turmeric an die Stirn getupft haben, versammeln sie sich um den Altar der Göttin Durga. Während nun nacheinander immer zwei Hindus das Tablett mit der Arati-Flamme vor der Göttin kreisen lassen, singt die anwesende Hindugemeinde das traditionelle Arati-Lied „Om Jai Jagadisha Hare“ (sanskrit, „Ehre sei dir, Herr des Universums“). Am Ende setzen sich alle zum indischen Essen zusammen.

Die indische Hindugemeinde

In Berlin sind 3018 Bürger aus Indien registriert.6 Die Mehrheit der Inder, die in Deutschland leben, ließ sich in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren hier nieder. Es handelte sich dabei überwiegend um Studenten, Praktikanten und Akademiker aus verschiedenen Bundesstaaten Indiens. Die sprachlich größten Gruppen bildeten Punjabis, Keralesen, Bengalen, Tamilen und Gutjeratis. Als Ärzte, Wissenschaftler und Geschäftsleute übten und üben sie bis heute im Wesentlichen typische deutsche Mittelschichtberufe aus. Die Mehrheit von ihnen gehört dem Hinduismus an, es gibt außerdem Muslime und Sikhs sowie wenige Buddhisten, Christen, Jainas und Parsen.

Die religiösen Richtungen innerhalb des Hinduismus differieren allerdings sehr stark. Selbst in Berlin gibt es neben den verschiedenen regionalen Gruppen auch noch Shivaiten, Vishnuiten, Durga- und Kali-Verehrer sowie zahlreiche Hindus, in deren religiösem Zentrum lokale Gottheiten Indiens stehen. Je nach Herkunft und Sprache schlossen sie sich in den 1970er und 1980er Jahren zu verschiedenen Vereinen zusammen, die vor allem dazu dienten, regionale Feste auszurichten und soziale Hilfe zu leisten. So bildeten sich unter anderem das Tamilische Kulturzentrum, das Bengalische Durga-Puja-Komitee, das Südindische Indian Unity-Center, ein Gutjerati-Verein sowie ein Verein von Mitgliedern aus Andhra Pradesh.

Während die sri-lankische Hindugemeinde seit 1991 einen festen Kultort besaß, war es für indische Hindus in Berlin üblich, dass sie sich in indischen Kulturinstitutionen, gemieteten Fabrikhallen oder Kirchenräumen trafen, um wenigstens ihre Feste nach hinduistischer Tradition zu feiern. Manche Inder führten auch Zeremonien in ihren Wohnungen durch und ließen andere indische Hindus daran teilhaben.

Unzufrieden mit dieser temporären Kultsituation setzten sich 2003 erstmalig verschiedene indische Hindus zusammen und planten unter der Leitung des damaligen Tamilischen Kulturzentrums, einen Tempel für Hindugötter zu bauen. Man einigte sich darauf, diesen Tempel dem elefantenköpfigen Gott Ganesha zu weihen. Die Initiatoren gründeten den Verein „Sri Ganesha Hindu Tempel e. V.“. Das Bezirks­amt Neukölln verpachtete dem Verein ein 1300 Quadratmeter großes Grundstück im Volkspark Hasenheide am Ausgang zum Hermannplatz. Zur Fußballweltmeisterschaft im Sommer 2006 sollte hier der erste repräsentative Hindu-Tempel Berlins stehen, auf dem Gelände, auf dem 1811 Turnvater Jahn den ersten Freiluftsportplatz errichtet hatte. Die noch stehende baufällige Holzturnhalle sollte abgerissen und an deren Stelle ein hinduistisches Gotteshaus im Wert von 1,5 Millionen Euro gesetzt werden. Auf verschiedenen indischen Festen und Veranstaltungen, gern auch in Anwesenheit des Neuköllner Bürgermeisters Heinz Buschkowsky und des damaligen Berliner Integrationsbeauftragten Günter Piening, wurde um Spenden für die geplante Götterresidenz geworben.

Als besondere Puja sei hier die Bhumi Puja, die Grundsteinlegung, genannt, die im September 2005 auf dem Boden der Hasenheide stattfand. Weiße Ziegelsteine aus Beton wurden zeremoniell geweiht und den Gästen symbolisch zum Verkauf angeboten. Diese konnten dann ihre Spenden dafür abliefern.

Leider reicht das gespendete Geld bis heute nicht, um das geplante Bauvorhaben in die Tat umzusetzen. Die baufällige Turnhalle steht immer noch, aber sie wurde zu einem Tempelraum umfunktioniert. Von einem Teil des gespendeten Geldes ließ der Tempelverein Schreine und verschiedene Götter in der Halle installieren, Teppiche auslegen und Stühle und Tische hineinstellen. Es wurde eine regelmäßige Puja-Veranstaltung eingeführt, sodass sich aus der vorher temporären Ritualsituation ein konstanter ritueller Kultort entwickeln konnte, der heute vor allem von südindischen und afghanischen Hindus, aber auch von Bengalen und Gutjeratis genutzt wird.

Zu den regelmäßigen Puja-Zeremonien erscheinen seit 2012 auch Hindus aus Afghanistan. Sie gehören zur religiösen Minderheit, die sich überwiegend in Hamburg, Essen und Frankfurt am Main zu Gemeinden zusammenschlossen. Unter den Afghanen, die in den 1990er Jahren aufgrund der Regierungsübernahme der Taliban aus ihrem Heimatland nach Deutschland geflohen sind, befanden sich auch Hindufamilien. Eine erste Gemeinschaft etablierte sich 1991 in Hamburg unter dem Namen „Afghan-Hindu-Verein e. V.“. In Berlin bilden die afghanischen Hindus innerhalb der Hindu-Gemeinde, die sich im provisorischen Ganesha-Tempel zusammenfindet, eine eigene ethnische, sprachliche und traditionell-hinduistische Gruppe. Ihre Kommunikationssprache ist Dari.7

Von einer temporären Kultsituation zu einem ständigen Provisorium

Seit 2008 steht dieser provisorische Sporthallentempel in der Hasenheide. In der schuppenähnlichen Tempelhalle befinden sich mittlerweile so viele Götter und Teppiche, dass eine richtige Tempelatmosphäre herrscht. Im Winter wird der gesamte Raum mit Heizstrahlern erwärmt. Der Hauptschrein besteht aus reich verziertem Holz mit einer Ganesha-Figur aus Stein darin. An der dem Eingang gegenüberliegenden Wand wurde eine Sammlung von verschiedenen weißen Götterstatuen aus Marmor aufgereiht. Darunter befinden sich Shiva, Ganesha, Krishna und Radha, Hanuman und Durga. Vor jeder Gottheit hängt ein kleiner Baldachin. An der linken Wand sind Stühle und Tische aufstellt, auf denen die Besucher sich nach der Puja zum Essen zusammenfinden. In einem Nebenraum hinter dem Ganesha-Schrein befindet sich eine kleine „Tempelküche“, in der auch die Puja-Vorbereitungen getroffen werden.

Traf sich die indische Gemeinde bisher nur zu Festen in gemieteten Räumen, dem indischen Museum oder in eigenen Kulturinstitutionen, hat sich jetzt in dem provisorischen Sporthallen-Tempel die Möglichkeit eröffnet, die Götter täglich zu versorgen. So ist das Gelände von Montag bis Sonntag von 17 bis 19 Uhr geöffnet, und es findet jeden Abend um 18 Uhr eine Puja statt. Diese wird abwechselnd von zwei ritualkundigen Männern aus Südindien zelebriert, die aber im Unterschied zu den tamilischen Priestern im Murugan-Tempel von ihrer Herkunft her keine Brahmanen sind. Die meisten Besucher erscheinen am Samstagnachmittag, darunter auch einige Deutsche.

Die hier stattfindende Puja beginnt im reich verzierten Holzschrein für den Gott Ganesha. Anschließend wandert der Priester zu den anderen Göttern und bringt auch ihnen nach oben beschriebenem Ritus die Opfergaben von Licht, Räucherstäbchen, Blumen und Wasser in Begleitung von Sanskrit-Mantren dar. Die rituelle Verehrung der Götter endet mit der Arati-Zeremonie, bei der die Besucher die Flammen des Lichtes berühren und zu ihrer Stirn führen. Die Gemeinde singt auch Hymnen für die Götter, sogenannte Bhajans, meist in Hindi oder Malayalam. Gleichfalls können jetzt die großen jahreszeitlichen Hindufeste wie Ram Navami, Baisakhi, Raksha Bandhan, Krishna Janmastami, Ganesha Chaturthi, Durga Puja, Divali, Pongal und Shiva­ratri gefeiert werden. Für individuelle Feste und Rituale, z. B. eine Hochzeit, steht der provisorische Tempelraum ebenfalls zur Verfügung.

Mit der gemeinsamen Planung des neuen Ganesha-Hindu-Tempels, der der zweitgrößte Deutschlands, wenn nicht gar Europas werden sollte, sind die verschiedenen indischen Vereine auf zahlreiche unterschiedliche religiöse, bautechnische und finanzielle Vorstellungen und damit auch an ihre Grenzen gestoßen, sodass auf dem gepachteten Gelände außer einigen Grundsteinen und einem Ganesha-Plakat kaum etwas auf das geplante Projekt hinweist. Andererseits führte die Projektplanung zu einem Resultat, das eine völlig neue Situation für die indischen Hindus in Berlin darstellt: Durch die Innenausstattung der Sporthalle mit indischen Göttern sind sich die verschiedenen indischen „Festvereine“ nähergekommen. Der „neue“ Kultraum wird nun von sprachlich, religiös und ethnisch divergierenden Gruppen aufgesucht, die aus verschiedenen Bundesstaaten Indiens stammen. Man hat jetzt – wenn auch längst nicht so, wie es geplant war – einen festen Ort, an dem die Götter weilen, an dem man regelmäßig einer Götterzeremonie beiwohnen und sich zu religiösen Festen treffen kann.

Zur gegenwärtigen Situation der Berliner Hindus

Sri-lankische und indische Hindus stammen aus geografisch sehr eng beieinanderliegenden Heimatländern, in denen die hinduistische Tradition fest verwurzelt ist und auf deren Boden sich die Mythologien der Götter abspielen. In Berlin gibt es mittlerweile zwei konstante Kultorte, an denen sich ethnische Hindus zu den Ritualhandlungen treffen, zum einen den Tempel für den Gott Murugan in der Blaschkoallee und zum andern den „provisorischen“ Tempel für dessen Bruder Ganesha in der Hasenheide. Während die sri-lankische Hindugemeinde ihr Bauvorhaben, angefangen von der ersten Spendensammlung bis zur Eröffnung des Tempels, innerhalb von sechs Jahren umsetzte, konnten die Baupläne der indischen Hindugemeinde bis auf die Grundsteinlegung bis jetzt nicht realisiert werden.

Auch in Deutschland insgesamt sind es bis jetzt sri-lankische Hindus gewesen, die feste Residenzen für ihre Götter errichtet haben, an denen Kultinitiatoren angestellt sind und eine ständige Verehrung der Götter nach hinduistischer Tradition erfolgt. Das mag unter anderem daran liegen, dass sri-lankische Hindus, die als Flüchtlinge hier leben und deren Rückkehr nach Sri Lanka nicht gewährleistet ist, viel stärker als indische Hindus darum bemüht sind, ihre Traditionen in der Fremde so weiterzuführen wie im Heimatland. Zum anderen stellen sie als Tamil sprechende und meist shivaitisch orientierte Gruppe ethnisch und religiös gesehen eher eine Einheit dar. Unter indischen Hindus, bei denen es sich um ethnisch, sprachlich und religiös divergierende Gruppen handelt, die freiwillig nach Deutschland migriert sind, bestand das Bedürfnis nach einer festen religiösen Anlaufstelle lange nicht in der Intensität wie bei sri-lankischen Hindus, da sie ja stete Kontakte zum Heimatland Indien pflegen und dort auch ihre Rituale durchführen lassen.8 Deshalb war es bei der Planung eines gemeinsamen Ganesha-Tempels dann auch schwierig, die religiösen, bautechnischen und finanziellen Vorstellungen auf einen Nenner zu bringen. Jetzt führte die gemeinsame Planung zu einer gemeinsamen Bestückung der alten Sporthalle mit Götterschreinen und damit auch zu einer gemeinsamen Nutzung eines Raumes.

Eine Zusammenarbeit zwischen den Initia­toren beider Tempelvereine findet so gut wie nicht statt. Lediglich zur Bhumi Puja 2005 wurden die hauptamtlichen Priester aus dem damaligen Murugan-Tempel in der Urbanstraße in die Hasenheide gebeten, um die besonderen Zeremonien der Grundsteinlegung zu zelebrieren, da nach hinduistischer Tradition eigentlich nur Brahmanen diese Rituale durchführen dürfen. Jedoch kommen auch indischstämmige Hindus, vor allem Studenten, zum Beten in den sri-lankischen Murugan-Tempel.

Die Geschichte von der Weltumrundung der Götter Murugan und Ganesha hat in der tamilischen Tradition eine Fortsetzung: Als Murugan nach Hause kam und sah, dass Ganesha für seine Idee belohnt wurde, war er so zornig, dass er sich vor Wut an den Fuß des Berges Shivagiri im südindischen Tamil Nadu zurückzog. Da machten sich seine Eltern Shiva und Parvati auf, um ihn zu suchen, und sein Vater beschwichtigte ihn mit den Worten: „Die Frucht bist du“ (Tamil: Palam-ni). Nach diesem Satz wurde das Dorf Palani benannt, das sich am legendären Rückzugsort Murugans befindet.

Beim Umkreisen des Universums war Ganesha schneller und erhielt die Frucht. Als es um den Bau ihrer Tempel in Berlin ging, schaffte es dieses Mal Murugan, zuerst am Ziel zu sein. Es bleibt zu hoffen, dass die Planung eines Tempels für Ganesha auch noch eine architektonische Fortsetzung erfährt. Andernfalls blieben die innere Verwandlung eines Holzschuppens in eine Tempelhalle für Hindugötter und damit der Übergang von einer temporären zu einer konstanten Kultsituation für indische Hindus die Frucht vielfältiger hindu-religiöser und bautechnischer Ideen.


Liane Wobbe


Anmerkungen

  1. Pujas werden in vielfältigen Formen und zu vielerlei Anlässen durchgeführt.
  2. Bei der Einweihung eines Hindutempels ist es notwendig, mindestens 32 Kumbha-Töpfe mit geweihtem Wasser rituell einzusetzen.
  3. Landesamt für Statistik, Stand 2013.
  4. Der Hinduismus wird in drei große Hauptströmungen unterteilt: 1. Shivaismus, in dessen Zentrum der Gott Shiva sowie die Verehrung von Göttern der Familie Shivas stehen. 2. Vishnuismus, in dem es um die Verehrung des Gottes Vishnu geht, und 3. Shaktismus, in dem eine Göttin, z. B. Durga oder Kali, im Zentrum der Frömmigkeit steht. Zu den Kennzeichen shivaitischer Tradition gehört, dass die Priester waagerechte Aschestreifen auf der Stirn tragen und Rituale aus dem rituellen Werk des Shiva Agama anwenden. Murugan und Ganesha gelten in der Mythologie als Söhne Shivas.
  5. Zur Eröffnung des Tempels siehe auch Friedmann Eißler, Hindu-Tempel in Berlin, in: MD 11/2013, 427.
  6. Landesamt für Statistik, Stand 2013.
  7. Zur Situation afghanischer Hindus in Afghanistan und Deutschland ist folgendes Buch sehr empfehlenswert: Ischer Dass, Die Gefährten Afghanistans, Frankfurt a. M./London 2003.
  8. Zur Kultsituation sri-lankischer und indischer Hindus in Berlin (bis 2007) siehe auch Liane Wobbe, Hindus in der Diaspora. Studien zur Traditionsveränderung von Hindus aus Sri Lanka, Indien und Afghanistan in Deutschland, Dissertation, Freie Universität Berlin 2007.