Corinna Dahlgrün

Der Weg zu Gott - Programm oder Beziehung?

Auf dem diesjährigen Hamburger Kirchentag fand eine Veranstaltung zum christlichen Glaubensweg und zur Entwicklung der Gottesbeziehung statt (Werkstatt Weltanschauungen, vgl. MD 7/2013, 255ff). Zunächst stellte Marion Küstenmacher das Modell „Gott 9.0“ vor, das in Anlehnung an ein evolutionäres Modell Transpersonaler Psychologie neun Stufen der Gotteswahrnehmung unterscheidet (siehe dazu die ausführliche Kritik von Friedemann vom Dahl im Deutschen Pfarrerblatt 5/2013). Die Jenaer Praktische Theologin Corinna Dahlgrün sprach im Anschluss an die Vorstellung von „Gott 9.0“ über Erfahrungen und Erfordernisse auf dem Weg zu Gott, der mit dem Begriff der „Heiligung“ umschrieben wird. Ihren Vortrag dokumentieren wir hier.

 

Der Weg zu Gott – Programm oder Beziehung?

Wie sich das für eine Theologieprofessorin ja nahelegt, bin ich einen anderen Weg gegangen als Marion Küstenmacher. Nachdem ich aufgefordert worden war, ein Studienbuch zu „christlicher Spiritualität“ zu schreiben, habe ich erst einmal viele Jahre lang geistliche Texte des Christentums aus allen Jahrhunderten gelesen. Dabei sind mir ein paar Dinge für den Weg der Nachfolge Christi deutlich geworden, die folgende Themen betreffen: 1. die Grundlagen des geistlichen Lebens, 2. die Notwendigkeit von Begleitung, 3. verschiedene Wege der Gottsuche, 4. die Tugend der Regelmäßigkeit, 5. Fortschritte auf dem Weg.

1. Das Dreieck und die Balance

Der Mensch ist auf Gott hin geschaffen, und er ist in die Welt gestellt. Er steht damit in Beziehungen: zu Gott (ob er das weiß und will oder nicht), zu sich selbst und zur Welt und zu anderen Menschen. Diese verschiedenen Beziehungen sind nach dem Willen Gottes Liebesbeziehungen. Das sagt Jesus sehr klar im sogenannten Doppelgebot der Liebe: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Das Gebot konstituiert also ein Dreieck, in dem jeder Mensch steht, ein Dreieck aus Gott, dem Nächsten (das ist der, der mich braucht und dem ich zum Nächsten werde, nicht indem ich ihn mag, sondern indem ich für ihn da bin, wenn es nötig ist) und dem Ich („wie dich selbst“). Dieses Dreieck steht in der Welt, wird von ihr beeinflusst, und meine Handlungen beeinflussen wiederum die Welt, jedenfalls ein bisschen. Die Schwierigkeit liegt nun darin, alle Eckpunkte dieses Dreiecks im Gleichgewicht zu halten, die Liebe in Bezug auf alle Punkte durchzuhalten.

Die Wahrung der Balance erfordert, mit einem aussagekräftigen mittelhochdeutschen Begriff gesagt, die Tugend der mâze, ein Gespür für und ein Wissen um das richtige Maß in allem, was wir tun. Das bedeutet keinesfalls eine langweilig gleichförmige Lebensführung ohne Höhen und Tiefen, es gibt ein Auf und Ab, wie in jeder Liebe, so auch in der Liebe zu Gott oder mir selbst. Das ist völlig in Ordnung so. Aber es heißt zugleich, dass die Balance nicht dauerhaft zu erreichen ist, es gibt allenfalls ein instabiles Gleichgewicht. Immer neu ist Aufmerksamkeit nötig – und Bemühen. Das ist möglich, denn wir wissen um die Chance des Neubeginns, die in der Vergebung liegt. Ich muss eben zuweilen auf meine Beziehungen schauen, um mögliche Fehlentwicklungen zu korrigieren und neu zu ergänzen, was aus dem Blick geraten ist. Das kann ich aber in aller Regel nicht allein.

2. Das Erfordernis einer geistlichen Begleitung

Menschen, die geistlich leben wollen, brauchen regelmäßig geistlichen Rat, eine geistliche Führung, das ist von den Autoren geistlicher Literatur zu allen Zeiten betont worden. Ich finde das unmittelbar einleuchtend, denn die Unterscheidung der Geister, die discretio, ist oft schwierig, wenn es um meine eigenen Wahrnehmungen und Gefühle geht, um meine Gedanken und Entscheidungen. Hier brauche ich einen Blick, eine Stimme von außen, den Rat eines Menschen, der meine Seele kennt und zu dem ich so viel Vertrauen habe, dass ich völlig offen sein kann. Ich brauche jemanden, der in Zweifelsfällen raten kann und dem ich so weit vertraue, dass ich der Weisung zu folgen bereit bin, nicht blind, sondern in nachdenklichem, selbstverantwortetem Gehorsam. Noch wichtiger und schwerer: Ich muss mir notfalls auch seine Zurechtweisung gefallen lassen.

Unverzichtbar für einen solchen Ratgeber sind die Gabe der Unterscheidung der Geister, eine eigene geistliche Praxis, vor allem das Gebet, und Erfahrenheit in geistlicher Führung. Weiterhin ist Menschenkenntnis erforderlich, die meine Möglichkeiten und Grenzen einzuschätzen in der Lage ist, die Fähigkeit, eigene Interessen außer Acht zu lassen, und der Mut, mir auch Unerfreuliches zu sagen. Franz von Sales fasst in der „Philothea“ zusammen: „Er soll voll Liebe, Wissenschaft und Klugheit sein. Fehlt eine dieser Eigenschaften, so bist du in Gefahr.“ Wichtig ist dann noch, dass es verschiedene Wege geistlichen Lebens gibt und dass es von der Person des Ratsuchenden abhängt, auf welchen er im Zweifelsfall gewiesen werden sollte.

3. Es gibt verschiedene Wege der Gottsuche

Die verschiedenen Weisen, Gott nahekommen zu wollen, die ich in der Literatur gefunden habe, haben biblische Vorbilder, die ich jetzt nicht im Einzelnen aufführe. Ich nenne nur die sechs Wege mit ein, zwei Beispielen. Dem Weg geht sehr oft etwas voraus, das ich vorsichtig als „Gotteserfahrung“ bezeichnen möchte. Um dieser Erfahrung zu entsprechen, um Gott wieder zu begegnen oder ihm näherzukommen, machen sich Menschen auf einen geistlichen Weg.

1. Weg: Manche suchen Gott in der Einsamkeit, wie die Wüstenväter oder im 20. Jahrhundert der Trappist Thomas Merton. Der Gedanke dahinter ist, dass es wahres Leben nur in der Nähe Gottes geben kann und dass diese Nähe nur realisierbar ist in Abkehr von den Zerstreuungen der Welt und von einem Leben, das um das eigene Ich kreist. Der Weg aus der Welt heraus bedeutet Trennungen, sicher auch Opfer, doch werden diese gern gebracht, sogar als glückhaft erlebt, weil sie näher zu Gott führen. Die Gefahr dabei ist natürlich, den Nächsten und die Welt zu vergessen, vielleicht auch sich selbst.

2. Weg: Manche suchen Gott im Anderen, besonders im leidenden Anderen, wie Elisabeth von Thüringen oder Mutter Teresa. Gott wird als leidender, bedürftiger Christus im leidenden, bedürftigen Menschen gesehen, und die Zuwendung zu ihm bringt größte Nähe zu Gott. Die Zuwendung wird gewährt um Christi willen, wobei der konkrete Mensch, der sie braucht, unsichtbar werden kann. Eine weitere Gefahr ist die Vernachlässigung der Selbstliebe, aber auch Gott kann hinter dem leidenden Mitmenschen verschwinden.

3. Weg: Manche suchen Gott in der Gemeinschaft, wie Benedikt von Nursia, und finden ihn im Leib Christi, in der Gemeinschaft der Glaubenden. So sehr jeder einzelne Mensch für sein Tun, für seinen Glauben, für seine Hoffnung verantwortlich ist – das beginnende Gottesreich auf dieser Welt kann er nicht für sich allein finden, dazu braucht er die Brüder, die Schwestern, die gemeinsame Arbeit, das gemeinsame Beten, den gemeinsamen Gottesdienst. Die Gefahr dieses Weges ist jedoch, im Falle der Absolutsetzung, dass das eigene Ich ebenso vergessen werden kann wie schließlich auch Gott.

4. Weg: Manche suchen Gott in sich selbst, denn sie vertrauen darauf, dass der Mensch durch die Heiligung Gott ähnlicher werden kann, wieder so werden kann, wie er gemeint ist, Gottes Ebenbild. Viele Mystiker sind diesen Weg gegangen, vor allem aber viele Christen im östlichen Christentum. Dort heißt das „Theosis“, Vergottung, Gott-Werdung. Dass dabei der Nächste nicht immer gesehen wird, ist die naheliegende Gefahr.

5. Weg: Manche suchen Gott in der Dunkelheit, vergebens. Die „dunkle Nacht“ des Johannes vom Kreuz ist hier zu nennen, auch nochmals Mutter Teresa. Gott erscheint verborgen oder abwesend, schweigend und unerreichbar. Die Gottferne ist quälend, denn der Mensch spürt in einer solchen Zeit, wie sehr er von der Gottesbeziehung, der wahrgenommenen Liebe Gottes lebt. Ob Gott tatsächlich als abwesend oder verborgen auszusagen ist, ist eine Frage der theologischen Perspektive. Menschen auf diesem Weg stehen in der Gefahr, Gott aufzugeben. Dagegen hilft nur, ein „trotzdem“ zu leben, gegen Gott an Gott festzuhalten.

6. Weg: Manche suchen Gott im Alltag, und hier sind vor allem evangelische Christen zu nennen, etwa Martin Luther. Indem ich mein Leben bewusst vor Gott lebe, bin ich mit Gott auf dem Weg, solange nicht der Alltag stärker wird und ich Gott darüber vergesse.

Ich sehe die Wege nicht in Konkurrenz, keiner ist richtiger als die anderen, und ich muss auch nicht ein Leben lang auf einem einzigen Weg gehen. Wichtig ist, mindestens eine Zeit lang dem gewählten Weg treu zu sein, den Weg aktiv zu gehen – und mit Regelmäßigkeit.

4. Das Erfordernis der Regelmäßigkeit

Einmal ganz von der biblischen Weisung, ohne Unterlass zu beten, abgesehen: Ich brauche Regelmäßigkeit auf meinem geistlichen Weg, regelmäßige Gespräche mit anderen, regelmäßiges Lesen der Bibel, vor allem das regelmäßige Gebet. Das ist ein Einüben der Aufmerksamkeit, ein Offenhalten meines Herzens auf Gott hin. Und es ist ein Weg, mir einen Anker zu bilden, der mich in stürmischen Zeiten hält und auf den ich mich verlassen kann, eben weil er eingeübt, weil er mir in Fleisch und Blut übergegangen ist. Außerdem finde ich: Wovon man täglich lebt, das kann, das darf, vielleicht sogar: das soll man täglich feiern.

5. Fortschritt auf dem Weg?

Die christliche – auch die protestantische – Tradition spricht, wenn sie den geistlichen Weg meint, gern von Heiligung. Diese Heiligung ist ein Prozess, der mit der Rechtfertigung beginnt, er ist unsere Antwort auf die Rechtfertigung. Man könnte das auch umschreiben, aber da es die Sprache der Bibel ist, verwende ich dieses Wort. Christus ist dem Menschen von Gott gemacht „zur Weisheit und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung“ (1. Kor 1,30). Aus der Gabe folgt eine Aufgabe: „Das ist der Wille Gottes, eure Heiligung“ (1. Thess 4,3).

Die Praxis der Heiligung bemüht sich also um eine Annäherung an Gott und um ein Leben, das der Gnade der Rechtfertigung entspricht. Ob es dabei einen Fortschritt hinsichtlich eines erreichten Grades der Heiligung geben kann, ist nicht leicht zu entscheiden, denn es ist immer auch eine Frage des Menschenbildes: Ist der Mensch immer gleichbleibend Sünder (so Augustinus), oder vermag er sich, als „neue Kreatur“ infolge der Taufe und durch die Hilfe des Heiligen Geistes, dem Urbild, der Gottebenbildlichkeit, anzunähern (so die Tradition des christlichen Ostens)? Wie auch immer: Mit allem Bemühen können sich Menschen das Heil, das Heil-Werden nicht verdienen. Und durch keine noch so große Anstrengung können sie sich selbst zu Heiligen machen. Heiligung ist Geschenk. Meine Erfahrung mit mir selbst und vielen anderen, die ich geistlich begleite, ist außerdem: Fortschritte sind zerbrechlich. Die Anfechtung der „dunklen Nacht“ kann das Erreichte zunichte machen, genauso die eigene Bequemlichkeit oder ein Sich-Verlieren an den Alltag. Allerdings ist es uns dann möglich, wieder von Neuem zu beginnen mit unserem Bemühen, an jedem Tag, in jedem Moment – und notfalls immer wieder mal bei null.

Wir bekommen keine Sicherheit, höchstens Gewissheit. Das heißt aber: Auch unser Bemühen um Heiligung muss auf Sicherheit verzichten, auf den Versuch, durch das eigene Tun den Boden unter den Füßen fester zu machen. Heiligung ist immer zugleich die Übung, jeden Tag neu in der Haltung der Lilien auf dem Feld zu leben und von Gott alles zu erwarten.


Corinna Dahlgrün, Jena