Andreas Fincke

Der verlängerte Arm einer herrschenden Partei - Vor 15 Jahren wurden die DDR-Freidenker gegründet

Am 7. Juni 1989 wurde von 400 Delegierten in Berlin-Ost am Sitz der Akademie der Künste der "Verband der Freidenker" gegründet. Feierlich war die Stimmung, zumal man unter sich blieb: Der Zugang war nur mit speziellen Ausweisen möglich; ausländische Gäste und Pressevertreter hatte man vorsichtshalber nicht eingeladen. Bereits ein halbes Jahr zuvor war die Aufregung (für DDR-Verhältnisse) groß, als das "Neue Deutschland" am 14./15. Januar 1989 die Öffentlichkeit in der DDR mit der Mitteilung überraschte, dass sich ein Arbeitsausschuss zur Gründung eines solchen Verbandes konstituiert habe. Dem Ausschuss gehörten 43 mehr oder weniger bekannte Persönlichkeiten an, fast alle Mitglieder der SED, überwiegend Professoren und bis auf zwei Ausnahmen - alles Männer. Offiziell wurde die Initiative mit dem Ziel begründet, "die wissenschaftliche, dialektisch-materialistische Weltanschauung unter der Bevölkerung zu verbreiten und alle zu erreichen, die sich um die Klärung philosophischer, weltanschaulicher und ethischer Fragen von einer nichtreligiösen Position aus bemühen". Es sollte jedoch der Eindruck vermieden werden, es handele sich um eine antikirchliche Initiative - was allerdings faktisch der Fall war.

Die wache Volksmeinung vermutete schon damals, was sich nach der "Wende" bestätigte: Die Gründung der DDR-Freidenker war vom Ministerium für Staatssicherheit angeregt und im SED-Politbüro vorbereitet worden. Die Freidenker sollten das sich in den Kirchen sammelnde Protestpotential zügeln, als scheinbar unverfängliche organisatorische Alternative für Andersdenkende auftreten und Defizite in der sozialen Arbeit ausgleichen. Als ein Vierteljahr nach jener Gründung Hunderttausende in der DDR auf die Straßen gingen und in den Kirchen ein politischer Umbruch ungekannten Ausmaßes vorbereitet wurde, schwiegen die DDR-Freidenker.

Heute ist der (gesamtdeutsche) Deutsche Freidenker-Verband in politischer Hinsicht praktisch einflusslos. In der Sache fordern die Freidenker, was schon immer zu ihren klassischen Positionen gehörte: die entschiedene Trennung von Staat und Kirche, d.h. die Abschaffung des Religionsunterrichts, des Einzugs der Kirchensteuer durch die Finanzämter, die Abschaffung der Theologischen Fakultäten usw.

Bundesweit haben die Freidenker heute etwa 3000 Mitglieder bei einer extrem überalterten Mitgliederstruktur. Anfang des 21. Jahrhunderts sind die Freidenker in Deutschland in eine paradoxe Situation geraten. Nachdem sie jahrzehntelang mit freudiger Zustimmung die wachsende Säkularisierung beobachtet haben, drohen sie jetzt am Bedeutungsrückgang der Kirchen selbst zu scheitern. Nirgends sind sie so schwach wie da, wo auch die Kirchen schwach sind.

Genau vier Jahre, nachdem jener erwähnte Gründungsaufruf in den DDR-Zeitungen publiziert wurde, versammelten sich die Freidenker im nunmehr wiedervereinigten Berlin erneut. Diesmal jedoch mit dem Ziel, eine Organisation zu schaffen, die die Lethargie der traditionellen Freidenker überwinden sollte: Am 14. Januar 1993 wurde der Humanistische Verband Deutschlands (HVD) gegründet. Der HVD hat zwar bundesweit nur etwa 10 000 Mitglieder, er entwickelt jedoch in einigen Regionen eine recht beachtliche Arbeit - gerade im sozialen Bereich. Er fordert nicht mehr die radikale Trennung von Staat und Kirche (bzw. Weltanschauung), sondern reklamiert die finanzielle Unterstützung auch für sich. In Berlin unterhält der HVD inzwischen zahlreiche soziale Einrichtungen. In absehbarer Zeit soll (analog zur kirchlichen Seelsorge) in der Bundeswehr eine Art "humanistische Beratung" aufgebaut werden. Wenn nötig, wird der HVD sein Anliegen beim Bundesverfassungsgericht vortragen. An diesem Paradigmenwechsel wird deutlich: Die im HVD versammelten "neuen" Freidenker haben sich weit von den klassischen freidenkerischen Positionen entfernt. Politisch geschickt könnte dieser zeitgemäße Pragmatismus dennoch sein. Allemal pfiffiger als die SED-geleitete Gründung der DDR-Freidenker. Die hat den Untergang der DDR nicht aufhalten können - und war begleitet von seltsamen Koinzidenzien: Vier Tage nach der Gründung der DDR-Freidenker besuchte Erich Honecker den neu aufgebauten Greifswalder Dom. Zufall? Absicht? Der Besuch war - bei aller Problematik - in der DDR ein Ereignis: Honecker in einer Kirche! Damals wurde im Volk diskutiert, ob der Staatsratsvorsitzende wohl getauft sei. Eine nicht ganz uninteressante Frage. Niemand konnte damals ahnen, dass - Ironie der Geschichte - Honecker wenig später notgedrungen zeitweise Aufnahme in einem Pfarrhaus fand.

Als im Jahr 2002 Margot Honecker in Chile einem Journalisten Dokumente aus Honeckers Nachlass zeigte, fand sich auch sein Mitgliedsausweis im Verband der Freidenker...

Seltsam fern muten diese Geschichten an: Am 7. März 1989 berichtet ein Offizier des Ministeriums für Staatssicherheit von einem Gespräch mit dem Geschäftsführer des Zentralausschuss' des zu gründenden Verbandes der Freidenker. Dieser trägt einige Anliegen vor und bittet sodann "um Überprüfung einer politischen Mitarbeiterin/Sekretärin ..., da diese geschieden ist und er keinerlei Kenntnisse über Umgangskreis und Freizeitverhalten" hat. Das klingt komisch und ist doch nicht zum Lachen und ist irgendwie lang her. Gott sei Dank.