Oliver Dürr

Der Himmel ist wieder offen

Über die Logik der Bedürfnisse in der neuen Engelreligion

In unserer Religionskultur sind die Engel weiter im Aufwind – und das nicht nur zur Advents- und Weihnachtszeit. Die geheimnisvollen Wesen tauchen in Film und Werbung auf und sind Thema beliebter Bücher zum Verschenken. Im Kontext moderner Esoterik erweitert sich das Angebot für Engelerfahrungen beträchtlich. Mittlerweile gibt es Veranstaltungen wie Engelkongresse und Engeltage sowie ein unüberschaubares Sortiment an spirituellen Engelratgebern und Engelkarten. Für eine weitere Popularisierung dieses Trends sorgt seit Längerem das zweimonatlich erscheinende „Engelmagazin“ mit einer Auflage von 75000 Exemplaren (vgl. MD 6/2008, 227ff). Vor kurzem hat der katholische Theologe Thomas Ruster unter dem Titel „Die neue Engelreligion. Lichtgestalten – dunkle Mächte“ (Kevelaer 2010) eine theologische Analyse zur Thematik vorgelegt (vgl. hierzu die Rezension in diesem Heft, 473ff). Sein Fazit für Theologie und Kirche lautet: „Die Engelreligion kann dem Christentum die verlorene Wirklichkeit des Himmels wieder erschließen!“ (237). Eine andere Sichtweise vertritt hingegen der evangelische Theologe Oliver Dürr, der sich in seinem Buch „Der Engel Mächte“ (Stuttgart 2009) aus systematisch-theologischer Sicht mit der Angelologie befasst hat. In seinem Beitrag geht er zunächst auf die Thesen Rusters ein, um die von diesem beschriebene Engelreligion als populäre Ausdrucksform zeitgenössischer Säkularität zu charakterisieren.


Über 200 Jahre habe es gedauert, bis sich wieder eine Sicht auf die Welt Bahn brechen konnte, die vom Dogma der Erkenntnis über Nachprüfbares und Berechenbares Abstand genommen und sich dem Himmel als Bereich der übermenschlichen Kräfte und Mächte zugewandt hat. So befindet es der katholische Sozialethiker Thomas Ruster, und er begrüßt diese Entwicklung.1 Denn sie räume mit dem unsinnigen Unterfangen der Aufklärung auf, die mythologischen und naturgeschichtlichen Zwänge solcher Mächte zu durchbrechen. Dieses Projekt der Aufklärung sei gescheitert, da es die Abhängigkeiten von ihnen eben nicht habe beseitigen können. Jene seien nunmehr in der Gestalt der alles beherrschenden Markt- und Warengesellschaft wiedergekommen. Und dieser Umstand erfordere einen religiösen Neuanfang, der den Himmel als unbestimmbaren und nicht beherrschbaren Teil der Welt neuerlich ins Spiel bringe. Gerade die Esoterik mit all ihren Spielformen tue das. Sie vermöge die Religion als Bezugsgröße zu den Zwängen der Markt- und Warenmechanismen einzufordern. Sie öffne den Himmel von Neuem, und sie bringe sich dabei als eine Engelreligion ein.2Weshalb diese Engelreligion aufkommt, kann man klar umschreiben: Die Menschen fühlen sich den Mechanismen dieser Welt schlicht ausgeliefert. Sie sind sozusagen systemisch Gefangene ihrer Umstände. Ihre Aufgabe kann daher nur sein, sich in ihnen einzurichten, sich dazu mit den Kräften, die in den sie beherrschenden Systemen den Ton angeben, zu verbünden oder die Kräfte sogar selbst zu beherrschen. Das gilt gegenüber den lichten Mächten genauso wie gegenüber den dunklen. Geisterkultadaptionen, neue Naturreligiosität, aber auch der Esoterikmarkt von Doreen Virtue3 bis Giulia Siegel4, sie alle verbindet, dass es mithilfe der guten oder bösen Engel möglich sein soll, ein besseres Leben dank eines stabileren Ich aufzubauen. Dieses Bedürfnis wiederum ist in ein Gefühl der Verbundenheit von allem und mit allem eingebettet.5In gewisser Weise gehören sogar die satanistischen Strömungen und die martialische Gothic- bzw. Metal-Szene in dieses Szenario, nur dass sie die positiven Energien vernichtet sehen und sich in ihrer Sichtweise der Faszination der Todesverfallenheit der uns beherrschenden Systeme hingeben. Das kann bis zu misanthropischen, rassistischen oder gar neofaschistischen Gruppenideologien führen, die ihre Verachtung für die Schwäche der Menschheit zu aggressiven Herrschafts- und Herrenmenschen-Modellen mutieren lassen. Thomas Ruster fasst es gut zusammen, wenn er sagt: „Die Ablehnung einer todverfallenen Kultur führt hier selbst zu Hass- und Gewaltfantasien. Oder anders: wenn man Satan als den Herrn der Welt anerkennt, gerät man unter seine Gewalt.“6

Religion der Bedürfnisse

Befriedigung der Bedürfnisse ist der Zweck der Engelreligion. Dafür soll sich der Himmel öffnen. Doreen Virtue kann ihrem Engel nachspüren, wenn sie etwa einen Parkplatz braucht oder den Schlüssel verloren hat. Sie nennt es Gottes Führung, und diese Führung hält sich rund um die Uhr bereit, das heißt, man kann sie regelrecht abrufen und benutzen, eben weil sie sich gerne anbietet. Dabei ist die Aufnahmekapazität „Gottes“ zeitlos und allumfassend. Dadurch ermöglicht gibt es im Diesseits und bis ins Jenseits hinein ein Engelversorgungssystem von Geburts-, Schutz- und Todesengeln.7 Religionsphänomenologisch gesprochen geht es darum, mithilfe religiöser Bemächtigungsstrategien des Ich die Umwelt voll und ganz zu kontrollieren, indem man die Zwischenmächte zu Verbündeten hat oder selbst auf sie okkult oder magisch Einfluss nimmt.8 So organisieren Engel sowohl die alltäglichen Dinge als auch die Selbstfindung, ja sogar einen spirituellen Kontakt zur Naturgeisterwelt und zuletzt auch den Übergang zu den letzten Dingen.9 In der Logik der Bedürfnisstruktur ausgesagt geht es darum, dass durch den Himmel all das nachgereicht wird, was man mit Geld nicht kaufen kann. So wird die Engelreligion die „perfekte Religion der modernen Waren- und Konsumwelt“.10

Religion ohne Gott

Das Besondere an der neuen Engelreligion ist, dass sie keinen Glauben an Gott braucht. Zwar redet sie auch von Gott. Und einige Engelmedien halten aus persönlicher Verbundenheit zum Christentum auch den Glauben immer noch für unverzichtbar.11 Dennoch beruft sich die Engelreligion nicht wirklich auf einen transzendent verstandenen Gott, sondern stattdessen lieber auf persönliche Erfahrungen und Wahrnehmungen von himmlischen Mächten um uns. Engel sind da, Gott nicht ohne Weiteres, da er radikal transzendent entzogen und unsichtbar ist. Man braucht für die Wahrnehmungen von Mächten demnach keine Offenbarung, die von Gott her kommt und Glauben an ihn schenkt.12 Höhere Mächte sind ausreichend erfahrbar, sogar wohl für alle13 oder wenigstens für Medien.14 Das reicht, um sich in der Welt einzurichten.Das hat zur Folge, dass die neue Engelreligion keine Offenbarungs- oder Schriftreligion ist, sondern eklektisch die gesamte Religionsgeschichte benutzt, um Kontaktstellen zu anderen Wahrnehmungsszenarien in Geschichte und Gegenwart ausfindig zu machen und um die Engelreligion polytheistisch auf größere und ältere Traditionen beziehen zu können, wodurch man den Dogmen der vorwiegend christlichen Angelologie zu entkommen hofft.15 Diese durchaus bewusst nichtchristliche Neubestimmung hat es etwa schon in anthroposophischer Lehre gegeben, jedoch war man dort noch dogmatischen Lehrgebäuden und kirchenähnlichen Organisationen verpflichtet.16 Das entfällt nun völlig. Man trifft sich in Workshops und auf Esoterikmessen. Womöglich unterscheidet sich die neue Engelreligion genau durch dieses Merkmal von den neuen religiösen Aufbrüchen des 19. Jahrhunderts. Diese haben ja bis heute kirchliche Hierarchien oder sektiererische Gemeinschaftsstrukturen, besitzen eine biblische Schriftgrundlage und Sonderoffenbarungen und verfügen über neue Schriftkanones (z. B. Jehovas Zeugen und Mormonen).17

Religion der Niedrigtranszendenz

So schön es nun sein mag, dass die neue Engelreligion den Himmel wieder ins Spiel gebracht hat und ihn so neuerlich dem Entmythologisierungsbestreben der Aufklärung entreißt, so gefährlich ist doch die Ungehemmtheit, mit der er als Projektionsfläche unserer Bedürfnisstruktur übervorteilt wird.Schon die anthropozentrischen Himmelsverständnisse und -bilder der gegenaufklärerischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts, die nochmals eine materiale Ebene des Jenseits zu verteidigen suchten, waren der Gefahr ausgesetzt, den Himmel praktisch zur Verlängerung irdischer Zustände verflachen zu lassen.18 Unlängst hat Johann Evangelist Hafner diese Theatralik auch an Emanuel Swedenborg (1688-1772) aufgezeigt, der – noch vom Pietismus geprägt und äußerst erfindungsreich – den Engeln bezüglich bürgerlicher Spießigkeit und lustvoller Übertretung derselben kaum etwas erspart hatte. Was aber besonders auffällt, sind zwei Züge der Swedenborg’schen Angelologie, die noch heute aufhorchen lassen sollten:Sie lässt zum einen den Himmel als menschlich vertraute Umgebung erscheinen, in der Transzendenz und Immanenz, Himmel und Erde, mehr und mehr verwischt werden. Beide werden anthropozentrisch überlappt und damit zu Phasen in der Lebensgeschichte von Seelen reduziert. Das erinnert doch stark an die momentane Verbindung von Seelen und Engeln in der Engelreligion, wo Menschen ungeniert Zugriff auf Engel haben und sie zu Teilen ihrer Seelengeschichte degenerieren lassen, auch wenn sich das Modell generell vom Jenseitsleben der Seelen in die immanenten Selbstfindungsprozesse verlagert zu haben scheint. Noch wichtiger erscheint jedoch Folgendes: Dadurch dass die Seelen samt den leicht dahinschwindenden Engeln den Himmel praktisch als himmlische Gesellschaft bevölkern, um sich dort selbst in wonnigem Dasein zu genügen, wird Gott entbehrlich, sodass dieser weder der Himmlischen bedarf noch die Himmlischen Gottes bedürfen. „Gott überlässt in generöser Indifferenz die himmlischen Gesellschaften ihrer gegenseitigen Selbstentwicklung. Kurz: Die Verflachung der Niedrigtranszendenz führt zur Entfernung der Hochtranszendenz.“19

Religion des „homo saecularis“

Gerade dieser letzte Punkt scheint der theologisch gewichtigste Kritikpunkt an der neuen Engelreligion zu sein. Die Hochtranszendenz (Gott) entfällt ja. Damit entwickelt sich die Niedrigtranszendenz – im unseren Falle die Gemeinschaft aus Engeln und engelbenutzenden Menschen – zu einer echten religiösen Gott-Losigkeit, die auch schon bei Swedenborg begonnen hat, nun aber in der neuen Engelreligion die letzten offenbarungstheologisch-biblischen Bezugnahmen auf den Gott des Jesus von Nazareth auflöst. Die Veränderung ist eklatant. Man könnte dies auch als eine Form des Gewohnheitsatheismus beschreiben, die anders als die aus dem Traditionsverlust entstandene Form etwa in der ehemaligen DDR sehr wohl noch mit religiösem Material „bastelt“, aber eben nicht mehr mit Offenbarungswissen operiert.20 Die religionstheoretische Annahme, dass es sich bei der Engelreligion schlicht um eine erneute „Wiederkehr der Götter“ handelt, scheint hier hinfällig zu sein. Sie arbeitet im Hintergrund anthropologisch immer noch mit der christlich an der Offenbarungstheologie orientierten These vom „homo religiosus“, der in den Himmeln dem transzendenten Gott bzw. dem durch den Glauben an ihn seit der Neuzeit umgeformten Wahrheitsbewusstsein begegnen könne.21 Die neue Engelreligion ist dagegen vielmehr ein Projekt des säkular auf Religion zugreifenden Menschen, der auf einen Gottesglauben, dem das Göttliche transzendent ist, verzichten kann. Auch ein aus diesem Glauben umgeformtes Wahrheitsbewusstsein ist ihm peripher – außer es passt ihm in den Baukasten seiner Bedürfnisstruktur. Ihm reicht es allerdings schon, dass er den „Göttern“ dieser Welt begegnet und auf sie Zugriff hat. Diese Religion will Religion des Marktes und der Bedürfnisse sein, und sie möchte sich keineswegs darin etwa durch Gebote einer Schriftreligion korrigieren lassen. In diesem Sinne ist sie säkular, und diese Unterscheidung bildet den Unterschied aus zwischen der vertrauten Annahme eines „homo religiosus“ gegenüber diesem Typ des „homo saecularis“. Beide haben einen dezidiert anderen Zugriff auf die Mächte des Himmels dieser Welt.22

Religion der Gott-Losigkeit

Man kann beim „homo saecularis“ von einem Typus sprechen, der Religion als Religion ohne Hochtranszendenz definiert. Seitens christlicher Glaubenslehre handelt es sich um ein Gott-loses Unterfangen, Religion zu praktizieren. Dabei geht es nicht mehr um systemtheoretische Unterscheidungen von vorwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Teilsystemen einer Gesellschaft, in der lebensweltliche und erkenntnisgeleitete Einschlüsse oder Ausschlüsse der Gottesfrage verlangt werden23, sondern eben überhaupt um die Aufgabe des Bezuges auf eine Hochtranszendenz selbst. Das Projekt einer Engelreligion ist in diesem Sinne säkular, man könnte auch sagen nicht theologisch. Ulrich Beck hatte dieses Projekt im Grunde erfasst, als er meinte: „Es gibt in religiösen Fragen keine Wahrheit außer der persönlichen, die man sich selbst erarbeitet.“24 Dass das nur noch wenig mit der religiösen Praxis traditioneller Religionen aller Couleur zu tun hat, ist evident. Kaum ein Buddhist wird sich als Anhänger einer „Bastelreligion“ oder als Vertreter einer „Mixtur religiöser Praktiken und Symbole“ verstehen wollen.25 Dass Beck leider diesen Typus undifferenziert verallgemeinert und religionssoziologisch als generellen Gewinn der Säkularisierung in Verfassungsstaaten auszeichnet, zeigt nur, dass auch Rechtssysteme der Bedürfnisstruktur eines solchen „Melangeregime(s) des Religiösen“ unterworfen sind.26 Reflektiert ist das hier Beschriebene wohl kaum zu nennen. Doch genau dies zeichnet nun bekanntlich den säkularen Typus aus: „Gehe und bete zu dem Gott deiner Wahl!“, so fasst es Beck zusammen; das ist die Direktive, nicht mehr das Harren auf den ewigen Gott.27 Diese Religion hat sich daran gewöhnt, ihre Einrichtung in der Welt an ihren Bedürfnissen zu orientieren. Ihre Engel und Mächte erwarten keine Scheidung von Gut und Böse durch das Eingreifen Gottes. Das Reich Gottes ist keine Option der ethischen Ausrichtung mehr. Insofern hat Beck diesen Typus dann doch wieder richtig charakterisiert: dass es ihm um Selbst-Religion gehe, in der der Mensch zugleich Glaubender und Gott ist. Und es sollte nun nicht mehr verwirren, dass auch der Soziologe sich wünscht, dass über diese individualisierte Religion hinaus eine „zweitmoderne Religiosität“ konstruiert werden müsste, die die Universalität des Monotheismus und die Toleranz der Selbst-Religion als gute Grundelemente beinhalte, jedoch die negativen Konnotationen des Gewaltpotenzials und des religiösen Analphabetentums derselben ausscheide.28 Die Frage ist nur, ob gerade ein solcher säkularer Zugriff auf Religion dem Ziel der „toleranten Anerkennung religiöser Andersheit“ wirklich nachkommt. Denn andere Religion soll ja für ein jedes Ich in seiner Selbst-Religion nicht mehr bedrohlich sein.29Doch muss nicht gerade eine Engelreligion, die auf die Beherrschung der sie beherrschenden Systeme setzt, umso mehr besorgt sein, dass ihre Bedürfnisse durch die Freiheit der Andersgläubigen beschränkt werden? Was ist, wenn Menschen, die dem traditionellen religiösen Typus entsprechen und sogar an einen offenbarten Gott glauben, daraus ethische Konsequenzen ziehen, die keineswegs ideal für Selbst-Religionen sind, sich jedoch dem Bemühen um die Überwindung des Bösen durch Frieden und Gerechtigkeit widmen? Was ist, wenn der Zugriff auf Marktmechanismen dadurch restriktiv behandelt wird? Setzt dort unwillkürlich die Rationalität ein? Was bindet sie dann? Wovon ließe sie sich denn leiten?

Religion der Überforderung

Das eben Gesagte bleibt aber auch in anderer Hinsicht nicht ohne Folgen. Denn von nun an muss das ganze Modell einer neuen Engelreligion die Herrschaft über die Mächte dieser Welt selbst aufrechterhalten, ohne auf die Herrschaft Gottes Rückgriff nehmen zu können. Die Erlösungsgewissheit des christlichen Glaubens in Kreuz und Auferstehung Christi, wodurch die Mächte dieser Welt samt Tod überwunden sind, entfällt völlig. Doch wer bekämpft das Böse dann? Die Toleranzabsprachen unter Selbst-Religionen? Was ist, wenn die guten Energien, die Selbstfindung, das Wahrnehmen der Naturgeister alles vermögen, nur das Schlechte aus der Welt nicht zu tilgen imstande sind? Destabilisiert das nicht immerwährend die tolerante Anerkennung religiöser Andersheit? Hier kommt die Logik der Bedürfnisstruktur an ihre Grenze. Weder Konsum des Glückes noch Toleranz verhindern einfach Sünde und Tod. Die Befürworter der dunklen Seite einer Engelreligion haben das zumindest immer gewusst, bis hin zum luziferischen Nihilismus Gottes. Die Kompensationsnot des Bösen innerhalb der uns beherrschenden Systeme führt dabei nicht ohne Grund zu Verformungen des Modells selbst, indem es immer mehr zu Neuerfindungen etwa von Engelgestalten usw. kommt. Der religiösen Phantastik ist kein Einhalt mehr geboten. Die Engelreligion verwildert geradezu in sich selbst, ohne das Problem des Bösen eigentlich in den Griff zu bekommen. Denn entweder führt es in den Regress auf immer neue Ebenen guter Mächte, die neuerlich hinzugewonnen werden müssen, um mit ihnen die Hoffnung der Überwindung des Bösen zu verbinden, oder aber man fügt sich den Übeln dieser Welt und entlarvt in den herrschenden Strukturen den Teufel selbst.

Wegweiser christliche Angelologie

In der christlichen Engellehre gibt es keine „generöse Indifferenz“ Gottes gegenüber seinen himmlischen Gesellschaften. Wer glaubt, dass Gott der Herr ist, der Himmel und Erde gemacht hat, hat eine eschatologische Erwartung, dass der Fürst dieser Welt auch am Ende aller Tage besiegt sein wird.30 Er weiß aber darüber hinaus, dass der Herrschaftsanspruch Gottes in Jesus Christus gegen Sünde und Tod schon jetzt soteriologischen Anspruch auf unser Leben hat. Dieser Anspruch offenbart und vergegenwärtigt sich als Herrschaftsbewegung Gottes zu den Menschen als Ziel ihrer Erlösung. Die Engel sind dazu da, um diese Botschaft in das Leben der Menschen zu bringen und Gott dafür zu loben und zu danken. Sie sind dadurch ein inhärentes Geschehen dieser Bewegung und somit niemals selbstständig ohne Gott tätig und schon gar nicht zu Wesen mutierbar, die von Menschen billig benutzt werden könnten. Stattdessen würden sie als gefallene Mächte systemisch vielmehr die Menschen versuchen.31Dieser kurze Umriss christlicher Engellehre macht Folgendes deutlich: Engel sind nur wirklich Engel, wenn sie Engel Gottes bzw. Jesu Christi sind.32 Überhaupt erst dadurch, dass Gott sie in seiner Herrschaftsbewegung sein lässt oder bekämpft, macht er sie nämlich als gute oder böse Mächte sichtbar. Denn von allein werden sie sich nicht einfach als gut oder böse identifizieren lassen. Das ist die ureigenste Ansicht biblischen Engelglaubens, dass man ihrer selbst niemals habhaft werden kann. Sie sind als Mächte der Niedrigtranszendenz unbestimmt und unbeherrschbar. Mit ihnen kann man sowohl auf Gutes als auch auf Böses treffen. Unsere Erfahrungen und Wahrnehmungen als solche bleiben indifferent. Mächte sind uns in ihrer anonymen Weise weit überlegen und als uns beherrschende Systeme dieser Welt unbezwingbar, wenn wir von ihnen einfach verlangten, sie sollten nur unsere Bedürfnisse befriedigen. Wer das denkt, unterschätzt die Wirklichkeit dieser Welt, die nicht ohne Grund nach Gerechtigkeit dürstet – im Gegenteil, er macht die Gefahren in ihr erst wahrhaft stark. Wenn demnach im Diskurs mit der neuen Engelreligion etwas der Theologie obliegt, dann, dass sie die Geister, die die Engelreligion als Religion des säkularen Menschentypus zu benutzen weiß, als aller menschlichen Verfügbarkeit überlegen ausweist und damit auf die Notwendigkeit der Anbindung der Engelmächte an Gott als den souveränen Herrscher der Himmel und der Erde hinweist. Erst von hier aus finden Menschen Erlösung von den Mächten dieser Welt durch die Macht, die Gott selbst ist. Erst hierdurch öffnen sich die Himmel in ihrer ganzen Fülle aus der Güte Gottes.33


Oliver Dürr, Molbergen


Anmerkungen

1 Thomas Ruster, Die neue Engelreligion. Lichtgestalten – dunkle Mächte, Kevelaer 2010.

2 Ebd., 48-50.

3 Doreen Virtue, Neue Engel-Gespräche, Berlin 2004.

4 Giulia Siegel, Engel, Güllesheim 2008.

5 Kurt Tepperwein, Leben in der Gegenwart der Engel. Himmlische Kraft und heilende Worte für jede Lebenslage, München 2008, 7.

6 Thomas Ruster, Die neue Engelreligion, a.a.O., 39ff, hier 41.

7 Doreen Virtue, Himmlische Führung. Kommunikation mit der geistigen Welt, Burgrain 2008, 21ff.

8 Werner Thiede, Esoterik – die postmoderne Dauerwelle. Theologische Betrachtungen und Analysen (R.A.T.6), Neukirchen-Vluyn 1995, 20.

9 Vgl. Jana Haas, Engel und die neue Zeit. Heilwerden mit lichten Helfern, Berlin 2008.

10 Thomas Ruster, Die neue Engelreligion, a.a.O., 26.

11 Matthias Pöhlmann, Beruf: Engel-Dolmetscherin. Alexa Kriele und ihr „Haus der Christosophie“, in: Michael N. Ebertz / Richard Faber (Hg.), Engel unter uns. Soziologische und theologische Miniaturen, Würzburg 2008, 59-66.

12 Giulia Siegel, Engel, a.a.O., 7f.

13 Jana Haas, Engel und die neue Zeit, a.a.O., 22.

14 Robert C. Smith, Schutzengel und Heilengel. Das wunderbare Wirken unsichtbarer Helfer, München 31997, 15, 32f.

15 Vgl. etwa schon Alfons Rosenberg, Engel und Dämonen. Gestaltwandel eines Urbildes, München 21986.

16 Paul Schwarzenau, Die himmlischen Hierarchien des Dionysios Areopagita und die Engellehre Rudolf Steiners, in: Reinhard Kirste / Paul Schwarzenau / Udo Tworuschka (Hg.), Religionen im Gespräch (RIG 2). Engel, Elemente, Energien, Balve 1992, 197-237.

17 Helmut Obst, Dialog mit neuen Propheten, in: Reinhard Hempelmann (Hg.), Religionsdifferenzen und Religionsdialoge. Festschrift – 50 Jahre EZW, EZW-Texte 210, Berlin 2010, 253-257.

18 Bernhard Lang / Colleen McDannell, Der Himmel. Eine Kulturgeschichte des ewigen Lebens, Frankfurt a. M., 428-469.

19 Johann Evangelist Hafner, Gegenwärtig Glauben Denken. Systematische Theologie, Bd. 9. Angelologie, Paderborn u. a. 2010, 95-103, hier 103.

20 Wolf Krötke, „Wiederkehr der Götter“ – Einkehr des Friedens in die Welt? Ulrich Becks soziologische Theorie des „eigenen Gottes“ in theologischer Perspektive, in: Reinhard Hempelmann (Hg.), Religionsdifferenzen und Religionsdialoge. Festschrift – 50 Jahre EZW, EZW-Texte 210, Berlin 2010, 13-25.

21 So etwa noch bei Friedrich Wilhelm Graf, Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2007.

22 Vgl. dazu auch Thomas Rusters Kritik gegen F. W. Graf: Thomas Ruster, Die neue Engelreligion, a.a.O., 246, Anm. 77.

23 Matthias Petzoldt, Differenzen über Religion in ausdifferenzierten Gesellschaften, in: Reinhard Hempelmann (Hg.), Religionsdifferenzen und Religionsdialoge. Festschrift – 50 Jahre EZW, EZW-Texte 210, Berlin 2010, bes. 34-39.

24 Ulrich Beck, Der eigene Gott. Friedensfähigkeit und Gewaltpotential der Religionen, Frankfurt a. M. / Leipzig 2008, 119. Vgl. gut zusammengefasst: Wolf Krötke, „Wiederkehr der Götter“, a.a.O., 16-18.

25 Ulrich Beck, Der eigene Gott, a.a.O., 113, 175.

26 Ebd., 114, 165.

27 Ebd., 107.

28 Ebd., 174.

29 Ebd., 96f.

30 Paul Althaus, Die christliche Wahrheit. Lehrbuch der Dogmatik, Bd. 2, Gütersloh 1948, 67-70, 155-160; Karl Heim, Der evangelische Glaube und das Denken der Gegenwart. Grundzüge einer christlichen Lebensanschauung, Bd. 3: Jesus der Weltvollender, Berlin 1937, 87-97.

31 Karl Barth, Kirchliche Dogmatik. Die Lehre von der Schöpfung, III/3 §§ 48-51, Studienausgabe 17 und 18, Zürich 1992, 426ff.

32 Regin Prenter, Schöpfung und Erlösung. Dogmatik, Göttingen 1960, 228.

33 Thomas Zeilinger, Zwischen-Räume – Theologie der Mächte und Gewalten, Stuttgart 1999, 313f; Oliver Dürr, Der Engel Mächte. Systematisch-theologische Untersuchung: Angelologie, Stuttgart 2009, 228-241, 250-269, 274-282.