Karina Hawle

Der Dialog der Fethullahcis (Gülen-Bewegung)

Die Armee des Imam

Am 3. März 2011 wurde Ahmet Şık von der türkischen Polizei festgenommen, nach über einem Jahr Untersuchungshaft wurde er wieder auf freien Fuß gesetzt. Offiziell warf man dem renommierten türkischen Journalisten der linksliberalen Zeitung „Radikal“ vor, Mitglied des geheimen nationalistischen Ergenekon-Netzwerks zu sein, einer Untergrundorganisation, die ab 2003 die konservativ-religiöse AKP-Regierung von Premierminister Tayyip Erdoğan zu stürzen versuchte.

Da aber Şık selbst mit seinen investigativen Recherchen an der Aufdeckung der Ergenekon-Pläne beteiligt war, ist es nicht verwunderlich, dass der tatsächliche Inhaftierungsgrund von vielen in Şıks angekündigtem Buch „Die Armee des Imam“ gesehen wird. Dieses sollte im Mai 2011 veröffentlicht werden und versprach aufsehenerregende Details über eine einflussreiche muslimische Gemeinschaft um den Prediger Fethullah Gülen publik zu machen – darunter eine jahrzehntelange, systematische Unterwanderung des Polizeiapparats durch die Gruppe. Gleich nach der Verhaftung Şıks wurde die Veröffentlichung unterbunden und der Besitz des Manuskripts unter Strafe gestellt.

Dass die Fethullahcis, wie das Netzwerk um Gülen genannt wird, erheblichen politischen Einfluss besitzen, bezeugen die jüngsten Aussagen von AKP-Mitgliedern wie dem Abgeordneten Yalçin Akdoğan, der in einem Interview verdeutlichte: „Es kann keinen Konflikt geben zwischen Mitgliedern der Gülen-Bewegung, die Premierminister Erdogan von Herzen lieben und AKP-Anhänger (sic), die Herrn Gülen lieben.“1

Von Kritikern wird die muslimische Bewegung sogar als „eine nebulöse islamistische Sekte, die vom mysteriösen Hocaefendi Fethullah Gülen geleitet wird“2, beschrieben. Fakt ist, dass die Fethullahcis in den letzten 30 Jahren ein effektives Privatschulsystem mit hohen Bildungsstandards entwickelt haben, mit der zweitauflagenstärksten Tageszeitung „Zaman“ meinungsbildend auf die türkische Bevölkerung einwirken und sogar ein eigenes Bankinstitut betreiben. Ihr Aktionsradius beschränkt sich nicht nur auf das Ursprungsland; weltweit gründet die „Armee des Imam“ Vereinigungen und Institutionen, über die sie nach Anregung Gülens an der Gestaltung der jeweiligen Gesellschaft aus ihrem religiösen Bewusstsein heraus Anteil nimmt. Schätzungen zufolge sollen sich dem Prediger über zehn MillionenSympathisanten verbunden fühlen.

Eine Istanbul-Reise

Ich selbst machte mit dem Namen Fethullah Gülen Bekanntschaft, als ich mich im Sommer 2006 einer Istanbul-Reise der Theologiestudierenden meiner Diözese anschloss. Organisator war das Wiener Dialoginstitut „Der Friede“, das durch den muslimischen Bekannten eines Kommilitonen vermittelt worden war. In den Institutsräumlichkeiten in der noblen Wiener Innenstadt zeigten sich die Reiseveranstalter während des ersten Treffens offen und betonten die Vereinbarkeit von muslimischem Glauben und Moderne. Beim Rundgang durch das Friede-Institut fand sich im Gebetsraum eine Gegenüberstellung von Jesus Christus und Mohammed, die die Bedeutung des Propheten Jesus im Koran hervorhob. Pläne für die weitere Institutsgestaltung wurden geschildert, Zusammentreffen mit nationalen Politikern und Bildungseinrichtungen erwähnt, und das vielfältige Kursangebot wurde vorgestellt. Man betonte die Möglichkeiten des interreligiösen Austauschs mit christlichen Theologen während der Reise.

Der zweite Termin stand im Zeichen der Reisevorbereitung. Eine Präsentation gab einen Vorgeschmack auf die Sehenswürdigkeiten der Stadt am Bosporus, allerdings wollte man uns trotz Nachfrage kein konkretes Reiseprogramm vorlegen – zugunsten der „Flexibilität“.

Doch die kulturell-religiöse Entdeckungsreise entpuppte sich vor Ort als Besuchsmarathon von Instituten und Vereinigungen wie der „Stiftung für Journalisten und Schriftsteller“, einer Privatschule, der Fatih-Universität und dem TV-Sender Samanyolu. Nach dem „Kaffeefahrten“-Prinzip stand täglich mindestens ein Termin mit Vorträgen, Videomitschnitten und der Überreichung von Publikationen eines Mannes mit Namen Fethullah Gülen auf dem „flexiblen“ Programm.

Kein einziges Mal war im Zuge der Reisevorbereitungen durch das Friede-Institut dieser Name gefallen und doch drehte sich unser Aufenthalt nur um diese viel verehrte Person und ihre Vision einer besseren Welt. Allabendlich folgte eine Essenseinladung bei reichen Verehrern des Predigers, für die auch lange Busfahrten in Kauf genommen wurden. Irritation und Unbehagen machten sich nicht nur bei mir breit.

Der Werdegang des „Hocaeffendi“

Fethullah Gülen lebt heute in den USA, von wo aus er sich regelmäßig zum aktuellen Tagesgeschehen zu Wort meldet. Die Türkei verließ er 1999, wo im selben Jahr Videobänder öffentlich wurden, in denen der Prediger zur Errichtung eines Gottesstaates durch islamistische Unterwanderung des Staates aufrief. Gülen selbst bezeichnete die Ereignisse als Diffamierungskampagne, der nationale türkische Sicherheitsrat hingegen klagte Gülen an. Unter der Regierung Tayyip Erdoğans kam es 2003 zur Einstellung des Verfahrens und 2006 zum endgültigen Freispruch. Dennoch ist der heute 74-Jährige nicht mehr in seine türkische Heimat zurückgekehrt, wo er 1941 als eines von acht Kindern eines anatolischen Dorfimams geboren wurde. Nach Abschluss der staatlichen Grundschule widmete sich Fethullah Gülen allein seiner religiösen Ausbildung und schloss sich der religiösen Nurculuk-Gemeinschaft an. Die Prinzipien des Gründers Said Nursi, mittels Bildungsinstitutionen und der religiösen Rückbesinnung des Einzelnen eine neue Gesellschaft herbeizuführen, in der jeder Handlungsbereich religiös begründet sein soll, prägen Gülens Denken bis heute.

Offiziell begann Fethullah Gülen seine Predigttätigkeit 17-jährig als staatlicher Imam in der republikanisch geprägten Stadt Edirne. Hier knüpfte er ein offenes Beziehungsnetz mit anderen konservativgläubigen Muslimen und erzielte durch seine missionarische Rastlosigkeit, kompromisslose Frömmigkeit und seine charismatisch-emotionalen Predigten starke Wirkung bei seinen Zuhörern. Mit seiner zunehmenden Bekanntheit etablierte sich eine eigene Schülergruppe um ihn. So vielAnnahme er auf religiöser Seite auch fand, so viel Ablehnung erfuhr er vonseiten der Republikaner, die in mehrere Anklagen gegen ihn wegen staatsfeindlicher Hetze mündete.

Als Gülen ab 1968 religiöse Sommerzeltlager mit bis zu 300 Schülern veranstaltete, begann er auch die Bedeutung eines islamischen Bildungs- und Arbeitsideals in der sich wandelnden Gesellschaft zu betonen. Ausgehend von der Forderung, Internate und Studentenheime zur religiösen Erziehung von Jugendlichen zu errichten, und der weiteren Anregung, sich in Gemeinschaften zusammenzuschließen und die Gesellschaft zu durchwirken, entwickelte sich in den folgenden Jahrzehnten aus dem Schülerkreis um Gülen ein autonomes, unpolitisches und dezentrales Netzwerk. Die „Cemaat“ (Gemeinschaft), die ihre Motivation aus den Nurculuk-Schriften sowie Hör- und Videokassetten mit den Predigten Gülens ableitete, gründete Privatschulen, unparteiliche Vereine und Stiftungen sowie Zeitschriften, Gewerkschaften und Wirtschaftsvereinigungen und läutete damit eine neue Phase der differenzierten gesellschaftlichen Mitgestaltung für die religiöse Gruppierung ein. Das Fehlen zentraler Organisationsstrukturen ermöglicht es dem Netzwerk, sich sowohl inhaltlich als auch rechtlich jeder staatlichen Sanktion zu entziehen.

Gülen zeigte sich öffentlich zunehmend regierungsnah. Seinen gesellschaftspolitischen und medialen Durchbruch erzielte der Prediger 1994 durch ein Treffen mit der damaligen Premierministerin Tansu Çiller (DYP). Schlagartig avancierte er zum Prototyp des toleranten und modernen „Vorzeigemuslims“3 abseits des politischen Islam. Doch die konservative sunnitische Theologie Gülens in Anlehnung an die Lehren Said Nursis widerspricht in vielen Punkten dem modernen, staatlich regulierten Reformislam der türkischen Universitäten. Die cemaat-internen Botschaften Gülens weisen teils reaktionäre Aspekte auf und stehen dem Außenbild eines reformislamisch-modernen Netzwerks sogar entgegen. Ein Beispiel hierfür bieten die antiwestlichen Aussagen Gülens, die ab 1990 bei öffentlichen Auftritten nicht mehr zu finden sind, in den Neuauflagen seiner Bücher jedoch unkommentiert weiterhin abgedruckt werden.

Auch nach dem Skandal um Gülen im Jahr 1999 genießt der Prediger im Exil große Popularität, und aufgrund der Tatsache, dass seine Anhänger alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringen, erzielen seine Lehren und die Cemaat-Aktivitäten eine enorme öffentliche Breitenwirkung.

Der gelebte Gottesdienst der Fethullahcis

Gülen selbst verneint öffentlich die Existenz einer Cemaat um seine Person. Dennoch lassen sich Verbindungen zwischen den Gründern der einzelnen Organisationen untereinander sowie persönliche Kontakte zu Gülen ausmachen. Offiziell ist die Rede von einer nicht institutionalisierten „Bewegung der Freiwilligen und Ehrenamtlichen“ (Gönüllüler Hareketi), die keine Mitgliedschaft kennt und wenn, dann nur informell durch die Islamsicht Gülens verbunden ist.

Dieses Islamverständnis ist geprägt von den Eckpfeilern „Moral und Identität“4. Doch gerade diese seien durch die westlich-materialistische Entfremdung der Menschen im 20. Jahrhundert bedroht und bedürften der Entwicklung und Umsetzung alternativer, religiös-nationaler Lösungsansätze als „Dienst für die Sache Gottes“ (hizmet). Die Pflicht, Gott zu dienen, erfülle der Gläubige, wenn er sich durch rechtes Verhalten unermüdlich für das Gemeinwohl einsetze. Selbstaufopferndes gesellschaftliches Tun entspreche somit gelebtem Gottesdienst und garantiere das eschatologische Seelenheil. Zum Schutz vor schlechten Einflüssen und zur Bündelung der Kräfte rät Gülen solchen „Menschen der Tat“, sich zusammenzufinden, um ihre Gesamtleistung durch Arbeitsteilung in Effizienz und Produktivität zu steigern. Um weitere Aktionsfelder im In- und Ausland erschließen zu können, ist zudem finanzieller Reichtum anzustreben.

In der Ausübung ihres Glaubensverständnisses innerhalb der Gesellschaft ist die Cemaat gezwungen, einen Mittelweg zu beschreiten. Um die notwendigen, vielfältigen und einflussreichen Kontakte zu gewährleisten, muss die Gemeinschaft ihre Außenaktivitäten zwanglos und offen gegenüber anderen Weltanschauungen gestalten, gleichzeitig ist das Engagement intern klar von einem konservativ-muslimischen Weltverständnis geprägt.

Im Folgenden soll auf drei – mittlerweile globale – für Gülen-Anhänger typische Bereiche des Hizmet eingegangen werden.

Bildungsnetzwerk – Medien – Dialog

Kern der Lehre Gülens ist die Vision einer „Goldenen Generation“, die ein neues islamisches Zeitalter einläuten soll. Diese müsse umfassend wissenschaftlich und religiös-moralisch gebildet sein. Denn nur eine entsprechend der Vorstellung des „kleinen Cihad“ (Dschihad) von islamfeindlichen, materialistischen und darwinistischen Tendenzen gereinigte Bildung sei die Grundlage einer festen nationalen und religiösen Identität, die vor westlicher Überfremdung schützt. Zudem ermöglicht sie der neuen Generation politische, kulturelle und religiöse Konterparts zum Islam einzuladen (dava). Neben der religiösen Bedeutung der Bildung tritt Gülen für das Betreiben der Wissenschaften ein, um wirtschaftlichen Wohlstand zu schaffen, nationale Unabhängigkeit zu fördern und das Überleben des Islam in der Moderne zu erreichen. Die hoch gebildeten und loyal gebundenen Abgänger können so verantwortungsvolle Positionen in Innen-, Außenpolitik und Wirtschaft einnehmen und gekonnt die wirtschaftlich und politisch liberalen Rahmenbedingungen der Türkei und des Westens nutzen, um diese politisch mitzugestalten.

An diesem Punkt setzt auch die Kritik an dem Netzwerk an. Die Sozialwissenschaftlerin Necla Kelek und die Türkei-Expertin Rachel Sharon-Krespin schreiben der Gemeinschaft sektiererische Ansätze zu und warnen vor einer Infiltration der staatlichen Schlüsselpositionen wie der Polizei, des Sicherheitsministeriums und des Militärs, die der Bewegung taktisches Wissen und Macht erschließen, um die Opposition mitunter auch gewaltsam ausschalten zu können, wie eingangs am Beispiel Ahmet Şıks beschrieben.

Der türkischstämmige Asienwissenschaftler Bayram Balcı sieht im Privatschulwesen der Cemaat eine verdeckte Missionierung mit dem Ziel der Konvertierung der Schüler, um so eine Verbindung zwischen Staat, Religion und Gesellschaft zu installieren. Dies ist auch der Grund für das Verbot von Gülen-nahen Einrichtungen in einigen Ländern wie Russland, Usbekistan und den Niederlanden.

In Deutschland zeigt sich in den letzten Jahren eine rege Aktivität der Fethullahcis. Vorerst waren es Hausaufgabenbetreuung und Nachhilfe, die in größeren deutschen Städten – heute in rund 165 Einrichtungen – angeboten werden, koordiniert und organisiert unter dem Dach des überregional arbeitenden „Academy – Verein für Bildungsberatung e.V.“ in Frankfurt. Darüber hinaus existieren über 20 türkisch-säkulare Privatschulen, die sich auf der Führungsebene von den Lehren Gülens inspiriert wissen, so z. B. die TÜDESB-Schulen in Berlin-Spandau, das Privatgymnasium Dialog in Köln-Buchheim oder die BiL-Privatschule in Stuttgart-Bad Cannstatt. Die Schulen betonen ihre Offenheit für alle Schüler, dennoch besteht ihre Klientel zu 90 Prozent aus Kindern mit Migrationshintergrund, deren Familien es in Deutschland zu einigem finanziellen Wohlstand gebracht haben und sich so die bis zu 4000 Euro Schulgebühren pro Jahr leisten können.

Allein in der deutschen Hauptstadt gibt es über 20 „Lichthäuser“, in denen in geschlechtergetrennten studentischen Wohngruppen der Nachwuchs der Fethullahcis auf ein streng muslimisches Leben in Verbundenheit zu Gülen und dessen Anhängereinrichtungen eingeschworen wird. Aus ihrer ideellen Verbundenheit sollen die Universitätsabgänger das Netzwerk durch die Spende ihres ersten Gehaltes unterstützen.

Zusehends drängen die Fethullahcis an die Universitäten und veranstalten im Beisein nationaler Politiker und Intellektueller Symposien und Konferenzen, bei denen deutsche Gülen-Gruppenmitglieder aller Gesellschaftsbereiche zusammentreffen, um auf die wegweisenden Lehren ihres spirituellen Führers hinzuweisen. Die im Mai 2009 an der Universität Potsdam durchgeführte Konferenz unter dem Titel „Muslime zwischen Tradition und Moderne – Die Gülen-Bewegung als Brücke zwischen den Kulturen“ gilt als deutsches „Coming-out“ der Fethullahcis. Es folgte die Konferenz „Die Gülen-Bewegung im Kontext Europas – Ein Blick auf NRW“ im Juni 2010 an der Ruhr-Universität Bochum.5

Die 2011 und 2012 in Deutschland durchgeführte Deutsch-Türkische Kulturolympiade wird als interkulturelles Festival der Kinder und Jugend inszeniert, das im Zeichen der Traditionspflege steht. Der Großevent wurde 2012 vom Verein Academy veranstaltet.

Die finanzielle Basis der Bildungsoffensive stellt die wirtschaftliche Aktivität des Netzwerks im Industrie-, Kleinunternehmer- und Finanzsektor dar, die vor allem im Zuge des wirtschaftlichen Liberalisierungsbooms seit 1982 entstand. Beispiele hierfür sind Unternehmensverbände wie İŞHAD (Förderverband des Geschäftslebens), wirtschaftliche und politisch-gesellschaftliche Interessenvertretungen wie die 1971 gegründete TÜSİAD (Vereinigung türkischer Industrieller und Geschäftsleute) ebenso wie die 1996 von Gülen-Sympathisanten ins Leben gerufene Bank Asya Finans und die Versicherung Işık Sigorta (Licht).

Früh begann Gülen, sich die Massenmedien zunutze zu machen, was maßgeblich zur heutigen Popularität seiner Person beigetragen hat. Durch eigene Printmedien, Rundfunk- und Fernsehsender verfügt das Netzwerk über eine effektive Möglichkeit, eine breitenwirksame Anwendung des Gülen-Diskurses auf gegenwärtige Fragen herzustellen, die eigenen Interessen zu bewerben und die öffentliche Meinung mitzuprägen.

Die zuerst gegründete Zeitschrift Sızıntı wird seit 1978 von der Stiftung türkischer Lehrer (T.Ö.V) herausgegeben und ist um die Verbindung von Rationalität und Glauben bemüht. Die auflagenstarke AKP-nahe Tageszeitung Zaman (Zeit) ist seit 1986 eine mediale Plattform für Texte und Ideen Gülens und ihrer praktischen Umsetzung. 1988 folgte die religiöse Zeitschrift Yeni Ümit (Neue Hoffnung) und 1994 das wirtschaftlich-politische Nachrichtenmagazin Aksiyon (Aktion). In Deutschland finden deutschsprachige Publikationen, darunter die Tageszeitung Zaman sowie eine Zeitschrift namens „Die Fontäne“, großen Absatz.

1993 kam mit der Entstehung des Fernsehsenders Samanyolu (Milchstraße) ein weiteres Medienportal hinzu. Die Gründung des Radiosenders Burç FM (Burg FM) und der Nachrichtenagentur CHA folgten ein Jahr darauf.

Das Mediennetzwerk verfügt über enge persönliche Kontakte untereinander, beschäftigt Journalisten, die cemaat-eigene Bildungseinrichtungen durchlaufen haben, und ist bemüht, durch gezielt positive Berichterstattung und Werbeeinschaltungen auf nahestehende Einrichtungen und deren Aktionen aufmerksam zu machen. Von den zunehmenden Einschränkungen der Pressefreiheit durch den AKP-Führer Erdoğan, mit denen sich kritische Journalisten konfrontiert sehen, sind die regierungsfreundlichen Medien des Netzwerks nicht betroffen.

Gülen tritt gern als Förderer des innergesellschaftlichen Dialogs mit dem Ziel des Aufbaus einer gemeinsamen moralischen Zivilisation der Toleranz und des interreligiösen sowie interkulturellen Verständnisses auf. Zur Propagierung des universalen Weltfriedens durch Toleranz und Bekämpfung humanitärer Missstände bedient sich Gülen der „Stiftung der Journalisten und Schriftsteller“ (Gazeteciler ve Yazarlar Vakfı). Eine Gruppe Gülen-naher Intellektueller rief im Juni 1994 die Stiftung mit Fethullah Gülen als Ehrenvorsitzendem ins Leben, die von da an den gesellschaftspolitischen Rahmen für Gülens öffentliches Wirken bilden sollte. Seit 1996 verleiht sie jährlich eine „Toleranzmedaille“ an Persönlichkeiten aus Kultur und Politik. Die Stiftung, die unter anderem die Präsentation der Netzwerkarbeit und die Unterstützerwerbung koordiniert, richtete auch die Treffen Gülens mit Papst Johannes Paul II., dem Oberrabbiner der israelischen Botschaft und dem griechisch-orthodoxen Patriarchen Bartholomäus I. aus.

Dem Prinzip des Dialogs versuchen zahlreiche interkulturelle Institute in größeren europäischen Städten wie das „Forum für Interkulturellen Dialog Berlin e.V.“ (FID BERLIN e.V.) oder das schon erwähnte „Friede-Institut“ in Wien gerecht zu werden. Als ideales Instrument der zwanglosen Kontaktaufnahme zur lokalen Bevölkerung, zu Politikern und Vertretern anderer Religionsgemeinschaften erweisen sich dabei ihre Angebote wie Sufi-Abende, Fastenbrechen, interreligiöse Konferenzen, türkische Sprach-, Koch- und Musikkurse und – wie in meinem Fall – Türkeireisen.

Reflexion der Reise mit dem Friede-Institut

Die Reise des Dialoginstituts „Der Friede“ scheint mir nachträglich betrachtet nur einem Ziel gedient zu haben: der Steigerung des Bekanntheitsgrades und des Ansehens Fethullah Gülens. In den Vorträgen und Videoausschnitten von interreligiösen Treffen wurde dieser zur Ikone stilisiert dargestellt und seine Verehrung durch religiöse Oberhäupter der ganzen Welt betont.

Dass der Name des „verehrten Lehrers“ im Vorfeld kein einziges Mal genannt wurde, obwohl sich die gesamte Reise um ihn und die Aktivitäten seiner Anhänger drehen sollte, kann ich nur als Verschleierungstaktik bezeichnen. Unterwegs zeigten sich die Institutsmitglieder auch wenig zurückhaltend. Beim Besuch der „Stiftung der Journalisten und Schriftsteller“ wurde uns im Anschluss an eine Präsentation über Hilfsmaßnahmen der Organisation für Kinder im ehemaligen Jugoslawien und deren Inspiration durch Fethullah Gülen eine Liste deutscher und österreichischer Mitglieder vorgelegt – mit dem Hinweis, dass auch wir Mitglieder und somit Helfer für den Weltfrieden werden könnten.

Auffallend erschien mir, dass die verschiedenen Institutionen stets über gute Stadtlage, großzügige Räume und beste Ausstattung verfügten, zudem bedachte man uns überall mit Speisen und Geschenken in Form von Publikationen Gülens, Flyern und Süßigkeiten. Dies bot mir einen Einblick in die finanzielle Situation des Netzwerks, das sich großteils durch Spenden erhält und dessen finanzieller Wert mittlerweile 25 Milliarden US-Dollar entsprechen soll. In dieses Bild der begüterten Unterstützer passten auch die allabendlichen Essenseinladungen für die 20-köpfige Reisegesellschaft bei Privatpersonen, die, wie sich herausstellte, allesamt Unternehmer auf nationaler Ebene waren – vom Besitzer einer Möbelhauskette bis hin zum Nachhilfeinstitutbetreiber.

Entgegen dem Eindruck eines moderaten Islamverständnisses, den mir das Friede-Institut vor der Reise vermittelte, offenbarten sich seine Mitglieder während der gemeinsamen Reise als konservativ-traditionell. In mehreren Situationen wurden wir in Erläuterungen der muslimischen Kultur indirekt auf die sexuelle Zügellosigkeit in Europa hingewiesen, und um die Geschlechtertrennung zu wahren, mussten im Reisebus oder zu Tisch Sitzplätze gewechselt werden. Auch die Gespräche mit unseren Reisebegleitern zeigten exklusivistische Tendenzen, die sich in Vergleichen von Islam und Christentum zu erkennen gaben. So erwies sich z. B. das Einhalten der Gebetszeiten während des gefüllten Tagesprogramms als stressig, was einen muslimischen Mitreisenden dazu veranlasste, die vergleichsweise „bescheidenen“ christlichen Gebetszeiten zu thematisieren.

Als Reiseteilnehmerin stand ich ungewollt unter der permanenten Kontrolle der Reiseveranstalter, die mit uns ein unbekanntes Reiseprogramm von unglaublicher Dichte absolvierten. Selbstständiges Bewegen in der Stadt außerhalb der Gruppe wurde als „zu gefährlich“ unterbunden. Jene, die es wagten, die Freiheitsbeschränkung zu übergehen, indem sie abends die nähere Umgebung des Hotels erkundeten, wurden nach ihrer Rückkehr in der Hotellobby zur Rede gestellt.

Durch die Erfahrungen im Zuge der Studienreise kann ich mich des Eindrucks versuchter Missionierung und Islamisierung durch die Gülen-Gemeinschaft, wie sie auch der türkischstämmige Asienwissenschaftler Bayram Balcı beschreibt, nicht erwehren. Interreligiöser Dialog kam meiner Ansicht nach auf der Reise nicht zustande. Interesse an anderen Religionen fand sich nur im Sinne einer Selbstvergewisserung des eigenen Glaubens und eines oberflächlichen Anknüpfungspunktes, um potenzielle Adressaten für den Islam Fethullah Gülens zu erreichen.

Mit ihrem „Angebot zur kulturellen Verständigung“ ziehen die Dialoginstitute in Österreich und Deutschland vermehrt das Interesse von Schulen, Universitätsprofessoren, Politikern und Religionslehrern an. Dass es sich um eine Propagandataktik handelt, ist im ersten Moment nicht ersichtlich. Auch die Tatsache, dass ein „hochverehrter“ Mann im Hintergrund die Richtung vorgibt, der die Existenz des um seine Person entstandenen Imperiums an Institutionen sogar explizit leugnet, erscheint mir bedenklich. So hoffe ich, dass der weiteren Entwicklung des Gülen-Netzwerks nicht nur in der Türkei, sondern auch in Deutschland und Österreich erhöhte Aufmerksamkeit zuteil wird.


Karina Hawle, Berlin


Anmerkungen

1 Markus Bernath, Türkei: Let’s talk Gülen, erschienen am 19.2.2012 unter Markus Beys Blog, http://derstandard.at/1328508139892/Markus-Beys-Blog-Tuerkei-Lets-talk-Guelen  (12.5.2012).

2 „Behind Turkey’s transformation has been not only the impressive AKP political machine but also a shadowy Islamist sect led by the mysterious hocaefendi (master lord) Fethullah Gülen ... Today, Gülen and his backers (Fethullahcilar, Fethullahists) not only seek to influence government but also to become the government“ (in: Rachel Sharon-Krespin, Fethullah Gülen’s Grand Ambition. Turkey’s Islamist Danger, in: Middle East Quarterly XVI/1 (2009), 55-66, www.meforum.org/2045/fethullah-gulens-grand-ambition (12.5.2012).

3 Bekim Agai, Porträt Fethullah Gülen. Ein moderner türkisch-islamischer Reformdenker?, http://de.qantara.de/webcom/show_article.php/_c-469/_nr-254/i.html (12.5.2012).

4 „Islam, for Gülen, means two things at the same time: morality (kişilik) and identity (kimlik) ... there is no identity without morality and no morality without Islam“ (M. Hakan Yavuz, Turkish Islam and the secular state: the Gülen Movement, New York 2003, 25).

5 Vgl. die daraus erwachsenen Publikationen: Walter Homolka u. a. (Hg.), Muslime zwischen Tradition und Moderne. Die Gülen-Bewegung als Brücke zwischen den Kulturen, Freiburg i. Br. 2010; Ursula Boos-Nünning u. a. (Hg.), Die Gülen-Bewegung zwischen Predigt und Praxis, Münster 2011.