Michael Utsch

Der Boom des Irrationalen

Zur Psychodynamik alternativer Glücksrezepte

Warum trinken Menschen energetisiertes Wasser? Warum konsultieren sie einen Geistheiler oder steigen in eine indianische Schwitzhütte? „Warum trägt Joachim Löw während der Meisterschaftsspiele ein Shambhala-Armband mit aktivierenden Hämatit-Kugeln? Und warum kauft jemand eine Energiepyramide für 1300 Euro und stellt sie in seinem Schlafzimmer auf?“2

Irrationales Verhalten boomt. Es ist heute kein Widerspruch mehr, als Ingenieur während der Woche Computer zu programmieren und am Wochenende Engel-Seminare oder schamanische Trancereisen anzubieten. Viele Menschen können heute empirisches Wissen und esoterische Weisheit verbinden, ohne Bauchschmerzen zu bekommen. Soziologen beschreiben eine starke Pluralisierung der Lebensdeutungen und Weltanschauungen, die auch als Folge der großen Migrationsbewegungen in Europa zu erklären ist. Die Begegnung kultureller Traditionen bereichert, ist aber auch herausfordernd! Vor Kurzem hatte ich ein Beratungsgespräch mit einer aus Korea stammenden Musikerin, die sich vom Teufel besetzt fühlt und nach einem Befreiungsritual sucht, das den Bann des Bösen über ihrem Leben brechen kann und sie ein für alle Mal von den negativen Energien lösen soll. Eine Psychotherapie hatte die Musikerin wegen Wirkungslosigkeit abgebrochen. Wie gehen Psychotherapeuten mit spirituell-religiösen Erwartungen um? Bei solchen Themenschwerpunkten ist über psychodiagnostische Kompetenzen hinaus religionskundliches Wissen nötig, um die Erlebniswelt des Gegenübers besser verstehen und einordnen zu können.

Im Spannungsfeld von Religion und Medizin sind heute zahlreiche neue Heilsspezialisten tätig, die einen großen Wachstumsmarkt bedienen. Schätzungen zufolge werden allein in Deutschland damit pro Jahr 20 bis 25 Milliarden Euro verdient. Etwa 15 Prozent vom Jahresumsatz des deutschen Buchhandels werden mit esoterischer Lebenshilfe erwirtschaftet. Dabei bleibt es oft nicht bei der harmlosen Freizeitbeschäftigung abendlicher Lektüre. Manche Esoterik-Gläubige buchen Seminare und Kurse, flüchten sich von Heilsversprechen zu Heilsversprechen, stürzen sich zur Finanzierung in Schulden oder geraten vor bösen Flüchen in Panik. Oder sie meinen sogar, dass ihr neu gefundener Glaube den Arztbesuch gänzlich ersetzen könne.

Ob Aura-Reiniger, Reiki-Therapeut, schamanischer Berater, Engel-Dolmetscherin oder ganzheitlicher Astrologe – spirituelle Einzelanbieter haben den klassischen Sekten den Rang abgelaufen. Leider fehlen verlässliche empirische Daten über ihre Verbreitung. Die Studie des Bochumer Religionswissenschaftlers Markus Hero aber hat 2008 allein in Nordrhein-Westfalen über 1000 esoterische Lebenshilfe-Angebote gefunden, die pro Jahr von 90 000 Menschen konsultiert werden.3 Religionswissenschaftler sprechen heute von einem „Markt der Sinnanbieter“, auf dem „spirituelle Wanderer“ nach Erleuchtung suchen.4 Dieser Markt wird Experten zufolge noch weiter expandieren. Nahezu jedes Wochenende findet irgendwo im deutschsprachigen Raum eine Tagung mit vollmundigen Glücksversprechen statt. Wohlfühl-Messen, Esoterik- und Naturheiltage oder die „Spirit and Life“-Messe werden von Menschen besucht, die alles haben und doch unglücklich sind.

Suche nach Erklärungen für die Popularität esoterischer Angebote

Die Erklärungsversuche dafür, dass im aufgeklärten 21. Jahrhundert Angebote magischer Rituale, esoterischer Lebenshilfe und versekteter, manipulativer Gemeinschaften nach wie vor Zulauf haben, sind vielfältig. Was lässt sich zur Psychodynamik der Sinn-Suchenden sagen? Nebenbei bemerkt: Nach wie vor ist Esoterik eher ein weibliches Phänomen. Obwohl sich auch zunehmend mehr Männer damit beschäftigen, sind ungefähr zwei Drittel der Rezipienten Frauen. Welche Motive bewegen diese Menschen?

Das „Psychotherapeutenjournal“, die Mitgliederzeitschrift aller approbierten Psychotherapeuten in Deutschland, hat kürzlich ein Schwerpunktheft zum Thema Religiosität und Spiritualität veröffentlicht, dessen Beiträge starke Resonanz ausgelöst haben. Dort war von den Herausgebern zu lesen: „Das Vertrauen in die Kraft der Vernunft, alleine ein gutes Leben zu organisieren, ist gering geworden. Der Mangel an Sinn ist allenthalben spürbar und wird oft beklagt. Das Bedürfnis nach Geborgenheit und Halt ist unabweisbar; ohne Sinngefüge können wir nicht leben ... Ob allerdings eine in der wissenschaftlich aufklärerischen Tradition beheimatete, säkulare Psychotherapie die Aufgabe der Sinnvermittlung mit übernehmen kann oder sollte, ist sehr genau zu prüfen.“5

Viele Beratungsformen haben in den letzten Jahren auf dieses Bedürfnis nach Sinn und Orientierung reagiert und sind spiritueller geworden – ich nenne nur die beiden Stichworte Achtsamkeit und Transpersonale Psychologie. Es ist ein Fortschritt, dass heute auch in der deutschsprachigen Psychotherapie sachlich über die Vor- und Nachteile einer Einbeziehung spiritueller Interventionen diskutiert wird. Das war längst überfällig, und es rächt sich, dass persönlicher Glaube und Spiritualität viele Jahrzehnte lang in der psychologischen Forschung vermieden und tabuisiert wurden. In der Praxis sind nämlich spirituelle Rituale längst verbreitet und werden häufig unreflektiert und damit missbräuchlich einbezogen. Erst jetzt beginnt die Wissenschaft in Deutschland, sich ernsthaft damit auseinanderzusetzen. Hier haben die Fachverbände und Ausbildungsinstitute einige Lücken zu schließen. Dabei ist die kritische Realitätsprüfung eine zentrale Errungenschaft der Psychologie, hinter die nicht zurückgegangen werden sollte. Offen für neue, auch spirituelle Erfahrungen und Weltdeutungen zu bleiben und diese mit psychologischer Hilfe besser erklären und verstehen zu können, ist angesichts der verbreiteten Sinnsuche nötig und wichtig.

Das offensichtliche Vakuum an geistig-seelischer Orientierung füllt esoterische Lebenshilfe perfekt aus. Sie verspricht Glück, Lebenserfüllung und einfache Antworten auf komplexe Fragen. Das eigene Glück wird an den spirituellen Seelenführer delegiert. Vielen Menschen ist die für seelisches Wohlbefinden oft notwendige psychologische Arbeit am Charakter viel zu mühevoll.

Eine wesentliche psychodynamische Kraft, die Menschen zu esoterischen Heilsbringern zieht, ist die Sehnsucht nach Verzauberung. Esoterische Deutungen haben auch deshalb einen durchschlagenden Erfolg und eine enorme gesellschaftliche Prägekraft entwickelt, weil dort die Entzauberung der äußeren Natur durch die Technik durch eine Verzauberung der inneren Natur ersetzt wurde.

Psychologische Studien über die subjektiven Beweggründe für die Inanspruchnahme esoterischer Lebenshilfe gibt es nur wenige. Zu nennen ist die im letzten Jahr erschienene und von dem Münchner Sozialpsychologen Heiner Keupp betreute Dissertation von Claudia Barth.6 Sie hat die Bedeutung esoterischer Seminare und Gruppen für die Identitätsbildung beschrieben. Esoterik wird hier als ein typisch postmodernes Phänomen als subjektive Methode der Lebensbewältigung beschrieben. Nach Barth hilft eine esoterische Lebensdeutung dem Einzelnen dabei, in der flexiblen und schwer einzuschätzenden Moderne zurechtzukommen. Sie fördere das Gefühl der Authentizität, liefere Erklärungen und Entlastungen für Erfahrungen des Scheiterns und verschaffe scheinbare Erleichterung angesichts des Gefühls von Entfremdung und Selbstentfremdung.

Durch die direkte Kontaktaufnahme auf Esoterikmessen fiel der Autorin die Stichprobengewinnung leicht. Durch ein ausgewogenes Geschlechter- und Ost-West-Verhältnis bildet sie mit ihrer Stichprobe von 14 Tiefeninterviews ein breites Spektrum an Lebenserfahrungen ab. Sie betont, dass sich alle die von ihr interviewten Menschen unter das Emblem „esoterisch“ einordneten.

Als weitere Auswahlkriterien für die ausführliche Einzelfallauswertung legte die Autorin psychische Stabilität und eine gefestigte Weltanschauung fest. Zwei Interviewpartnerinnen schloss sie aus, weil sie „geschlossenen Sekten und Psychogruppen angehören, bei denen andere psychologische Dynamiken zugrunde liegen als im frei florierenden esoterischen Spektrum. Ina ist seit etwa acht Jahren der buddhistischen Sekte um den Dänen Ole Nydahl zugehörig. Jenny war ein Jahr im Zentrum der Yoga-Vidya-Gemeinschaft, begann dort eine Ausbildung zur Yogalehrerin, wofür sie im selben Zentrum die Gebühr abarbeitete, bis sie – kurz vor dem Interview – mit einem Burn-Out ausstieg. Das Interview mit ihr ist durch den Burn-Out, begleitet von der Auseinandersetzung mit gegenwärtiger Wut und Enttäuschung, gekennzeichnet. Jenny ging kurz nach dem Interview für mehrere Wochen in eine Klinik zur therapeutischen Rehabilitation. Wegen der akuten psychischen Krise ist dieses Interview nicht mit den übrigen vergleichbar“ (117). Es ist bedauerlich, dass die Autorin die Abgrenzungskriterien zwischen „geschlossenen Sekten und Psychogruppen“ und der „frei florierenden esoterischen Szene“ nicht genauer bestimmt. Dadurch können hier problematische und gefährliche Aspekte esoterischer Lebenshilfe nicht genauer ins Blickfeld gelangen! Denn zahlreiche Erfahrungsberichte deuten darauf hin, dass die Wohlfühl- und Heilsversprechen des Esoterikmarktes das Erlebnisspektrum eines seelisch Gesunden mit den nötigen finanziellen Ressourcen erweitern, für psychisch labile Menschen aber durchaus gefährlich werden können. Kann die Sinnsuche in esoterischen Milieus bei seelisch Gesunden durchaus ein weiterführendes Durchgangsstadium bedeuten, liegt die Gefahr der Verstrickung in den regressiven Strukturen solcher Gruppen bei seelisch Labilen auf der Hand.

Claudia Barth wertet sechs ausführliche Einzelfallinterviews aus.7 Die Studie weist exemplarisch darauf hin, dass bei der prinzipiell endlosen Suche nach einem höheren Selbst oder einem erleuchteten Bewusstseinszustand Qualitäten wie soziale Verantwortung oder Gemeinschaftsfähigkeit häufig verloren gehen. Auffällig viele der Befragten hätten die Lebensform „Single“ gewählt, und meistens seien sie finanziell abgesichert. Die Autorin weist nach, dass fast immer das Scheitern oder ein Leiden an bestehenden Normalitäts- und Leistungszwängen den Ausgangspunkt für eine Neuorientierung der Lebenskonzepte bildete.

Durch ihre Vorauswahl der Interviews (nur psychisch stabile Menschen) konnte eine wichtige Frage nicht weiter verfolgt werden: Wie gefährlich ist esoterische Lebenshilfe für seelisch labile und kranke Menschen? Hoffentlich gibt es Folgeuntersuchungen mit der gleichen Gründlichkeit zu diesem Thema. Staatliche und kirchliche Beratungsstellen für Weltanschauungsfragen haben jedenfalls regelmäßig mit Geschädigten unsachgemäßer esoterischer Lebenshilfe zu tun.

Versprechen und Wirkungen esoterischer Angebote

Der Gegensatz zwischen esoterischen Angeboten und einer fachlichen Psychotherapie tritt u. a. darin zutage, dass in der esoterischen Lebenshilfe über ein konkretes therapeutisches Veränderungsziel hinaus, z. B. die Bewältigung von Prüfungsangst oder eines Partnerschaftskonflikts, ganz allgemein Sinnfindung, Selbstverwirklichung oder Bewusstseinserweiterung versprochen werden. Dabei sind eher harmlose Praktiken einer „Gebrauchs-Esoterik“ wie sinnlich anregende Aura-Soma-Essenzen zu unterscheiden von dogmatischen Heilungskonzepten einer System-Esoterik, wie sie etwa in manchen Richtungen der anthroposophischen Medizin vorliegen.

Durch esoterische Praktiken können durchaus zumindest kurzfristige Heileffekte erzielt werden. Eine Studie der Universität München hat die Wirkung auf Teilnehmer an einem Heilungsritual einer theosophischen Loge (White Eagle Lodge) wissenschaftlich untersucht. Die Forscher, eine Medizinerin und eine Religionswissenschaftlerin, führen die Wirksamkeit der zehnminütigen Behandlung auf die Verbindung von Ritual und Körperkontakt, die Empathie der Heilerin sowie die Erwartung der Testperson zurück, die sich zu einem deutlichen Placeboeffekt addiert hätten.8

Die Sehnsucht nach einer Einbettung der individuellen Lebensgeschichte in einen „höheren“ Sinnzusammenhang macht es esoterischen Behandlern leicht, spekulative Deutungen vorzunehmen. Leider wird immer häufiger berichtet, dass sich auch fachlich anerkannte Psychotherapeuten esoterischer Erklärungsmodelle bedienen und sie in ihre Behandlungen einbeziehen. Wenn diagnostische Schlüsse aus esoterischen Systemen der Astrologie, der Chakren-Lehre oder dem Aura-Lesen gezogen werden, mag das zwar plausibel klingen und subjektiv stimmig wirken, hat aber mit fachlicher Psychotherapie nichts zu tun. Andere esoterische Methoden arbeiten mit Vorstellungen von Karma, Reinkarnation, von geistigen Wesenheiten in der jenseitigen Welt, mit denen man durch Rückführungen Kontakt aufnehmen könne. Bei einem solchen Vorgehen werden jedoch reale Konfliktsituationen in den Bereich des Fiktiven verschoben. Es werden hypothetische Kausalitäten aufgestellt, die nicht überprüfbar sind und mit der realen Alltagsbewältigung nichts zu tun haben. Weil die esoterische Lebenshilfe die nebulösen Bereiche der geistigen Welt mit einbezieht, hat sie den Rahmen fachlicher Behandlungsmethoden verlassen.

Im Anschluss an die Psychologin Heike Dierbach in ihrem Buch „Seelenpfuscher“ sind Methoden des esoterischen Psychomarkts dadurch gekennzeichnet, dass sie nur kurzfristig wirken und ihre Techniken mehr schaden als nützen.9 Als typisch nennt Dierbach das Versprechen, alle seelischen Beschwerden könnten endgültig verschwinden. Die Anbieter verfügen in der Regel nicht über eine fachliche Ausbildung; zudem arbeiten die Methoden mit magisch-suggestiven Techniken. Wenn sie doch nicht helfen, ist der mangelnde Glaube des Patienten schuld. Damit zieht sich der Behandler aus der Verantwortung und kann weiter dem idealisierten Bild des Retters entsprechen.

Mechanismen der Idealisierung und Projektion

Während fachliche Beratung und Psychotherapie sich als Hilfe zur Selbsthilfe verstehen, die Autonomie des Patienten stärken und sich selbst möglichst bald überflüssig machen möchten, machen sich erleuchtete Meister oder „hellsichtige“ Medien durch ihre Einzigartigkeit unverzichtbar sowie durch die Behauptung, ihre Personalität mit allen menschlichen Schwächen und Fehlern hinter sich gelassen zu haben und die Wirklichkeit umfassend verstehen und erklären zu können. An den riesenhaften Erwartungen erleuchtungssüchtiger Anhängerinnen und Anhänger und den narzisstischen Versuchungen der Guru-Rolle sind schon viele religiöse und spirituelle Meister gescheitert.10 Die Übergänge zwischen einer Pseudo-Mystik zur Erfüllung egoistischer Motive eines Meisters und echter Mystik zur spirituellen Weiterentwicklung eines Ratsuchenden sind fließend und nicht leicht zu erkennen. Genaue Fallstudien wie die des französischen Psychiaters Jean Lhermitte11 oder der Psychologin Katharina Kluitmann12 sind nötig, um mit psychologischen Mitteln echte und falsche Mystiker in der eigenen Glaubensfamilie zu unterscheiden.

Dem Heiler wird in allen religiösen Systemen bedingungslos vertraut. Er gilt als Mittler der höheren Wirklichkeit, aus der er spirituelle Heilkräfte verfügbar machen kann – absolute Hingabe vorausgesetzt. Der spirituelle, eingeweihte Heiler setzt in der Regel bestimmte Rituale seiner Tradition ein, um besondere Wirkungen zu erzielen. Um das therapeutische Arbeitsbündnis zu stärken, fordern manche Lehrer besondere Vertrauenserweise, die unter dem Stichwort „verrückte Weisheit“ von sich reden gemacht haben. Zutreffend beschreibt der Münchener Psychiater Werner Huth: „Die Macht des charismatischen Führers besteht zu allererst darin, dass er für den Geführten – wie eine ‚eierlegende Wollmilchsau’ – die unterschiedlichsten Aspekte in sich vereint. Vor allem muss seine Person ... in aller Reinheit erstrahlen. So wird er zur vollkommenen Personifikation vor allem der Verlässlichkeit, so wie es die idealisierte Elternfigur für das Kleinkind war.“13 Zu einem ganz ähnlichen Fazit kommt Sudhir Kakar: „Wesentlicher psychotherapeutischer Faktor bei der Heilung durch die Gurus ist die emotionale Beziehung des Patienten ... In der Identifizierung mit dem Guru nimmt der Patient idealisierte Bilder in sich hinein, die er als echte und wertvolle Ergänzungen seiner eigenen Persönlichkeit empfindet.“14 Die psychologischen Mechanismen der Idealisierung und Projektion werden also auch hier in hohem Maße wirksam. Es ist eine echte Herausforderung für jeden beraterisch, seelsorglich und psychotherapeutisch Tätigen, professionell mit den teilweise unbewussten Heils- und Erlösungserwartungen der Ratsuchenden umzugehen und nicht der schmeichelnden Faszination einer grandiosen Idealisierung durch den Ratsuchenden zu erliegen.

Zweifel als Merkmal eines reifen Glaubens

Ganz im Gegensatz zu ihrer Anfangsgeschichte trägt heute die Psychoanalyse zu einem besseren Verständnis religiöser Glaubensüberzeugungen bei.15 Die moderne psychoanalytische Bindungsforschung bezieht nämlich im Selbstwerdungsprozess der Seele auch Beziehungen zu einem transzendenten Gegenüber ein. Weil der christliche Glaube im Kern ein Beziehungsgeschehen darstellt, ergeben sich hier fruchtbare Dialoge und ein weiterführendes Verständnis für subjektiv passende Glaubensstile. So wie sich unsere Persönlichkeit lebenslang weiterentwickelt, verändert sich auch der Glaube mit seinen Gottesbildern und Frömmigkeitspraktiken.

Wenn das Persönlichkeitswachstum und die Glaubensentwicklung gemeinsam betrachtet werden, können reife und unreife Formen von Glaubensvollzügen plausibel unterschieden werden. Die Bindungsforschung weist darauf hin, dass die Übergänge zwischen fundamentalistischer Rechthaberei und erwartungsvollem Hoffen fließend sind. Aus psychoanalytischer Sicht lässt sich besonders der destruktive Einfluss fehlgeleiteter religiöser Sehnsüchte nachweisen. Dabei kommt der Vermittlung von Idealen und Vorbildern eine Schlüsselrolle zu. Wenn Glaubensinhalte aufgrund der Sehnsucht nach einer idealen Welt emotional gepusht werden und keine rationale Prüfung mehr durchlaufen, kann leicht ein fanatischer Glaube entstehen. Aus psychoanalytischer Sicht dient ein fanatischer Glaube dem Ziel, „alles Böse in der Welt zu bannen, damit es sich nicht mehr in inneren oder äußeren Katastrophen auswirken kann“.16

Im Rückgriff auf psychoanalytische Entwicklungsmodelle zeigt der Theologe und Psychoanalytiker Winfried Ruff überzeugend auf, wie blindes Vertrauen in abhängigen Beziehungen mit wachsender Lebenserfahrung zu gläubiger Hoffnung in Eigenständigkeit heranreifen kann. Hier fällt dem Zweifel die wichtige Funktion der Realitätsprüfung zu: „Indem der Mensch seinen ... Glauben aufgrund seiner immer wiederkehrenden Zweifel jeweils auf seine Vernünftigkeit hin beurteilt, entwickelt er eine Haltung von gläubiger Hoffnung.“17 In sektiererischen Gruppen würden jedoch der religiöse Führer idealisiert und seine Lehre ideologisiert, um den Glauben an eine absolute Wahrheit mit Gewissheit und Sicherheit festhalten zu können. Die reife gläubige Hoffnung hingegen zeichne sich dadurch aus, dass sie Zweifel zulasse und dennoch zu einem Handeln aus gläubiger Zuversicht motiviere.

Aus entwicklungspsychologischer Perspektive ist die beschriebene dogmatische Haltung eine frühe Stufe, die in späteren Reifungsschritten überwunden werden kann. Eine religionspsychologische Untersuchung von Entwicklungsverläufen bekannter religiöser Persönlichkeiten zeigte in ähnlicher Weise, wie blindes Vertrauen in einer frühen Lebensphase, die von abhängigen Beziehungen bestimmt war, mit wachsender Lebenserfahrung zu gläubiger Hoffnung in Eigenständigkeit heranreifen kann.18 Während esoterische Modelle „höheres Wissen“ versprechen, kann die christliche Tradition Phasen des Zweifelns und die „dunkle Nacht der Seele“ würdigen, durch die – im Rückblick – die Vertrauensbeziehung zu Gott zu einer einzigartigen Geschichte und dadurch gefestigt wird.


Michael Utsch


Anmerkungen

1 Überarbeiteter und gekürzter Text, der auf der Tagung „Glück und Seligkeit“ am 20.4.2013 im Palais Liechtenstein in Wien vorgetragen wurde. Das gesamte Konferenzprogramm sowie Videomitschnitte dieses Vortrags und weiterer Vorträge finden sich unter www.rpp2013.org.

2 Diese Fragen versuchte ein Spiegel-Reporter nach dem Besuch einer Hamburger Esoterik-Messe in seinem Artikel zu beantworten (Jochen-Martin Gutsch, Unter Einhörnern, in: Der Spiegel 30/2012, 52-56).

3 Markus Hero, Der Markt für spirituelles Heilen. Eine soziologische Betrachtung seiner Akteure und Institutionen, in: Constantin Klein u. a. (Hg.), Gesundheit – Religion – Spiritualität, Weinheim 2011, 149-162.

4 Christoph Bochinger/Martin Engelbrecht/Winfried Gebhardt, Die unsichtbare Religion in der sichtbaren Religion: Formen spiritueller Orientierung in der religiösen Gegenwartskultur, Stuttgart 2009.

5 Jürgen Hardt/Anne Springer, Psychotherapie und Religion – einige kulturgeschichtliche Anmerkungen, in: Psychotherapeutenjournal 3/2012, 212.

6 Claudia Barth, Esoterik. Die Suche nach dem Selbst, Bielefeld 2012.

7 Die Überschriften der ausführlichen Fall-Kapitel vermitteln einen Eindruck der Lebensthemen: Elektra: Erfahrungen des Scheiterns und esoterische Kompensation; Mona: Befreiung, mit meinem Gefühl nicht auf dem Holzweg zu sein; Elvira: Mit 40 kam der große Wandel; Michael: Ambivalenz nach 1990 – über Nacht war alles anders; Thomas: Gesellschaftliche Ausgrenzung kompensieren – die Suche nach Anerkennung; Erwin: Esoterik als Weg, sich mit dem eigenen Innenleben zu beschäftigen und sich daraus befreien.

8 Anne Koch/Karin Meißner, Psychische und vegetative Effekte des geistigen Heilens in ihrem rituellen und religionsgeschichtlichen Kontext, in: Arndt Büssing/Niko Kohls (Hg.), Spiritualität transdisziplinär, Berlin 2011, 145-166.

9 Heike Dierbach, Seelenpfuscher. Pseudo-Therapien, die krank machen, Reinbek 2009.

10 Bernhard Pörksen, Die Abhängigkeit des Gurus, in: Transpersonale Psychologie und Psychotherapie 2/2000, 70-83; Michael Utsch, Möglichkeiten der Qualitätssicherung auf dem Markt spiritueller Lebenshilfe, in: Bewusstseinswissenschaften 18/2012, 30-47.

11 Jean Lhermitte, Echte und falsche Mystiker (französisches Original Paris 1952), Luzern 1953.

12 Katharina Kluitmann, „Die Letzte macht das Licht an?“ Eine psychologische Untersuchung zur Situation junger Frauen in apostolisch-tätigen Ordensgemeinschaften in Deutschland, Münster 2008.

13 Werner Huth, Glaube, Ideologie und Wahn, München 1988, 277.

14 Sudhir Kakar, Schamanen, Heilige und Ärzte. Psychotherapie und traditionelle indische Heilkunst, München 2006, 287. In seinem Buch „Freud lesen in Goa: Spiritualität in einer aufgeklärten Welt“ (München 2008) hat der indische Psychoanalytiker die Kindheit des auch als „Osho“ bekannten Gurus Bhagwan Shree Rajneesh analysiert. Osho wurde als Säugling seinen Großeltern übergeben und wuchs sehr behütet in einem ländlichen Idyll auf. Doch der über alles geliebte Großvater starb, berichtet Kakar, als Rajneesh sieben Jahre alt war, „und die goldene Kindheit fand ein abruptes, traumatisches Ende“ (31). Der traumatische Verlust zementierte nach Kakar ein grandioses Selbst des späteren Gurus, das im Stadium eines infantilen Narzissmus verhaftet geblieben sei. Sein Verlangen, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, habe Osho mit erhöhten Aggressionen durchgesetzt. In Oshos Fall habe sich dies in Geringschätzung, Arroganz und häufiger Abwertung anderer spiritueller Meister ausgewirkt. Nach Oshos Meinung waren sie keine heiligen Männer, sondern „heiliger Dung und nutzlose bullshitter“.

15 Michael Utsch, Neue Aufmerksamkeit für Religion und Spiritualität in der Psychotherapie, in: Herder-Korrespondenz 1/2013, 42-46.

16 Winfried Ruff, Glauben und seine Heilkraft. Psychoanalytische Erkundungen zu verschiedenen Glaubensformen, in: Wege zum Menschen 57, 2005, 43-54, hier 51.

17 Ebd., 50.

18 Anton Bucher, Psychobiographien religiöser Entwicklung. Glaubensprofile zwischen Individualität und Universalität, Stuttgart 2004.