Sandra Kemp, Karlsruhe

„Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt“

Eine Seminarwoche für Teilnehmende am Freiwilligendienst

Die Autorin dieses Werkstattberichts ist Referentin für Weltanschauungsfragen in der badischen Landeskirche. Bei dem vorgestellten Projekt handelte es sich um eine Seminarwoche für Freiwillige im FSJ (Freiwilliges Soziales Jahr) des Diakonischen Werkes Baden, durchgeführt unter dem Titel „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt – Ein Streifzug durch den Supermarkt der Weltanschauungen“. Das Seminar wurde als Präsenzveranstaltung geplant, musste dann aber digital durchgeführt werden (März 2021). Später fand es noch einmal in Präsenz statt. Das Projekt, wurde mit dem Innovationspreis der Landeskirche ausgezeichnet. Wir dokumentieren den begleitenden Bericht in stark gekürzter Form.

Die Seminaridee entstand aufgrundmeiner früheren Tätigkeit als Bildungsreferentin in den Freiwilligendiensten des Diakonischen Werkes Baden (DWB). Dort wurde in der Seminararbeit mit den Freiwilligen immer wieder das Thema „religiöse Sondergruppen“ behandelt und stieß auf spürbares Interesse. Es legte sich nach meinem Wechsel zur „Fachstelle für Weltanschauungsfragen“ nahe, dieses Thema in Form einer Seminarwoche zur weltanschaulichen Vielfalt aufzugreifen.

Bildungsseminare im Freiwilligendienst unterliegen bestimmten Rahmenbedingungen.Das DWB ist anerkannter Träger für den Jugendfreiwilligendienst – Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) und Bundesfreiwilligendienst (BFD). Im Rahmen des Freiwilligendienstes leisten zumeist junge Menschen einen Dienst von in der Regel zwölf Monaten in einer sozialen Einrichtung. Neben dem praktischen Einsatz finden verpflichtende Bildungstage statt – bei einem Dienst von zwölf Monaten sind es 25. Im DWB werden diese in fünf Blöcken zu je fünf Tagen durchgeführt. Vier der Seminarblöcke finden in einer festen Seminargruppe statt. Der fünfte Block ist ein Wahlseminar. Insbesondere die Begleitseminare machen den Freiwilligendienst, neben der Arbeit in der jeweiligen Einsatzstelle, zu einem „Bildungs- und Orientierungsjahr“.

Planung und Durchführung

Als Grundstruktur des Wahlseminars waren in sich geschlossene Thementage vorgesehen, an denen jeweils ein Themenfeld der Fachstelle intensiver bearbeitet werden sollte. Neben der inhaltlichen Arbeit wurde viel Zeit eingeplant für Gespräche und Diskussionen zu den einzelnen Themen und Raum für die Reflexion der Erfahrungen der Freiwilligen. Es hat sich gezeigt, dass der Redebedarf bei den jungen Erwachsenen groß ist. Dabei geht es um die Frage, warum Menschen in Sondergruppen geraten und deren Lehren glauben. Es geht aber auch um das Nachdenken über die eigene Religiosität.

Junge Menschen suchen ihren Platz in einer komplexen Welt, in der alles möglich scheint, die viele Freiheiten bietet, in der ethische und moralische Grenzen gedehnt und aufgeweicht werden und in der sich das Gefühl einstellen kann, es fehle oft ein Orientierungskompass bei der Suche nach dem Platz im Leben. Daher war Prävention eines der Themen, die sich durch die ganze Woche ziehen sollten: das Sensibilisieren für die Versprechen und Verlockungen von Gruppierungen, Gemeinschaften und Einzelpersonen, das Hinterfragen von vermeintlichen einfachen Wahrheiten und Dualismen und die Stärkung des eigenen Selbstbewusstseins und Selbstvertrauens.

Am Anreisetag sollte es um eine Standortbestimmung und einen Abgleich der Planung mit den Erwartungen und Befürchtungen der Freiwilligen gehen. Was bringen sie an Erfahrungen und Themen mit, warum haben sie sich für dieses Seminar entschieden? Für den zweiten Tag stand das Thema „religiöse Sondergemeinschaften“ auf dem Programm. Dazu sollten die Freiwilligen zu selbstgewählten Gruppen recherchieren – hinsichtlich Entstehung, Verbreitung, Lehre, Aufbau, Finanzierung, gesellschaftlicher Relevanz – und Kritikpunkte aus evangelischer oder katholischer Sicht überlegen. Ausgehend von den Befunden des Vortages standen für den dritten Tag sowohl grundsätzliche Fragestellungen auf dem Plan (u. a.: Was macht eine Religion bzw. eine religiöse Gemeinschaft aus? Was sind Kriterien, wann eine Gemeinschaft zu einer Sondergemeinschaft wird?) als auch die Frage nach einem möglichen Ausstieg aus einer solchen Gemeinschaft; schließlich auch die Frage, wie die Fachstelle in diesem Prozess begleiten kann. Nach der Beschäftigung mit bestehenden Gemeinschaften und einem Einblick zu der Frage „Was ist Religion?“ sollten die Freiwilligen in einer Art Planspiel ihre eigene Sondergruppe gründen. Inhaltlich leitend sollten dabei Überlegungen sein, wie sie ihre eigene Religion organisieren wollen, wie sie, als Gründungsgruppe, ihre Macht und ihren finanziellen Vorteil sichern können und wie sie möglichst so nach außen auftreten, dass sie nicht in Konflikt mit der Gesellschaft geraten. Der vierte Tag hatte zwei Themenschwerpunkte, Esoterik und „außergewöhnliche Erfahrungen“ (z. B. außerkörperliche Erfahrungen, Spuk, sich bewahrheitende Vorahnungen und Träume). Am Abreisetag sollte es um Verschwörungserzählungen gehen und um eine mögliche Kommunikation mit Menschen, die solchen Denkmustern verhaftet sind.

Ursprünglich war das Seminar als Präsenzveranstaltung geplant, doch durch die Corona-Pandemie stand das Vorbereitungsteam vor der Wahl, es entweder ausfallen zu lassen oder es digital durchzuführen. Da sich über 20 Freiwillige angemeldet hatten, haben wir uns für die Verlegung in den digitalen Raum entschieden und das Programm an die neuen Gegebenheiten angepasst. Die Herausforderungen der digitalen Durchführung waren aber nicht unerheblich. An der inhaltlichen Schwerpunktsetzung und der Themenverteilung änderten wir nichts, neben der Methodik musste aber der zeitliche Rahmen neu geplant werden. Statt fünf Tagen mit Übernachtung gab es jetzt nur fünf Stunden pro Tag, also 25 Stunden für das gesamte Seminar. Komplett herausgefallen ist die Gründung der eigenen Gruppe, die anderen Themenbereiche haben eine Kürzung erfahren.

Rückblick und Fazit

Die Tatsache, dass sich über 20 Freiwillige für das Seminar angemeldet hatten, zeigt, dass das Thema „weltanschaulich-religiöse Vielfalt“ einen Platz in der Lebenswelt junger Erwachsener hat. Dabei spielt es keine Rolle, dass der Träger des FWD die Diakonie bzw. die Kirche ist. Die Freiwilligen suchen sich eine konkrete Einsatzstelle aus, die dann eben einen Träger hat, in diesem Fall das Diakonische Werk. Im Freiwilligendienst findet sich ein Querschnitt der Gesellschaft wieder. Somit gibt es in den Seminargruppen Freiwillige, die eine (zum Teil hohe) Verbundenheit mit dem Glauben haben, und auch solche, die dem Religiösen sehr kritisch gegenüberstehen – und alles dazwischen.

Für die Gruppenatmosphäre ist das digitale Format sehr herausfordernd. Allein die Tatsache, dass jede und jeder in seinem eigenen und vertrauten Umfeld sitzt und sich nur gedanklich in den digitalen Seminarraum begibt, hat große Auswirkungen. Es kann schnell zu Ablenkungen kommen, und das Seminar wird dann zu einem Video oder etwas Ähnlichem, das nebenbei läuft. Zwar kann man sich auch in einer Präsenzveranstaltung gedanklich ausklinken, aber durch die Anwesenheit im Raum kommt man leichter wieder zurück zum Seminargeschehen.

Wir hatten im Seminar immer wieder einen Wechsel der Sozialform ins Programm eingebaut, damit es nicht nur auf eine reine „Frontalveranstaltung“ und eine „lehrerzentrierte Arbeitsform“ hinauslief. Allerdings gibt es m. E. einen großen Unterschied beim Sozialformwechsel zwischen Präsenzgeschehen und digitalem Format. Bei Ersterem bewegen sich die Teilnehmenden bei einem Sozialformwechsel, sie wechseln manchmal sogar den Raum. Dadurch bricht etwas auf, und der neue Raum wirkt sich auf das Gruppengeschehen aus. Im digitalen Format wird nur von vielen „Kacheln“ auf wenige gewechselt, die Teilnehmenden setzen sich nicht in Bewegung. Aber dennoch bietet der kleinere Raum (die „Breakout Session“) die Möglichkeit, sich direkter auszutauschen.

Allerdings waren der Austausch und besonders die Diskussion im Digitalen nicht sehr ausgeprägt. Das mag an der Gruppe gelegen haben, die sich vorher nicht kannte oder am Medium selbst. Rückmeldungen von anderen Seminarleitungen haben aber den Eindruck bestätigt, dass die Freiwilligen im digitalen Raum nicht so stark interagieren und diskutieren wie bei Präsenzveranstaltungen. Die Rückmeldungen der Freiwilligen am Ende der Woche waren dennoch überwiegend positiv. „Das Seminar war interaktiv und unsere Meinung wurde einbezogen.“ – „Auf Fragen wurde ausführlich eingegangen.“ – „Ich habe neue Sichtweisen bekommen.“

Müssen für ein gutes digitales Lernen neue, andere Sozialformen entwickelt werden? Wie kann eine gute Lernumgebung im digitalen Raum gestaltet werden? Greifen die bekannten und bewährten Lerntheorien auch in einer solchen Lernumgebung? Brauchen wir erweiterte oder ganz neue Denkansätze, Modelle und Theorien? Und wie müssen sich Didaktik und Pädagogik unter diesen Bedingungen verändern?

Thematische Schwerpunkttage haben den Vorteil, dass man sich nicht nur intensiv mit einer Thematik auseinandersetzen kann, sondern auch mit damit verbundenen persönlichen Fragestellungen. Bei der Frage nach den Lehren der unterschiedlichen Gemeinschaften geht es nicht nur um reines Faktenwissen, sondern es schwingt immer die Frage mit, was ich persönlich glaube. Finde ich bei den vorgestellten Inhalten Anknüpfungspunkte für mein Wertesystem, für meinen Glauben? Wo löst es etwas bei mir aus? Wo kann ich vielleicht mitgehen? Wo erfahre ich etwas, das meinen (bisherigen) Vorstellungen völlig widerspricht?

Wenn es darum geht, herauszuarbeiten, warum sich Menschen freiwillig in (ein)engende Gemeinschaften begeben, sich von einer Führungspersönlichkeit abhängig machen und ihre persönliche Freiheit – in Bezug auf Meinungsäußerung, Weltbild etc. – abgeben, kommen bei den Freiwilligen oftmals Äußerungen, wie „die blicken es einfach nicht“ oder „die sind nicht so schlau“. Wenn man sie dann aber damit konfrontiert, dass es keinerlei Zusammenhang gibt zwischen Bildung, gesellschaftlichem Stand oder Alter und der Möglichkeit, in eine solche Gemeinschaft zu geraten, kommen viele ins Nachdenken. Sie erkennen, dass die Gründe für einen Eintritt (wenn er selbstgewählt ist und nicht seit der Geburt besteht) meist mit bestimmten (Grund-)Bedürfnissen zusammenhängen, und dann fängt zumeist ein Prozess des Nachvollziehens an. Dies ist einer der Bausteine der präventiven Arbeit.

Das ist dann sehr häufig der Punkt, an dem ein Seminar in Präsenz viel zielführender ist. Dort finden viele Nebengespräche außerhalb des Programms statt. Die Freiwilligen erleben: Hier ist ein Raum, in dem ich meine Fragen stellen kann, hier werde ich nicht komisch angeschaut, weil ich mich für religiöse oder spirituelle Themen interessiere. Solche informellen Gespräche können in einem digitalen Setting so nicht geführt werden. Es fehlen das gemeinsame Essen, das (zufällige) Treffen am Abend oder auch das verabredete Gespräch.


Sandra Kemp, Karlsruhe, 01.03.2023

Gut angekommen sind bei den Freiwilligen der Bezug zu ihrer Lebens- und Arbeitswelt und die Einbeziehung von Erfahrungen, die ich in der praktischen Arbeit in der Fachstelle bisher gemacht habe. Durch diese Beispiele wurden die Themen greifbarer und waren weniger abstrakt.