Yukio Matsudo

Das Vier-Schichten-Modell für die Einschätzung einer Glaubensgemeinschaft

Dargestellt am Beispiel der Soka Gakkai

Der vorliegende Text wurde durch eine Podiumsdiskussion zum Thema „Religionen bewerten“ am 12. Februar 2015 im Rahmen des Jahresempfangs der EZW in Berlin angeregt (vgl. MD 5/2015, 177ff) und bezieht sich auf die methodologische Problematik in der Einschätzung anderer Glaubensgemeinschaften.

Es ist kein leichtes Unterfangen, andere Glaubensgemeinschaften objektiv oder zumindest angemessen zu beurteilen, da über die rein doktrinäre Ebene hinaus auch emotionale, kulturelle und institutionelle Aspekte sowie soziopolitische Rahmenbedingungen zu berücksichtigen sind. Außerdem beurteilt jeder aus seiner eigenen Perspektive heraus, die durch persönliche Erfahrungen, Erkenntnisse und Interessenslagen sowie die eigene Kultur geprägt ist.

Wie komplex diese Aufgabenstellung auch sein mag – sie kann weitgehend dadurch bewältigt werden, dass man eine Glaubensgemeinschaft nicht nur von außen beurteilt, sondern auch die Innensicht, die Perspektive der Mitglieder, mit einbezieht. Ein komplementäres Spannungsverhältnis zwischen der Innen- und der Außensicht soll eine optimale Einschätzung ermöglichen. Dieser methodologische Ansatz lässt sich im Folgenden anhand des Beispiels der japanischen buddhistischen Laienorganisation Soka Gakkai (SG) und ihrer Tochterorganisation Soka Gakkai International-Deutschland (SGI-D) demonstrieren. Dabei haben sich vier verschiedene Schichten ergeben, die für eine umfassende Einschätzung der Organisation zu berücksichtigen sind.

1. Eine andere Wahrnehmung gegenüber dem offiziellen Gesicht

Die erste Schicht betrifft das „offizielle Gesicht“, das die japanische Organisation SG nach außen hin präsentiert. Hier wird verständlicherweise immer wieder ihre Selbstdarstellung zitiert, die auch Friedmann Eißler im Materialdienst der EZW aufgreift: „Die japanische buddhistische Religionsgemeinschaft tritt als Gesellschaft für Frieden, Kultur und Erziehung auf und fördert Ausstellungen, Konzerte, kulturelle Projekte und Einrichtungen der Friedensforschung.“1 Die SG ist gleichzeitig „nicht nur zahlenmäßig mächtig und finanzstark, sondern auch die politisch erfolgreichste Bewegung in Japan“2. Die Problematik der Übernahme dieser offiziellen Darstellung soll zunächst durch die konkrete politische Aktivität der SG in Japan veranschaulicht werden.

Die SG startete – nach der Auflösung ihres Vorgängers während des Zweiten Weltkriegs – ab 1952 erneut als eine selbstständige laienbuddhistische Organisation innerhalb der Nichiren Shoshu, einer der priesterlich ausgeprägten, Nichiren-buddhistischen Traditionslinien, und übernahm vollständig deren spezifische Doktrinen einschließlich ihres radikalen Absolutheitsanspruchs.3 So führte die SG in der Nachkriegszeit eine oft als aggressiv bezeichnete Bekehrungskampagne (Shakubuku) durch und wurde immer erfolgreicher und mächtiger. 1964 gründete sie die „Gerechtigkeitspartei“ Komeito als ihren politischen Arm, um das Heiligtum der Nichiren Shoshu auf die Staatsebene zu bringen.4 Der wachsende Einfluss der SG sorgte für Argwohn in der japanischen Öffentlichkeit und führte immer wieder zu dem Vorwurf, gegen die in der japanischen Verfassung vorgeschriebene Trennung von Staat und Religion zu verstoßen. Um sich diesem Vorwurf zu entziehen, vollzog die SG 1977 eine entsprechende Trennung von der Partei, die jedoch nur formaler Natur war. Hinsichtlich des Wählerverhaltens der SG-Mitglieder kommt Ulrich Dehn dennoch zu der Schlussfolgerung: „Jedenfalls kann nicht von der SG als mehr oder weniger einheitlichem Wählerblock für die Komeito gesprochen werden.“5

Ich hatte die Gelegenheit, über mehrere Jahre an diversen Veranstaltungen der SG in Japan teilzunehmen. Jedes Mal, wenn eine Wahl auf nationaler oder lokaler Ebene stattfindet, werden alle japanischen SG-Mitglieder zur intensiven Wahlhilfe mobilisiert. Sie hängen Werbeplakate für die Komeito-Partei an ihr eigenes Haus und werden dazu aufgefordert, zur Gewinnung von Wählerstimmen für die Partei von Tür zu Tür zu gehen. 6 In den als buddhistisch deklarierten Versammlungen werden Werbevideos für die Partei gezeigt, und man tauscht sich über das Ergebnis der Rekrutierung aus. Der interne Gruppendruck ist groß, und die Mitglieder sind fest davon überzeugt, dass die Durchführung solch weltlicher Aktivitäten für die Organisation eine „buddhistische Praxis“ darstelle, um auf der persönlichen Ebene „gutes Karma“ anzusammeln und auf der organisatorischen Ebene zum „Weltfrieden durch Verbreitung des Nichiren-Buddhismus“ (Kosenrufu) beizutragen.

Das offizielle Gesicht zeigt somit eine formale Trennung zwischen der SG und ihrer politischen Aktivität, während das inoffizielle Gesicht eine vollständige Identifikation der SG mit der Komeito-Partei aufzeigt. Letzteren Aspekt kann ein „Beobachter von außen“7 nicht in seinem vollen Umfang sehen, solange er nur offizielle Zahlen, Daten und Fakten sammelt und auf einer theoretischen Ebene bleibt.

Als ein weiteres Beispiel sei die letzte Konsequenz der Kontroverse zwischen der SG und der Nichiren Shoshu thematisiert. Die SG entwickelte sich rasch von einer kleinen Laienbewegung zu einem weltweit agierenden Multikonzern. In diesem Prozess der globalen Verbreitung des Nichiren-Shoshu-Buddhismus nahm der SGI-Präsident Daisaku Ikeda immer mehr westliche, humanistische Aspekte in seine Reden und Schriften auf. So wurde die Kluft bezüglich des doktrinären Verständnisses zwischen der modernistischen Laienbewegung der SG und dem traditionalistischen Tempelbuddhismus der Nichiren Shoshu immer größer. Dementsprechend veränderte sich das Machtverhältnis zwischen beiden derart, dass die Laien nunmehr begannen, Kritik an den „Missständen der Priesterschaft“ zu üben.8 Schließlich – so die offizielle Darstellung der SG/SGI – „kam es 1991 zur Trennung zwischen der Nichiren-Shoshu-Priesterschaft und der SGI“9, wobei in Wirklichkeit die SG von der Nichiren Shoshu „exkommuniziert“ wurde.

Eißler kommentiert diesen Vorfall durch Bezugnahme auf die Arbeit von Robert Kötter: „Dies scheint Schock und Befreiung zugleich gewesen zu sein. Die SG agiert seither freier und entwickelt sich als eigenständige Religionsgemeinschaft mit mehrheitlich westlich sozialisierten Mitgliedern.“10 Die Beschreibung, dass die betreffende Exkommunikation eine „Befreiung“ und eine weitere „freie, unabhängige“ Entfaltung der SG-Bewegung bedeuten soll, ist nicht nachvollziehbar und kann nur aus einer offiziellen Rechtfertigung der SG stammen. Denn die SG hatte schon immer über einen großen Spielraum verfügt, ihre Laienbewegung frei und eigenständig zu gestalten. Sie hatte sogar bereits die wichtigen buddhistischen Praktiken und Aufgaben übernommen, die traditionsgemäß ausschließlich den Priestern vorbehalten waren, wie z. B. die zeremonielle Liturgie mit Sutra-Rezitation (Gongyo). Daher endete die „Protestaktion“ der SG lediglich in der Einführung einer neuen Form der „Trauerfeier unter den Freunden ohne Anleitung eines Priesters“11. Was jedoch die Nichiren-buddhistischen Grundelemente betraf, wie das Mandala als Objekt der Verehrung (Gohonzon) und die Auslegung der buddhistischen Doktrinen, so waren diese unangetastet in der Obhut des Haupttempels der Nichiren Shoshu geblieben. Nur durch die Anbindung an den Haupttempel konnte die SG/SGI ihre religiöse Legitimation als Teil der buddhistischen Traditionslinie gewährleisten.12 Durch die Exkommunikation hatte sie jedoch ihre bisherige buddhistische Authentizität verloren und musste daher ihren ganzen Fokus auf die exklusive Meister-Schüler-Beziehung mit SGI-Präsident Ikeda richten, um den Zusammenhalt der Organisation sicherzustellen. So wurde die an Personenkult grenzende Verehrung noch massiver, wobei Ikeda selbst seit einigen Jahren – vermutlich aufgrund einer Erkrankung – nicht mehr öffentlich in Erscheinung tritt.

2. Der quasi-innere Blick

Zur angemessenen Einschätzung einer religiösen Organisation besteht also die Notwendigkeit, nicht bei der Übernahme ihrer offiziellen Selbstdarstellung stehen zu bleiben, sondern einen Blick hinter das offizielle Gesicht zu werfen. Diese zweite Schicht kann z. B. durch eine beobachtende Teilnahme an Veranstaltungen sichtbar gemacht werden.

Die Soka Gakkai in Deutschland präsentiert sich wie die japanische SG gern als eine „buddhistische, humanistische Organisation für Frieden, Erziehung und Kultur“, die daher allen anderen christlichen und buddhistischen Religionen gegenüber tolerant und auch für Dialoge offen sei. Dies ist das „offizielle Gesicht“ nach außen. Dehn besuchte am Tag des Offenen Denkmals 2001 die Villa Sachsen in Bingen am Rhein und schloss seinen Bericht mit dem Satz ab: „Die SGI hat auch Kritiker, aber ihre allgemeinen Öffnungs- und Demokratisierungsprozesse, die Transparenz ihrer internen Diskussionen, mitunter im deutschen Organ ‚Forum‘ nachzulesen, und die durchgängige Offenheit, die mir am 9.9. in Bingen begegnete, hinterlassen einen positiven Eindruck.“13 Das Problem ist dabei nicht, dass er sich mit seiner Wahrnehmung über die Organisation und ihre Mitglieder getäuscht hätte, sondern dass er lediglich weitere Teile ihres offiziellen Gesichts präsentiert bekam.

Offizielle Aussagen in den Publikationen der Organisation zu lesen, an einer offiziell angelegten Veranstaltung teilzunehmen oder ein Interview mit hochrangigen Funktionären zu führen: All diese Versuche werden meist nur einen quasi-inneren Blick, nur die halbe Wahrheit vermitteln. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Organisation aufgrund ihres Kulturstandards – wie in der asiatischen, aber auch der islamischen Kultur – stark zwischen dem „Gesicht nach außen“ und dem „Gesicht nach innen“ unterscheidet.

Ein tiefer gehender innerer Blick ist eher durch die Teilnahme an Veranstaltungen auf der lokalen Ebene zu erhalten. Dort kann man die regulären Aktivitäten der Mitglieder einschließlich ihrer Rede- und Verhaltensweisen beobachten, Gespräche mit ihnen führen oder auch eine Umfrageaktion durchführen.

Kötter hat 2005 im Rahmen seiner religionssoziologisch angelegten Untersuchung über die SGI-D eine Umfrageaktion innerhalb der Organisation durchgeführt und das Ergebnis vorgelegt. In seiner Rezension über das Buch Kötters zitiert Dehn einige positive Ergebnisse: „Entscheidend ist nicht mehr die Abhängigkeit von Japan, die große Mehrheit der Mitglieder sind Deutsche und es hat eine erhebliche Assimilation stattgefunden.“14 Ähnlich übernimmt Werner Höbsch in seiner kurzen Beschreibung der SGI-D eine Schlussfolgerung aus dem Ergebnis: „Mit dem immer größer werdenden Anteil an Deutschen, die heute mit 82 % die Mehrheit bilden, hat sich auch die Struktur des Vereins verändert.“15

Neben diesen als positiv dargestellten Ergebnissen berichtet Kötter selbst jedoch auch über die „Überrepräsentation der Japaner“ gerade in den oberen Rängen der Hierarchie der Glaubensgemeinschaft sowie in der Leitung des Vereins (SGI-D e. V.).16 Nach außen erscheinen die Deutschen als Vorstandsmitglieder, Geschäftsführer oder auch als hochrangige Amtsträger, sie sind jedoch ohne Absprache mit den japanischen Funktionären zu keiner nennenswerten Entscheidung befugt. Das von außen unsichtbare „Schattenkabinett“ wird u. a. durch einen Japaner und seine Ehefrau geleitet. Dieser ist schon lange ein von Japan aus bezahlter Vizepräsident der SG und für ganz Europa verantwortlich. Er spricht alle wichtigen Organisations-, Finanz- und Immobilienverwaltungsfragen mit dem Hauptquartier in Tokio – bis hin zu Präsident Ikeda – ab. Daher war es für Kötter verständlicherweise unmöglich, dieses typisch japanische Kulturmuster der versteckten Kontrolle und Macht hinter den offiziellen Darstellungen zu erkennen. Vor diesem Hintergrund waren im Gegensatz zu der Einschätzung von Dehn und Kötter17 kaum nennenswerte „interne Reformen und Strukturveränderungen“ zu erwarten, da die „Abhängigkeit von Japan“ de facto weiterhin bestand und noch besteht.

Erfahrungsbericht 1:18Zur Untermauerung dieses Hinweises sei eine Passage aus dem Bericht zitiert, den AA mir am 3.2.2015 zur Verfügung stellte. Sie hatte sich in der „Reformgruppe“, von der hier die Rede ist, jahrelang engagiert und zog sich schließlich enttäuscht von der SGI-D zurück. Sie schreibt: „Zitat, das mir vor kurzem zu Ohren kam, von einer Person mit einer hohen Verantwortung in der SGI: ‚Ach, die Reformgruppe. Die war doch nur mal so ein Ventil.‘ Da hinein habe ich Jahre meines Lebens intensiv investiert! … Es besteht von Seiten der Verantwortlichen keinerlei Reforminteresse. Alles nur Lippenbekenntnisse – unter dem Strich bleibt immer dieselbe Enge, derselbe fundamentalistische Grundzug, eine Unfähigkeit, als Gemeinschaft zu wachsen, sich zu entwickeln, sich demokratische Gepflogenheit zuzulegen usw. Alles wird mit Meister-Schüler-Propaganda zugekleistert – auch das finde ich unerträglich, als gäbe es keine anderen Inhalte der buddhistischen Philosophie als dieses eine Prinzip. Menschlich hat mich am Ende vor allem auch geschmerzt, dass so viele langjährige Mitglieder gegangen sind – und dieser Braindrain und Menschendrain in keiner Weise zum Aufwachen geführt hat. Die Leute blieben frustriert weg – und das Hamsterrad dreht sich einfach immer weiter. Das hat mit Mitgefühl, Gemeinschaftlichkeit, Mensch im Mittelpunkt usw. absolut nichts zu tun und das ist tatsächlich auch der einzige Punkt, den ich menschlich übelnehme.“ Zudem machteAA ihren Austritt aus der SGI-D auch öffentlich mit dem Satz: „Die Starre der Traditionen und die engen Korridore des buddhistischen Verständnisses wurden mir unerträglich.“19

3. Die instrumentalisierte Innensicht

Dehn weist auf einen entscheidenden Mangel an der „groß angelegten Fragebogenaktion unter den deutschen SG-Mitgliedern“ hin, „die in Kooperation mit der SGI-D durchgeführt und deren Kosten sogar von dieser getragen wurden“.20 Die ausgedruckten Fragebögen wurden nämlich, wie einige Augenzeugen berichten, über den üblichen internen Kanal vom Hauptquartier über die Regions-, Hauptstellen-, Bereichs- und Bezirksleiter bis hin zu den Gruppenleitern weitergeleitet, um sie dann an die Mitglieder ohne Leiterfunktion weiterzureichen. An dieser letzten Stelle fand teilweise auch eine gewisse Auswahl für die Verteilung der Fragebögen statt, sodass am Ende in der Tat das methodologische Problem bestand, „dass es einen Rücklauf nur von den engagierten und aktiven Mitgliedern gab, wodurch das Ziel einer repräsentativen Untersuchung unterlaufen wurde“21. Es war allerdings auch die klar deklarierte Zielsetzung Kötters, „die aktive Mitgliedschaft zu untersuchen“22, und er nahm bewusst in Kauf, die Stimmen der kritischen und teilweise auch inzwischen inaktiven Mitglieder nicht zu berücksichtigen, die mindestens ein Drittel der offiziell angegebenen Mitgliederzahl betragen dürfte.

Die dritte Schicht der Problematik bezieht sich dabei nicht so sehr auf die wissenschaftliche Arbeit Kötters selbst, sondern vielmehr auf einen eventuellen Missbrauch dieser Arbeit zu Propagandazwecken der SGI-D. Kötters Publikation wird neben vielen anderen ähnlichen Publikationen von der SGI-D verwendet, um das eigene Image positiv zu präsentieren. Die SG/SGI sind stets darum bemüht, prominente Persönlichkeiten und Institutionen in Politik, Kultur und Wissenschaft für sich zu gewinnen. Dazu gehört auch ein Phänomen, über das sich Dehn mit Recht wundert; er fragt, „auf welchen Verdiensten die inzwischen mehr als einhundert Ehrendoktoren Ikedas beruhen“23. Heute, zehn Jahre später, ist neben diversen Verdienstkreuzen die Zahl der Ehrendoktortitel auf 355 gestiegen.24 Viele Bildungsinstitute erhalten zunächst Büchergeschenke, um damit ihre finanzschwachen Bibliotheken zu füllen. Im Gegenzug werden sie dann dazu eingeladen, dem Gründer der Soka-Universität einen Ehrentitel zu verleihen. Daisaku Ikeda, Präsident der SGI, kann sich einer Vielzahl der von ihm selbst gegründeten Einrichtungen im Bereich Erziehung, Kultur und Frieden bedienen, um sich mit großen Persönlichkeiten der Welt zu präsentieren. Auch die meisten Bücher, die in seinem Namen erschienen sind, stammen nicht aus seiner eigenen Feder. Diese Janusköpfigkeit bzw. Doppelgleisigkeit stellt ebenfalls einen Aspekt des japanischen Kulturstandards dar und kann manchen als nicht authentisch und transparent erscheinen.

4. Die Tiefenstruktur

Die vierte Schicht bei der Einschätzung einer Glaubensgemeinschaft betrifft schließlich die Tiefenschicht, die sich erst über die persönlichen Erfahrungen der Betroffenen erschließt. Neben einem Einblick in die spirituelle Tiefe ergibt sich allerdings auch noch eine ganz andere Perspektive, nämlich dann, wenn kritische Mitglieder und Aussteiger, aber auch diejenigen Außenstehenden befragt werden, die mit bestimmten Konflikten und Leidensgeschichten konfrontiert gewesen sind. Sie können wichtige Anhaltspunkte zur Einschätzung der einer Glaubensgemeinschaft spezifischen „strukturellen Probleme“ ans Tageslicht bringen. Als Quelle dienen persönliche Gespräche, aber auch Erfahrungsberichte und Diskussionsbeiträge in Internet-Foren und bei Facebook.25 Generell gilt es dabei, von solchen Äußerungen Abstand zu nehmen, die sich in Form von Feindseligkeit, Verleumdung oder übler Nachrede gegen einzelne Personen oder die gesamte Organisation richten. Diese Art von Äußerungen erscheinen als zu emotional motivierte, negative und unbegründete Unterstellungen und überschreiten die Grenze einer sachbezogenen Diskussion. Erwähnenswert sind dagegen Äußerungen über die „Muster der Konflikte“, die in der Organisation strukturell bedingt sind und daher auch in vielen Einzelfällen vorkommen.

Auf solche Datensammlungen stützen sich die folgenden Analysen über die Tiefenstruktur der SGI-D, wobei eine Reihe von wichtigen Kriterien und Fragestellungen aus der Orientierungshilfe der Deutschen Buddhistischen Union (DBU) für „unheilsame Strukturen in Gruppen“ herangezogen wird.26 Diese Fragen werden als Überschriften wiedergegeben, und die Einschätzungen werden anschließend mit Auszügen aus den gesammelten Daten in Form von anonymisierten „Erfahrungsberichten“ untermauert, soweit es erforderlich erscheint.

Gibt es Verleumdung, Falschinformationen oder Herabsetzung von Kritikern, Andersdenkenden oder anderen Gruppen, Lehrenden oder Traditionen?

Der Absolutheitsanspruch auf den „wahren Buddhismus“27 und zugleich auf die „einzig wahre Nichiren-buddhistische Organisation“ war die Triebkraft für das rasante Wachstum der SG seit der Nachkriegszeit und stellt heute noch die Grundlage ihres dogmatischen Selbstverständnisses dar. Dabei richtet sich die SGI-D nicht allein gegen andere Nichiren-Schulen, sondern sowohl gegen alle anderen buddhistischen Schulen als auch alle anderen Religionen, die nahezu insgesamt als minderwertige oder falsche Religionen stigmatisiert werden.

Erfahrungsbericht 2: BB berichtet am 28. August 2014 im genannten FB-Forum28 über den Grund für ihren Austritt aus der SGI-D. Ein „linientreues“ Mitglied CC versucht alle von ihr als kritisch genannten Aspekte zu verharmlosen. BB weist weiter auf Widersprüche in den gängigen Aussagen der SGI hin: Sie sei eine Organisation für den Frieden, sie sei zugleich jedoch die bessere Religion als alle anderen, da die Menschen außerhalb der SGI nicht wirklich glücklich werden könnten. Dazu führt CC zur Rechtfertigung u. a. das Beispiel an, dass lediglich zu Weihnachten die Kirchen voll sind und der gelebte christliche Glaube im Alltag nicht gelebt wird. BB merkt dagegen an: „Und die Kirche, Gott bzw. andere Religionen schlechter dastehen zu lassen macht die SGI nicht besser!!! Und sagt ihr nicht auch, dass man nur durch das Chanten wirklich glücklich werden kann? Und die Erleuchtung erlangen kann? Also heißt das, dass ich nicht wirklich glücklich werden kann? Und auch sämtliche buddhistischen Priester auf der Welt werden nie die Erleuchtung erlangen, weil sie nicht den Nichiren Buddhismus praktizieren?“

Diese extrem exklusivistische Haltung der SGI-D ist allerdings bei den meisten deutschen Buddhisten sehr ungewöhnlich und verstößt beispielsweise gegen eine der grundsätzlichen Aufnahmebedingungen der DBU. So verpflichten sich in der DBU alle Mitgliedergemeinschaften und Einzelmitglieder zur „Einheit aller Buddhisten“ und akzeptieren ihre eigene Schule als eine von vielen verschiedenen Traditionslinien.29 Es verhält sich daher wohl nicht primär so, wie Kötter meint, dass der Hauptgrund dafür, dass sich die SGI-D „von diesem Dachverband distanziert“, in einem „unterschiedlichen Verständnis über den Buddhismus“ liegt.30 Auf der anderen Seite trifft auch nicht zu, was Dehn vor Jahren vermutet, dass die Ablehnung vonseiten der DBU auf die „deutsche Übernahme der alten Polemik des japanischen Zen-Buddhismus gegen die Konkurrenz durch die Nichiren-orientierten Schulen“31 zurückgeführt werden kann. Denn der Nichiren-Buddhismus selbst ist ja mittlerweile (seit April 2013) durch den Verein Nichiren Sangha in der DBU vertreten.

Beeindrucken mich Heilsgeschichten oder Heilsversprechen? Wird in der Lehrer-Schüler-Beziehung Abhängigkeit geschaffen?

Der exklusive Wahrheitsanspruch ist mit dem Heilsanspruch verknüpft, dass man nur in der SGI-Organisation glücklich werden könne, und das führt zur ideologisch radikalen Polarisierung zwischen den Gläubigen (ingroup) und Nicht-Gläubigen (outgroup). Diese geschlossene, exklusive Gruppenidentität wird emotional dadurch noch intensiviert, dass die gesamte SGI unter der Schirmherrschaft ihres Meisters Ikeda als eine „große Familie“ propagiert wird. Die Loyalität zur SGI und zum Meister Ikeda stellt dabei die erste und wichtigste Bedingung für die Konformität mit der Organisation dar.32 Hinzu kommt das japanische Prinzip der „Harmonie“, das für die homogene Gesinnung unter den Mitgliedern sorgt. Das zeigt sich ebenfalls darin, dass die regulären lokalen „Diskussionsversammlungen“ nicht in einem buddhistischen Zentrum, sondern meistens in der Wohnung eines Gruppenleiters stattfinden oder dass die Konvertierungslinie in Anlehnung an das „Eltern-Kind-Verhältnis“ gedeutet wird.33 All diese Vermischungen von organisatorischen und privaten Bereichen intensivieren das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem Freundeskreis, der einer Großfamilie ähnelt. Die Zugehörigkeit zu dieser „Großfamilie“ bedeutet für viele ein „Heilsversprechen“ auf der emotionalen, seelischen Ebene.

Erfahrungsbericht 3: Im FB-Forum vom 7.2.2015 ging es um die Frage nach dem Hauptgrund für viele Konflikte innerhalb der SGI-D. DD gibt sein Verständnis wieder: „‚Der Schüler sucht sich seinen Meister selbst aus‘, heißt es, wenn dann Deine Antwort nicht Daisaku Ikeda heißt, bekommst Du die Gelbe Karte … Alle Leute, die austreten oder zumindest mit dem Gedanken spielen, sind am Leiden. Keiner macht es sich einfach. Es ist genauso, wie man sich von einem Partner trennt. Oft, so sehe ich es in der Praxis, steht bei vielen Mitgliedern und vor allem Leitern nicht mehr der Mensch und die Person im Vordergrund, sondern der Personenkult um Ikeda … und die Organisation … Diesen Weg halte ich nicht nur persönlich für falsch, sondern auch für gefährlich.“

Kann ich Kritik äußern, ohne diskriminiert zu werden?

Vor dem Hintergrund dieses stillen Konsenses der „Großfamilie“ wird keine kritische Äußerung über den Meister, die Leiter und die Organisation geduldet. Die Leiter, die angeblich „für das Wohlergehen ihrer Mitglieder verantwortlich“ sind, betreuen ihre Mitglieder auch mit „persönlichen Führungen“ und halten bei Bedarf „Hausbesuche“ ab. Diese seelsorgerischen Beratungen dienen jedoch gegenüber kritischen Mitgliedern als Mittel zur Korrektur ihrer Gesinnung und als Ermahnung, in Zukunft kritische Äußerungen zu unterlassen. Solche Ertüchtigungsmaßnahmen der Organisation können tiefe seelische Verletzungen und das Gefühl von Erniedrigung und Vertrauensmissbrauch hinterlassen.

Erfahrungsbericht 4: EE verschickte im Herbst 2013 seine umfangreichen Verbesserungsvorschläge per E-Mail an alle zuständigen SGID-Leiter in seinem Bezirk mit dem Titel „Was können und müssen wir in der SGI verbessern?“. Darin sind u. a. enthalten: 1. Bestimmte Ausdrücke nicht verwenden wie z. B. „Hausbesuch“ und „Löwenkinder“. 2. Eine gesunde und aufrichtige deutsche Streitkultur vor einer verlogenen japanischen Harmoniekultur, bei der alles unter den Teppich gekehrt wird, bevorzugen. 3. Das Recht auf freie Meinungsäußerung gewähren. 4. Auf die Teilung der Mitglieder in mehrere Abteilungen je nach Geschlecht und Alter wie Männer, Frauen, junge Männer und junge Frauen sowie Kinder, die es auch im Dritten Reich gab, verzichten. 5. Lügen und Verleumdungen mit dem Zweck, einzelne Mitglieder vor anderen Mitgliedern schlecht zu machen, dürfen niemals toleriert werden. 6. Die Verfassung der BRD garantiert Religionsfreiheit. Die SGI sollte daher kein Monopol anstreben und auch andere Nichiren-buddhistische Religionsgemeinschaften akzeptieren. 7. Die Mitglieder, die die SGI verlassen, dürfen ebenfalls niemals bekämpft werden.

Danach bekam er einen „Hausbesuch“ von zwei hohen Leitern und wurde heftig ermahnt, solche kritischen Äußerungen zu unterlassen.

Erfahrungsbericht 5: Als EE am 28.8.2014 von seiner schmerzlichen Erfahrung im Zuge eines Hausbesuchs im Diskussionsforum erzählte, meldete sich FF: „Hallo EE, ich verstehe dein Gefühl sehr gut. Ein solcher ‚Hausbesuch‘ war bei mir auch der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, und der Auslöser, warum ich die SGI-D verlassen musste. Die Doppelgleisigkeit, die du beschreibst, stellt natürlich ein japanisches Kulturmuster dar. Das Schema war gleich: ein scheinbar harmloser, vertrauenserweckender Grund des Besuchs und dann urplötzlich fallen zwei Personen über dich her und machen dich fertig. Wirklich schlimm finde ich, dass Deutsche ein solches Verhalten ‚kritik- und hemmungslos‘ übernehmen. Es waren zwei ‚hohe‘ Leiterinnen aus Karlsruhe, die ihren Hausbesuch bei mir wie im DDR-Brigadier-Stil abgehalten haben. Danach war ich über zwei Wochen lang nicht arbeitsfähig und entschied mich dann, die Organisation zu verlassen, weil sie anfing, meine seelische und wirtschaftliche Existenz zu gefährden.“

Erfahrungsbericht 6: Als EE am 2.2.2015 noch einmal das Thema „Hausbesuch“ ansprach, meldete sich GG neben mehreren Personen zu Wort: „Ich habe zwei davon auch über mich ergehen lassen. Zweimal drei Stunden … Das Thema wurde immer und immer wieder auf den monotonen Satz reduziert, dass ‚man‘ (gemeint war ‚ich‘) sich ändern müsse, dann würde sich alles Weitere ergeben (ändern). Nun, ich warte noch heute auf diese ‚Veränderung‘ seitens der SGI-D selbst!

Habe ich den Eindruck, die Gruppe einfach verlassen zu können, wie ich in sie eingetreten bin?

Es wird zum einen den Mitgliedern suggeriert, dass ihnen bei einem Austritt aus der Organisation ein Unglück und eine Verschlechterung ihrer Lebenslage drohen. Zum anderen ist die Angst vor einem Verlust des eigenen sozialen Umfelds sehr groß, dem man Jahre oder auch Jahrzehnte lang angehört hat, sodass viele unzufriedene Mitglieder kaum den Schritt wagen, die Organisation zu verlassen. Des Weiteren werden ehemalige Mitglieder in der Regel als Abtrünnige stigmatisiert, verleumdet und schikaniert. So leiden manche ehemaligen Mitglieder noch Jahre nach dem Austritt unter Schuldgefühlen und unter den seelischen Verletzungen.

Erfahrungsbericht 7:  Über ihre Erfahrung mit der Schikane und Ausgrenzung schreibt BB am 28.8.2014, was auch von EE bestätigt wurde:34 „Die haben auch schlecht über DICH geredet. Ich gehe auch seit Januar nicht mehr auf Meetings, weil Lügen über mich erzählt werden – vermutlich weil ich letztes Jahr eine Mail mit Verbesserungsvorschlägen und KRITIK an viele Verantwortliche schickte!“ In diesem Zusammenhang berichtet FF ebenfalls, dass Leute einen Aussteiger nicht mehr grüßen und nicht mehr mit ihm reden, obwohl sie sich seit Jahren kennen. FF kennt ferner, wie sie mir persönlich berichtet hat, einen Mann, der noch zehn Jahre nach seinem SGI-D Austritt Angst hatte, dass die bei ihm diagnostizierte Erkrankung eine Strafe für seinen Austritt sei.

Sind die Lehrenden und die jeweilige Gruppe in die eigene Tradition eingebettet? Stehen in der Gruppe die Lehren des Buddha im Mittelpunkt oder die Lehrenden?

Nach der Exkommunikation durch die Nichiren Shoshu steht die SG/SGI in keiner Nichiren-buddhistischen Traditionslinie mehr und ist auf sich selbst gestellt. Auch vor diesem Hintergrund, wie von Kötter richtig beobachtet, „stellt [sich die SGI-D] gern als ‚den Buddhismus‘ dar“, und dabei „handelt es sich sicherlich auch um eine Strategie, mit der sich die SGI-D aus der Sekten- und Psychokultdiskussion heraushalten möchte“.35 Aus dem traditionellen Nichiren-Shoshu-Buddhismus hat sich inzwischen eine neue Form des Ikeda- bzw. SGI-Buddhismus herauskristallisiert.

Erfahrungsbericht 8: Aus dem Erfahrungsbericht 3 von DD geht hervor, dass in der SGI-D „der Personenkult um Ikeda … und die Organisation im Vordergrund stehen“. Gleichermaßen spricht JJ in einem Bericht vom 4.2.2015, den sie mir zur Verfügung stellte, von einer „großen Diskrepanz“, dass nämlich „der Nichiren-Buddhismus, der in der SGI von allen studiert, erklärt und hoch gelobt wird, nicht in die Tat umgesetzt wird. So bin ich selbst ‚fast‘ in diese Falle getappt, den Nichiren-Buddhismus mit dem SGI-Buddhismus gleichzusetzen, zumal einem ja ständig erzählt wird, dass ein Praktizieren dieses Buddhismus außerhalb der SGI nicht möglich ist.“

Sind die Lehrenden durch ihre Kenntnisse der buddhistischen Lehre und durch eigene Erfahrungen qualifiziert genug?

Die volle Identifikation der Mitglieder mit der Organisation wird des Weiteren dadurch intensiviert, dass diese in mehrere Abteilungen – je nach Geschlecht, Alter und Beruf – eingeteilt ist. Selbst ein neues Mitglied, das erst ein paar Monate in der Organisation ist, kann je nach Situation sehr schnell zu einem „Verantwortlichen“ auf Gruppenebene ernannt werden. Dieser neue „Verantwortliche“ verfügt weder über gründliche Kenntnisse der buddhistischen Lehre noch über ausreichend Erfahrung. Es gibt außerdem kein klar definiertes Ausbildungssystem für die Qualifikation eines Dharma-Lehrers in der SGI-D; und es fehlt ihr ebenfalls eine religiöse Autorität vor Ort.

Erfahrungsbericht 9: JJ beginnt ihren Bericht vom 4.2.2015 so: „Ich lernte den Nichiren-Buddhismus im Januar 2005 kennen, war sehr engagiert und wurde so bereits im Juni zur Gruppenleiterin ernannt. Schnell merkte ich jedoch, dass es eine klare Kette der Verantwortlichkeit gibt, an die man sich zu halten hat, und dass ich sehr selten wirklich Entscheidungen treffen konnte, da ich selbst bei Kleinigkeiten einen ‚höheren‘ Leiter fragen musste.“

Erfahrungsbericht 10:  DD klagte am 3.2.2015 über den Mangel an Qualifikation der „Leiter“: „Ich habe zu oft Leiter erlebt, wo mir die Menschlichkeit und das Studienwissen gefehlt hat, oder Leiter, die selbst so viele Probleme gehabt haben, dass es vielleicht besser gewesen wäre, ein stabiles Fundament aufzubauen.“

Welche Rolle spielen meine Bedürfnisse nach Sicherheit, Geborgenheit, Bestätigung und Anerkennung? Welche Rolle spielen Titel, Ermächtigungen und „Aufstiegsmöglichkeiten“ für mich?

Mit der Übernahme einer Leiterfunktion wird man schnell in die hierarchische Struktur integriert, in der der eigene intensive Einsatz für die Organisation mit viel Anerkennung, Macht und Beförderung belohnt wird. Man setzt sich für die Organisation und für den Weltfrieden durch Verbreitung des Nichiren-Buddhismus („Kosenrufu“) ein und fühlt sich als Träger dieser Bewegung, erfüllt vom Missionseifer, neue Mitglieder anzuwerben („Shakubuku“). Da man sich als aktiver Leiter immer mehr für die Organisation einsetzt, und zwar ehrenamtlich und auf eigene Kosten, kann das Konfliktpotenzial immer größer werden. Das betrifft sowohl die Konflikte innerhalb der Organisation bezüglich der Akzeptanz der weiteren Indoktrinierung und die Reibungen aufgrund von Meinungsverschiedenheiten mit gleichrangigen und höheren Leitern als auch den privaten Lebensbereich, Beruf, Familie und Freundeskreis.

Erfahrungsbericht 11: JJ schildert weiter in ihrem Erfahrungsbericht: „Schon damals fiel immer wieder der Satz ‚Ich bin doch so wichtig für die Organisation‘. Natürlich hört man das gern, aber es zieht einen auch immer weiter in dieses ‚Gebilde‘ SGI-D hinein. Allerdings merkt man das in diesem Moment nicht unbedingt. Dann wurde ich 2009 zur Bezirksleiterin ernannt und die Schwierigkeiten mit der Organisation begannen erst richtig. Ich war voller Tatendrang und wollte mit meinem Mann zusammen neue Dinge in unserem Bezirk einführen, was aber immer aus ‚organisatorischen‘ Gründen blockiert wurde. Bei vielen Angelegenheiten, die uns selbst direkt betrafen, wurden wir in die Entscheidungsprozesse nicht einbezogen, sondern nur darüber ‚von oben‘ informiert. Die Gründe waren fadenscheinig und im Nachhinein geradezu gelogen. Die Essenz von allem ist für mich, dass ich von der Philosophie Nichirens sehr überzeugt bin, sie aber nicht in der SGI-D umgesetzt finde. Ich möchte gar nicht allen unterstellen, dass sie absichtlich so vorgehen, aber es entwickelt sich ein Automatismus, wenn man in diesem System drin ist. Die Indoktrinierung findet sehr subtil statt. Da ich auch weiter keine Kompromisse machen konnte, musste ich schließlich zusammen mit meinem Mann im Oktober 2014 meine Leiterfunktion aufgeben und mich von der SGI-D distanzieren. Zu dieser Verkündung von uns gibt es bis heute keine Rückmeldung von Seiten der Organisation.“

Wird Freigiebigkeit in der Gruppe ausgenutzt? Wird meine Arbeitskraft ausgebeutet? Gibt es in der Organisation finanzielle Transparenz? Habe ich über meine Verhältnisse gespendet?

Die aktiven Mitglieder der SGI-D verrichten ihre Aktivitäten zum Wohl der Organisation ehrenamtlich und sind stolz darauf, dass eine spirituelle, religiöse Praxis nichts kostet. Viele stellen dabei nicht in Rechnung, dass sie keine Mitglieder eines eingetragenen Vereins sind und daher weder ein Stimmrecht haben noch einen Mitgliedsbeitrag zu leisten brauchen. Ihre Spenden gehen an den SGI-D e. V., und sie haben keinen Anspruch darauf, Auskunft zum Verwendungszweck der Gelder zu erhalten. Die verwaltungstechnischen und finanziellen Angelegenheiten der Organisation bleiben daher intransparent. Zum anderen wird den Mitgliedern vermittelt, dass alle weltlichen „Aktivitäten für die Organisation“ eine „buddhistische Ausübung“ seien, da sie als „Beitrag zum Weltfrieden“ deklariert werden.

Erfahrungsbericht 12: Als ein Beispiel sei eine Diskussion im FB-Form am 26.1.2015 erwähnt: Als HH postete, dass „in der SGI alles kostenlos ist und er auch nie zu Spenden gedrängt wurde“. Dazu nahm DD gleich Stellung: „Wie oft wird Spende als Wohltat verkauft oder suggeriert, dass man dafür reich belohnt wird!36 Dabei vergisst man zu oft die 1000nden von ehrenamtlichen Gruppen, die jedes Jahr in Deutschland allein stattfinden, genauso wie die vielen ehrenamtlichen Helfer.“

Habe ich die freie Wahl, Kontakte innerhalb und außerhalb der Gruppe zu pflegen?

Diese Frage stellt sich im Fall der SGI-D nicht, da die Mitglieder alle Aktivitäten grundsätzlich auf freiwilliger Basis gestalten. Gewisse Probleme können jedoch wohl entstehen, sobald man sich voll mit der Organisation identifiziert und deren Dogmen und Ideologien verinnerlicht hat. So können bestimmte extreme Verhaltensweisen, die von Außenstehenden als „fanatisch“ wahrgenommen werden, über die organisationsinternen Konflikte hinaus auch beispielsweise zu Konflikten im eigenen persönlichen Umfeld führen. Dadurch nehmen all die oben genannten Aspekte eine noch deutlich problematischere Dimension an.

Erfahrungsbericht 13: In einem Schreiben, das mir am 13.6.2015 persönlich zugesandt wurde, schildert LL zusammen mit seiner Schwägerin MM ihre gemeinsamen Erfahrungen mit seinem Bruder NN, der schon seit vielen Jahren Anhänger der SGI-D war. „Der Konflikt innerhalb der Familie begann jedoch kurz nach der Heirat mit einer Frau OO, die er ebenfalls in der SGI-D kennengelernt hatte. NN begann seine Kontakte zur Familie zu vernachlässigen, nachdem seine Missionierungsversuche bei Eltern und Geschwistern fehlschlugen … Die Eltern bekamen den nachhaltigen Eindruck, sie würden von beiden [NN und OO] missachtet, geschnitten und in vielen Angelegenheiten systematisch angelogen. Kontakte zu Geschwistern und Freunden außerhalb der SGI wurden ebenfalls mehr und mehr abgeschaltet. Die ‚Revolution‘ des alten Lebens umfasste auch die Entfernung aller literarischen Werke aus dem Haushalt, bis letztlich nur noch SGI-eigene bzw. SGI-konforme ‚Literatur‘ übrigblieb.“ Betroffen von dieser extremen Umorientierung der beiden sind später ihre eigenen Kinder, die aus Sicht der Großeltern und Geschwister „auffällige psychische Entwicklungsstörungen … zeigen … Den Kindern wurde zudem sehr früh eine strikte anti-christliche Haltung eingeprägt.“ LL berichtet zudem, dass die Ehefrau OO „kurz vor der Scheidung € 10.000 an die SGI-D gespendet“ habe, und er empfand „diesen Betrag als sehr beachtlich angesichts der Tatsache, dass sie selbst keine eigenen Einkünfte hatte und sich um den Erhalt des Hauses und die Kinder sorgen musste“. Seiner Meinung nach „war diese hohe Summe eine Art ‚Ablasshandel‘, damit sie sich weiterhin in der SGI-D-Hierarchie halten oder auch aufsteigen konnte“. LL berichtet weiter: „NN heiratete später in eine kinderreiche Teil-Familie, die allesamt keine SGI-Mitglieder waren. Diese zweite Familie hielt der Belastung durch die das gesamte Leben bestimmende SGI-Ideologie von Seiten des NN jedoch nur kurze Zeit stand. NN widmete sich sehr exzessiv den SGI-Aktivitäten, sodass ihm kaum Zeit für ein normales Familienleben blieb. NN pflegte zu sagen: ‚Ich bin mit ihm [Präsident Ikeda] verbunden‘ und ‚Der einzig wahre SGI-Buddhist soll sich nicht der Liebe hingeben, sondern soll sich uneingeschränkt der einzig richtigen Wahrheit widmen‘. Aus dem Ende dieser Beziehung ergaben sich, neben den Problemen einer zerrütteten Familie und finanziellen Streitigkeiten, weitere, ganz erhebliche Konflikte, insbesondere aus dem Anspruch des NN, die ‚Erziehung‘ sprich Indoktrination des gemeinsamen Kindes mitgestalten zu können. Sie [NN und MM] streiten heute um das Sorgerecht ihres gemeinsamen Kindes.“

Fazit

Die Problematik bei der Einschätzung der SG/SGI-D ist oben anhand von vier Schichten und deren Sichtweisen behandelt worden. Wichtig ist noch einmal zu unterstreichen, dass die offiziell zur Verfügung gestellten Informationen allein keine verlässlichen Quellen für eine umfassende Einschätzung darstellen. Auch die Untersuchungen eines Beobachters von außen, etwa eines Journalisten oder Wissenschaftlers, können immer noch auf der Oberfläche der Selbstdarstellung der Organisation bleiben, solange kein Blick in das Innere gewährt wird. Wenn man in die Tiefenstruktur eintauchen will, darf die Bedeutung von Erfahrungen kritischer Mitglieder und Aussteiger, aber auch von an Konflikten beteiligten Familienangehörigen und Freunden nicht unterschätzt werden. Die in diesem Beitrag aufgezeigten vier Schichten sind in der untenstehenden Tabelle zusammenfassend dargestellt.

Die herausgearbeitete Einsicht in die problematische Tiefenstruktur einer Glaubensgemeinschaft mag gerade denjenigen, die deren Lehren und Methoden als „Wahrheit“ verinnerlicht haben, so fremd erscheinen, dass sie die dargestellten Ergebnisse kaum akzeptieren können. Dennoch kann für sie erst in der Auseinandersetzung mit den eigenen „unheilsamen Tiefenstrukturen“ ein heilsamer Prozess beginnen. Dafür leistet der begründete Hinweis auf bestimmte unheilsame Strukturen in der Organisation eine wichtige Aufklärungsarbeit.


Yukio Matsudo; Heidelberg


Anmerkungen

  1. Friedmann Eißler, Stichwort „Soka Gakkai“ in: MD 6/2012, 231.
  2. Ebd. Eine BBC-Dokumentation über die SG aus dem Jahr 1995 vermittelt einen umfassenden Einblick in ihre vielfältigen Aspekte, vgl. Julian Pettifer OBE introduces „The Chanting Millions“, BBC Assignment 1995 (YouTube).
  3. Zur doktrinären Besonderheit der Nichiren Shoshu s. Kapitel 3 „Auseinandersetzung mit den Priestern der Nichiren Shoshu“, in: Yukio Matsudo, Nichiren – der Ausübende des Lotos-Sutra, Norderstedt 2009 (2005).
  4. Vgl. Irina Wieczorek, Religion und Politik in Japan: www.buddhismuskunde.uni-hamburg.de/pdf/4-publikationen/buddhismus-in-geschichte-und-gegenwart/bd6-k05wieczorek.pdf  (Abruf der in diesem Beitrag angegebenen Internetseiten am 27.7.2015). Zum doktrinären Hintergrund des Heiligtums (Daigohonson) s. Matsudo, Nichiren (s. Fußnote 3), 381ff.
  5. Ulrich Dehn, Neue Religiosität und neue Religionen – Das Beispiel Soka Gakkai, Online-Texte der Evangelischen Akademie Bad Boll, 2005, 10. Die Komeito-Partei selbst unterstreicht die Verfassungsmäßigkeit der Unterstützung der SG (s. www.komei.or.jp/en/about/view.html).
  6. Wieczorek (Religion und Politik in Japan, s. Fußnote 4, 98f) bestätigt ebenfalls die enge Verflechtung der SG und der Komeito-Partei und zeigt weitere ungewöhnliche Verhaltensweisen der SG-Mitglieder, um Stimmen für die Partei zu gewinnen.
  7. Dehn, Neue Religiosität (s. Fußnote 5), 11.
  8. Zum Konflikt zwischen Soka Gakkai und Nichiren Shoshu sowie zur reformistischen Protestaktion vonseiten der SG s. Yukio Matsudo, Hairetischer Protest. Reformatorische Bewegungen im Buddhismus und Christentum, Norderstedt 2009, 58f.
  9. www.sgi-d.org/soka-gakkai/sgi-1/sgi.
  10. Eißler, Stichwort „Soka Gakkai“ (s. Fußnote 1), 231; Robert Kötter, Die Soka Gakkai International-Deutschland, Marburg 2006, 8.
  11. Matsudo, Hairetischer Protest (s. Fußnote 8), 62.
  12. Die SG verkündete in ihrer Tageszeitung „Seikyo Shinbun“ vom 8.11.2014 offiziell ihren Verzicht auf die Bindung und den Glauben an den Daigohonson, das Heiligtum des Nichiren-Shoshu-Haupttempels, und vollzog ihre endgültige Trennung davon. Es ist dabei wichtig anzumerken, dass erst dadurch eine neue Phase der SG/SGI begonnen hat, die sich von den bisherigen Entwicklungsphasen grundsätzlich unterscheidet.
  13. Ulrich Dehn, Soka Gakkai – Tag des Offenen Denkmals, in: MD 12/2001, 418.
  14. Ulrich Dehn, Rezension zum Buch Kötters, in: MD 10/2007, 392. Dehn (MD 12/2001, 418) nennt einige Verantwortliche, z. B. Peter Kühn (Vorsitzender des e. V.). Der Vorstand ist heute Matthias Gröninger.
  15. Werner Höbsch zitiert Kötter, Die Soka Gakkai (s. Fußnote 10), 25, in seinem Buch: Hereingekommen auf den Markt – Katholische Kirche und Buddhismus in Deutschland, Paderborn 2013, 140.
  16. Kötter, Die Soka Gakkai (s. Fußnote 10), 29.
  17. Vgl. ebd., 25; und Dehn, Rezension (s. Fußnote 14), 392.
  18. Die Verfasser der Erfahrungsberichte haben der Verwendung im vorliegenden Aufsatz zugestimmt und werden mit AA, BB etc. anonymisiert.
  19. Buddhismus aktuell 1/2015, 21.
  20. Dehn, Rezension (s. Fußnote 14), 392.
  21. Ebd.
  22. Kötter, Die Soka Gakkai (s. Fußnote 10), 10.
  23. Dehn, Neue Religiosität (s. Fußnote 5), 11.
  24. Angabe vom Februar 2015, s. www.soka.ac.jp/about/philosophy/founder/honor.
  25. Besonders erwähnenswert ist das geschlossene Facebook-Diskussionsforum „Buddhismus von Nichiren“ (www.facebook.com/groups/Nichiren.Daischonin). Da werden neben den Diskussionen über die Lehre und Praxis des Nichiren- und SGI-Buddhismus auch viele Probleme und Konflikte in der Organisation thematisiert. Als Erfahrungsberichte habe ich möglichst aktuelle Beiträge aus diesem „FB-Forum“ aufgenommen und mit den jeweiligen Verfassern auch persönlich gesprochen oder schriftlich kommuniziert, um die Glaubwürdigkeit sicherzustellen und ihre Erlaubnis für die Veröffentlichung im vorliegenden Artikel zu erhalten.
  26. Siehe www.buddhismus-deutschland.de/wp-content/uploads/Orientierungshilfe-Neues-Logo.pdf.
  27. Diesen Sprachgebrauch in der SGI-D bestätigt auch Kötter, Die Soka Gakkai (s. Fußnote 10), 30.
  28. Siehe Fußnote 25.
  29. Siehe www.buddhismus-deutschland.de/buddhistisches-bekenntnis.
  30. Kötter, Die Soka Gakkai (s. Fußnote 10), 70. Die aktuelle Studie belegt ein sehr breites Spektrum von unterschiedlichsten Verständnissen in der buddhistischen Lehre und Praxis innerhalb der DBU (s. Yukio Matsudo, Faszination Buddhismus. Die Beweggründe für die Hinwendung der Deutschen zum Buddhismus, Norderstedt 2015).
  31. Dehn, Rezension (s. Fußnote 14), 393.
  32. Das Ergebnis über die „Meinung zu Ikeda“ belegt die Vorbildfunktion Ikedas für die aktiven Mitglieder (vgl. Kötter, Die Soka Gakkai [s. Fußnote 10], 145), die für viele einen zwanghaften Druck darstellt, Ikeda als einzigen eigenen Meister annehmen zu müssen.
  33. Zur „Shakubuku-Mama“ usw. vgl. ebd., 49.
  34. Viele, die hier über ihre negativen Erfahrungen mit der SGI-D berichtet haben, haben oft mit japanischen Leitern Probleme bekommen. Zum Konfliktpotenzial zwischen Deutschen und Japanern bzw. Asiaten in buddhistischen Gemeinschaften siehe Susanne Matsudo-Kiliani, Eine „buddhistische Leitkultur“ in Deutschland?, in: Buddhismus aktuell 3/2014, 57-59.
  35. Kötter, Die Soka Gakkai (s. Fußnote 10), 30. SG gilt in Japan von Anfang an nicht als eine buddhistische Schule, sondern als eine „Neureligion“ (siehe zum Beispiel https://de.wikipedia.org/wiki/Neue_Religionen_in_Japan).
  36. LL teilt diese Ansicht und beobachtet in der „Einladung zur Jahresspende 2015“ durch den Generaldirektor der SGI-D (siehe www.sgi-d.org/mitglieder/spende/einladung-jahresspende) solche „besetzte[n] Worte, die häufig manipulativ verwendet werden, wie Glück, Weltfrieden, Aufrichtigkeit, Herzlichkeit, Dankbarkeit, Herausforderung, Widmung und Ermutigung“.