Hans-Martin Barth

Das Vaterunser. Inspiration zwischen Religionen und säkularer Welt

Hans-Martin Barth, Das Vaterunser. Inspiration zwischen Religionen und säkularer Welt, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2016, 222 Seiten, 19,99 Euro.

Das Gebet Jesu von Nazareth wird von dem evangelisch-lutherischen systematischen Theologen Hans-Martin Barth ausgelegt und in den Zusammenhang heutiger religiös-weltanschaulicher Vielfalt gestellt. Wie bereits in seiner Dogmatik (Evangelischer Glaube im Kontext der Weltreligionen) erläutert Barth in diesem Buch das Vaterunser im Gespräch mit nichtchristlichen Religionen (Buddhismus, Islam, Hinduismus) und dem areligiösen Denken der Gegenwart.

Die im Vaterunser vorkommenden Zentralworte werden kontextbezogen interpretiert: Gottes Name (41-62), Reich (63-86), Wille (87-107), unser Brot (109-131), Schuld und Vergebung (133-156), Versuchung (157-174), Erlösung vom Bösen (175-197). Dem säkularen Kontext widmet der Autor besondere Aufmerksamkeit, wenn er etwa die Vatermetaphorik in religionsdistanzierten Milieus betrachtet, den „säkularen Umgang mit bedeutenden Namen“ thematisiert, Zukunftsfragen angesichts von Erfahrungen eines verlorenen Paradieses aufgreift, Schuld- und Vergebungserfahrungen mit ihren religiösen und nichtreligiösen Deutungen betrachtet, über das Böse bzw. das sogenannte Böse und über utopische Erlösungsperspektiven nachdenkt. Barth bezeichnet das Ende des Bösen als „unverzichtbare Utopie“ (195ff). Christliche Perspektiven vermittelt er kommunikativ. Sie werden erfahrungsbezogen artikuliert und so plausibel gemacht. Im Grundsatz geht Barth von der Einsicht aus: Die Interpretation des Vaterunsers im säkularen Kontext erfordert eine vergleichbare „Übersetzungsarbeit“, wie sie im interreligiösen Dialog notwendig ist. Der Aufbau des Buches ergibt sich aus der Struktur des Vaterunsers: der Anrede (21-40), der Abfolge der Bitten (41-197) und der abschließenden Doxologie (199-206). Die das Gebet bestimmenden Begriffe werden in neuen Verstehenshorizonten ausgelegt.

Der Autor geht davon aus, dass das Vaterunser nicht nur für alle ökumenischen Verständigungsbemühungen eine grundlegende Rolle spielt, sondern ein Gebet darstellt, das die Welt umspannt. Er fragt: „Ist es so allgemein gehalten, dass es letztlich sogar die ganze Menschheit umgreift? … Stört das Vaterunser die Ökumene der Religionen oder trägt es zur Einheit der Menschheit bei?“ (14f). Barth ist überzeugt, dass das Vaterunser weit über den christlichen und auch über den religiösen Bereich hinausreicht. Zur Vateranrede sagt er am Ende des ersten Kapitels: Man muss nicht eine klare Vorstellung davon haben, ob man an Gott glaubt oder nicht. Man muss nicht von der Existenz Gottes überzeugt sein. Man muss sich auch nicht mit dem Vater- oder Muttersymbol anfreunden. Doch man kann sich auf dieses Du einlassen, das uns von Kindesbeinen an vertraut ist, das Jesus den Seinen nahegelegt hat und das von unzähligen Menschen in großem Vertrauen nachgesprochen wurde. Diese Einladung gehört zum unausgeschöpften kulturellen Erbe der Menschheit“ (39f).

Auch für diejenigen, die Barths religionstranszendierender Interpretation des Vaterunsers nicht ungeteilt zustimmen, sind seine Erschließungsperspektiven anregend. Der Autor hat ein inhaltsreiches, klar gegliedertes, verständliches und den Leser abholendes Buch geschrieben. Er möchte den Menschen von heute mitnehmen, ihn ansprechen und aufzeigen, dass das Mitsprechen der Vaterunser-Bitten ein Schritt sein kann, der keineswegs mit besonderen Glaubensvoraussetzungen verbunden sein muss. „Es dürfte sich empfehlen, sich pro Tag nur ein einziges Kapitel, nur eine Bitte vorzunehmen. Jeden Tag eine Vaterunser-Bitte – das wäre zugleich eine säkular-spirituelle Übung“ (19).


Reinhard Hempelmann