Olaf Glöckner / Günther Jikeli (Hg.)

Das neue Unbehagen. Antisemitismus in Deutschland heute

Georg Olms Verlag, Hildesheim 2019, 264 Seiten, 19,80 Euro.

Da graut etwas. Das ist der erste optische Eindruck, nimmt man das von Olaf Glöckner und Günther Jikeli herausgegebene Buch mit dem grauen Umschlag in die Hand. Und es hinterlässt Unbehagen – ein Unbehagen, das eigentlich erledigt zu sein schien. Doch bereits der Titel lässt keine andere Deutung zu: Antisemitismus ist wieder ein Thema, ein Thema, das Unbehagen, gar Grauen hinterlässt. Und das ist umso schlimmer, als es sich um ein „neues Unbehagen“ handelt, das demnach anders ist als das Unbehagen früherer Zeiten. Dass dem so ist, wird im vorliegenden Band in erschreckender Weise dargestellt. Denn es geht nicht um den Antisemitismus einer Gruppe von Ewiggestrigen – der sich durch den Lauf der Zeit früher oder später erledigt haben sollte –, sondern um eine – oder besser: mehrere – neue Formen von Antisemitismus.

Die insgesamt zwölf Aufsätze des Sammelbandes beschreiben ein Spektrum von Antisemitismus, das eben nicht nur auf den Bereich rechtsextremer Gruppierungen beschränkt werden kann, auch wenn es in diesem Segment mit besonderer Gewalttätigkeit offen zutage tritt, wie das Attentat in Halle im Oktober 2019 deutlich zeigte. Vielmehr ist es auch im antiimperialistischen linken Spektrum, in islamistischen Gruppen, im Internet, in Teilen der Rapkultur1, in den deutschen Qualitätsmedien und auf deutschen Schulhöfen vorhanden. Diese Bereiche werden eindrücklich und kompetent dargestellt.

Dass etwa der immer noch in vielen Kreisen als revolutionärer Freiheitskämpfer verehrte Che Guevara mit seiner Gleichsetzung von Imperialismus und Israel als verlängertem Arm der USA – der Staat Israel wird einseitig als imperialistischer Aggressor gesehen und für den Unfrieden nicht nur der Region, sondern gleich der ganzen Welt verantwortlich gemacht – eine Saat gesät hat, die bis heute virulent ist, ist ein dunkler Fleck nahezu der gesamten „linken“ Szene (vgl. 40f). Die zum Glück abgesagte Veranstaltung mit dem linken Theologen und Globalisierungskritiker Ulrich Duchrow, die auf dem Dortmunder Kirchentag geplant war, mag als ein kleines Beispiel unter vielen gelten.2

Dass es unter in Deutschland lebenden Muslimen einen Antisemitismus gibt, der vielfach von der radikalen Auslegung des Iran, wonach der Staat Israel als Ganzes zu vernichten sei, abhängig ist, muss betont werden. Gerade auch da, wo kirchliche Kreise den Dialog mit dem Islam suchen, sollte klar sein, dass es kein Zurück gibt hinter die Positionen, die nach dem Holocaust mühsam und in Auseinandersetzung mit der immensen Schuld der Vergangenheit gefunden wurden.

Immerhin: Dass die klassische Form des „theologischen Antisemitismus“ heute in den Kirchen – zumindest in kirchlichen Grundordnungen und in den Verlautbarungen aller kirchenleitenden Gremien – faktisch nicht mehr vorhanden ist, wird im Sammelband ausdrücklich anerkannt.3 Trotzdem aber bleibt der durchaus bestürzende Eindruck, dass Antisemitismus durchaus nicht erledigt ist, dass er neue Ausdrucksformen gefunden oder alte Ausdrucksformen transformiert hat und dass die „Mainstream-Wahrnehmung“ des Antisemitismus defizitär, weil viel zu sehr vorhandenen Schablonen verhaftet ist. Diese durchgehend dargestellte und mit vielen Fakten unterstützte Meinung ist durchaus provokativ.

Lässt man sie in vollem Umfang wirken, wird sie die Art, wie Antisemitismus zukünftig zu behandeln ist, verändern. Erste Schritte werden im Buch bereits angedeutet: Die Definition von „Antisemitismus“ ist zu hinterfragen, ebenso die Erstellung polizeilicher Statistiken. Und vor allem die Einrichtung von „Antisemitismus-Monitoring“, also von Stellen, die gezielt an einer Betroffenenperspektive orientiert sind, sollte deutlich priorisiert werden.4 Eines kann dies alles allerdings nicht ersetzen: den klaren, eindeutigen Einsatz der Zivilgesellschaft gegen alles, was antisemitisch ist.

Antisemitismus zu erkennen und zu benennen, wird nach Lektüre des vorliegenden Buches jedenfalls deutlicher, eindeutiger und auch schärfer ausfallen müssen, als es derzeit der Fall ist. Insofern: Bei aller provokativen Zuspitzung ist es ein wichtiges Werk, dem ich breite Verbreitung wünsche.


Heiko Ehrhardt, Neuwied, 02.05.2020
 

Anmerkungen

  1. Dies wird leider nur kurz angemerkt. Vgl. zum gesamten Komplex meine Darstellung in MdEZW 6/2018, 205-213.
  2. Zu der Diskussion um Ulrich Duchrow vgl. den Wikipedia-Artikel https://de.wikipedia.org/wiki/Ulrich_Duchrow . Der Artikel zeigt deutlich, dass es eine Frage der Definition von „Antisemitismus“ ist, die zu bestimmten Urteilen führen kann – oder auch nicht. Hier für Klarheit zu sorgen, ist eine der wichtigsten Leistungen des vorliegenden Buches.
  3. Vgl. 25f: „… die christliche Judenfeindschaft gilt … im deutschsprachigen Raum weithin als nicht mehr relevant.“ Dies wird freilich auf 30f relativiert. Dort ist die Rede davon, dass es christlichen Antisemitismus durchaus noch im Bereich von traditionellen christlichen Milieus gibt und dass er in der „Neuen Freiheit“ nach wie vor ein Sprachrohr hat.
  4. Vgl. hierzu den Beitrag von Daniel Poensgen und Benjamin Steinitz (173-197), der die Arbeit der „Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus“ (RIAS) beschreibt.