Jörg Pegelow

Dalai Lama und Gyalwang Drukpa in Hamburg

Innerhalb von 14 Tagen besuchten zwei bedeutende Vertreter des tibetischen Buddhismus die Hansestadt. Den Anfang machte vom 23. bis zum 26. August 2014 der 14. Dalai Lama im Congress Center Hamburg (CCH) mit mehreren Massenveranstaltungen, die insgesamt mehr als 20 000 Besucher anzogen. In wesentlich kleinerem Rahmen war zwischen dem 9. und 11. September 2014 der 12. Gyalwang Drukpa, spirituelles Oberhaupt des Kagyü-Drukpa-Ordens (vgl. MD 8/2013, 299-302), zu Gast – aus Anlass der Gründung der gemeinnützigen Stiftung „Live to Love“.

Sechster Hamburg-Besuch des 14. Dalai Lama

Den sechsten Hamburg-Besuch des Dalai Lama hatte das Tibetische Zentrum Hamburg organisiert, dessen Schirmherr der Dalai Lama ist. Schon im Vorfeld kritisierte der Sprecher der chinesischen Botschaft in Berlin den Besuch des Dalai Lama: Diesem werde eine Möglichkeit eröffnet, seine „separatistischen Aktivitäten gegen China“ zu betreiben. Ungeachtet dieser Kritik fand nach dem offiziellen Hamburg-Besuch dort auch eine Konferenz mit Beteiligung des Dalai Lama statt, auf der die friedliche Lösung des Tibetkonflikts im Mittelpunkt stand.

Massive Kritik kam auch von anderer Seite: Anhänger der „Neuen Kadampa Tradition“, die den buddhistischen Schutzgeist Dorje Shugden verehren, demonstrierten gegen den Dalai Lama. An allen Veranstaltungstagen war die „International Shugden Community“ in der Nähe des CCH mit Gesängen und Transparenten („False Dalai Lama, stop lying!“ – „Give religious freedom to Shugden practitioners!“) präsent. Das Hamburger Tibetische Zentrum reagierte mit einem Hintergrundpapier, das Anschuldigungen zurückwies, der Dalai Lama hätte die Shugden-Praxis verboten, unterdrücke deren Anhänger und lüge. Auch die dem Dalai Lama treue Organisation „Global Tibetan Volunteers For The Truth“ wandte sich mit einem Flugblatt gegen die Shugden-Gruppe (längere englische Fassung des Textes: www.globaltvt.org/?page_id=72).

Begleitet wurde der Besuch von einem starken Medienecho. So übertrug das Hamburger Abendblatt die ausverkaufte Eröffnungsveranstaltung im Livestream; Printmedien, Radio und Fernsehen waren mehrfach vor Ort. Die öffentlichen Veranstaltungen fanden in einer rund 7000 Besucher fassenden nüchternen CCH-Halle mit einer großen Bühne und mehreren mitten im Raum aufgehängten Übertagungsleinwänden statt. Zwei angrenzende kleinere Hallen boten einen Markt der buddhistischen Möglichkeiten. Dort präsentierten sich eine Reihe buddhistischer Zentren und Gruppen des deutschsprachigen Raumes, Organisationen zur Unterstützung tibetischer Kultur und Bildung, kommerzielle Anbieter tibetischer Heilkunde und ein reichhaltiger Devotionalienhandel. Ein Rahmenprogramm bot u. a. Meditationen, Filme über das Hamburger Tibetische Zentrum und interreligiöse Dialoge an.

Unterschiedliche inhaltliche Schwerpunkte prägten die drei zentralen Veranstaltungstage.

Am ersten Tag gab es Lehrveranstaltungen für das allgemeine Publikum („Menschliche Werte leben“), der zweite richtete sich explizit an Buddhisten und an jene, die sich für buddhistische Philosophie interessieren („Der Weg des Lebens zur Erleuchtung“ – Bodhicaryāvatāra des indischen Meisters Śantideva). Am Abschlusstag fand ein buddhistisches Ritual, die Einweihung in den Buddha des Mitgefühls (Avalokiteśvara), statt.

An diesem mehr als dreistündigen Initiationsritual nahm ich neben etwa 6000 weiteren Besucherinnen und Besuchern teil, darunter auch viele traditionell gekleidete Tibeter. Vor Betreten der Veranstaltungshalle erhielten alle einen Umschlag für die Initiation Avalokiteśvara; darin befanden sich der benötigte Meditationstext, eine Lotosblüte, ein rotes Band und eine Karte mit einer Thangka-Abbildung (Lokeśvara).

Neben dem Dalai Lama saßen rund 40 buddhistische Nonnen und Mönche auf der Bühne. Von seinem erhöhten Stuhl aus erläuterte der Dalai Lama zunächst, weshalb die Überlieferungen des Tantrayana-Buddhismus und der tantrischen Praxis, deren Authentizität bis heute immer wieder angezweifelt werden, aus seiner Sicht der Lehre Buddhas entsprechen. Bei der ausführlichen und ins Deutsche übersetzten Darstellung hoch differenzierter buddhistischer Lehrfragen fielen mir immer wieder Besucher auf, die ganz offensichtlich ein Nickerchen machten.

Die zweite Hälfte des Vormittags war der eigentlichen Initiationshandlung vorbehalten. Sie begann mit einer gemeinsamen, sehr zügigen Rezitation eines neunseitigen Textes aus der Broschüre „Śantideva – Anleitung auf dem Weg zum Erwachen“. Vor der Lesung forderte der Dalai Lama auf, an Buddha sowie viele weitere große Meister aus der buddhistischen Tradition zu denken. Wer Christ sei, solle beim Lesen an Jesus und seine Apostel sowie an ein Sündenbekenntnis denken, aber auch daran, die wesentliche Botschaft Jesu zu praktizieren – nämlich sich anderen zuzuwenden. Muslime sollten dem nachsinnen, was sie ihre Tradition lehre. Besonderes Augenmerk wurde bei der von vielen mitgesprochenen Lesung auf zwei dreimal wiederholte Zeilen gelegt; der Dalai Lama bezeichnete sie als Zentrum der Initiationsvorbereitung: „So wie die Sugatas [Sanskrit-Bezeichnung für einen Buddha, J. P.] der Vergangenheit das Streben nach dem Erwachen erzeugt und sich dann schrittweise den Übungen der Bodhisattvas gewidmet haben, will auch ich zum Nutzen der Lebewesen den Wunsch nach Erwachen hervorbringen und ebenso die Schulungsregeln schrittweise einüben.“ Dem schlossen sich ein Dankteil und das Gelübde an, alle zur Buddhaschaft zu führen und deshalb die Initiation anzunehmen.

Anschließend sollten alle Anwesenden die im Umschlag enthaltene Augenbinde als Symbol für das im Dunkel gefangene Selbst anlegen. Viele kamen der Aufforderung nach. Mehrere Wechselrezitationen auf Tibetisch, die ein Teil des Publikums aufnahm, folgten ebenso wie der Hinweis darauf, die Regeln zu befolgen, deren Kern die Aufgabe einer selbstzentrierten Haltung sei. Mit einem dreifach gesprochenen Gelübde wurde dies bekräftigt. In einer anschließenden Meditation sollten alle ihren Geist auf die Leerheit richten; damit verlöre sich die Wahrnehmung der äußeren Dinge und die Gottheit im Selbst ließe sich erkennen. Bei der Bitte, meditativ ins Mandala mit den Gottheiten eintreten zu dürfen, sollte man zugleich bedenken, dass man sich vor der Gottheit und vor der eigenen Gottheit verneige. Danach sollten alle die Lotusblüte zwischen die Hände nehmen und ins Mandala darbringen; die Gottheit würde die Blume zurückgeben und besonderen Segen bereithalten – dazu sollte man sich die Blüte auf den Kopf legen. Nun durfte die Augenbinde abgelegt werden. Begleitet von einigen weiteren Erläuterungen wurden Wasserflaschen durch die Sitzreihen gereicht; viele gossen sich etwas in die Hand und wischten sich über Stirn und Haare. Symbolisch sollte die Initiationssubstanz durch das Scheitel- sowie das Stirnchakra in den Körper eindringen und alle Energiekanäle durchfließen.

Zum Abschluss des Initiationsrituals forderte die Dalai Lama auf, als Minimum anderen nicht zu schaden und etwas für andere zu tun. So würde man sich beim letzten Atemzug gut fühlen. An die Christen gewendet fügte er hinzu, sie sollten ein sinnvolles Leben führen, Gott dienen, sterben und ruhig im Sarg liegen. Dann landeten sie eventuell (sic!) im Himmel. Abschließend wurde wiederum in rasantem Tempo gemeinsam aus der Śantideva-Broschüre der Abschnitt „Widmungen“ rezitiert – ein längerer Text mit an Gebete erinnernden Formulierungen; beispielhaft sei der folgende Satz zitiert: „Möge kein Wesen leiden, mit unliebsamen Handlungen behaftet oder krank, gering, erniedrigt oder unzufrieden sein.“

Am Ende des Vormittags wurde bekanntgegeben, dass der Kartenverkauf 1,83 Millionen Euro an Einnahmen erbracht habe; der Veranstaltungsüberschuss von 230 000 Euro werde für Übersetzungsprojekte buddhistischer Texte, Initiativen für Toleranz in Hamburg, humanitäre Vorhaben sowie gemeinnützige Projekte des Dalai Lama in den Bereichen Erziehung und Wissenschaft eingesetzt.

Beim Verlassen des CCH bewegten mich ambivalente Eindrücke. Tausende gehen zum Dalai Lama, hören hin, wenn er zu Frieden, Toleranz und menschlichem Miteinander aufruft. Freundlich ist er, nie scheint ein harsches, verletzendes Wort über seine Lippen zu kommen. Das fasziniert. Und mehr als 5000 Teilnehmer bei einer buddhistischen Initiation, ernsthaft, in sich versunken! Viele sind davon berührt. Zugleich bleiben Fragen: Wie verbindlich ist eine solche Großveranstaltung, die ein bisschen wie ein Kirchentag auf buddhistisch anmutet? Tauchen die Besucherinnen und Besucher in den buddhistischen Gemeinschaften auf (mehr als 40 gibt es davon allein in und um Hamburg)? Oder bleiben die meisten doch in der Vereinzelung, praktizieren ganz für sich? Und: Wie passt es zusammen, wenn der Dalai Lama einerseits immer wieder betont, alle sollten ihrer eigenen Religion verbunden bleiben, sich nicht von dieser lösen, er aber andererseits die anwesenden Christen im Rahmen einer buddhistischen Initiationshandlung auffordert, an Jesus und seine Jünger zu denken und so die Initiation zu vollziehen?

Dritter Hamburg-Besuch des 12. Gyalwang Drukpa

Im Mittelpunkt des dritten Hamburg-Besuchs des Gyalwang Drukpa, der von sechs bis acht Nonnen und Mönchen des Drukpa-Ordens begleitet wurde, stand die Gründung der überkonfessionell angelegten Stiftung „Live to Love“. Thematisch damit verknüpfte Vortragsveranstaltungen in kleinerem Rahmen in einem gediegenen Hamburger Innenstadthotel hatten jeweils zwischen 50 und 100 Besucher. Auch eine Begegnung mit dem katholischen Weihbischof Hamburgs, Hans-Jochen Jaschke, sowie eine Besichtigung der Elbewerkstätten (eine Einrichtung mit rund 850 Arbeitsplätzen für Behinderte) gehörten zum Hamburg-Besuchsprogramm. Den Abschluss bildete eine Podiumsdiskussion im Haus der Hamburger Patriotischen Gesellschaft. In den Medien wurde dieser Besuch bei Weitem nicht so stark aufgegriffen wie der des Dalai Lama.

Am ersten Abend stellte der Gyalwang Drukpa sein jüngst beim Rowohlt-Verlag in der Rubrik „Esoterik“ erschienenes Buch „Erleuchtung jeden Tag“ vor, in dem er buddhistische Traditionen und moderne Lebenswelten miteinander verknüpfen und auf diese Weise zu mehr Glück und Zufriedenheit anregen möchte.

Die Gründung der Stiftung „Live to Love“ prägte den zweiten Tag der Visite. In mehreren Vorträgen erläuterte der Gyalwang Drukpa, dass durch diese Stiftung Glück nicht nur für andere, sondern auch für die eigenen vielen Leben eröffnet werde. Zufriedenheit, Erfüllung und Glück seien nur möglich, wenn zwischen Umwelt und Mensch Einklang herrsche. Beispielhaft erwähnte er in diesem Zusammenhang, dass vor 800 Jahren Yogis in der Lage gewesen seien zu fliegen; dies verhindere heute die Umweltverschmutzung, denn sie störe auch das spirituelle Leben und die Erleuchtung. Der Gyalwang Drukpa führte unter der Überschrift „Bruttoglücksprodukt“ weiter aus, dass die Stiftung eine Möglichkeit biete, die natürliche, im Menschen vorhandene Güte Früchte tragen zu lassen. Wahres spirituelles Glück entstehe erst durch die Hinwendung zu anderen. Wenn materieller und spiritueller Fortschritt in Einklang stehen würden, sei dreifacher Gewinn möglich: Zurechtkommen in der Welt, persönliche Glückserfahrungen und das Gewinnen neuer spiritueller Erkenntnisse.

Bei einer ergänzenden Präsentation erläuterte ein Mitarbeiter die Stiftungszwecke, mit denen sich „Live to Love“ zum einen regionalen Initiativen zuwenden wolle; genannt wurden u. a. die Unterstützung von Gnadenhöfen für Tiere, ökologische Projekte (z. B. Baumpflanz- und Müllsammlungsaktionen) und Hilfe für Obdachlose. Zum anderen sollen vom Gyalwang Drukpa initiierte internationale Projekte in fünf Bereichen gefördert werden: Bildung, Umwelt- und Tierschutz, Gleichstellung von Frauen insbesondere vor dem Hintergrund der traditionellen Abwertung von Frauen im buddhistischen Umfeld, medizinische Hilfe und akute Intervention in Krisengebieten sowie Erhalt kulturellen Erbes.

Den Abschluss des dreitägigen Besuchs des Gyalwang Drukpa bildete eine Podiumsdiskussion unter dem Titel „Achtsamkeit und Glück! Der Zusammenhang von Bildung, Umweltschutz und Frieden“. Rund hundert Besucher folgten der Diskussion, an der u. a. eine katholische Theologiestudentin, eine Psychoanalytikerin und ein Vertreter der Initiative „Viva con Agua“, die weltweit Projekte für sauberes Trinkwasser und sanitäre Grundversorgung für alle Menschen unterstützt, teilnahmen. Bei dem sehr harmonischen Podiumsgespräch ohne inhaltliche Kontroversen waren sich alle darin einig, dass Glück und Erfüllung sich gerade durch die Hinwendung zu anderen und im Einsatz für die Erhaltung bzw. Schaffung ausreichender Lebensgrundlagen für alle Menschen einstellen würden.

Interessant waren für mich vor allem zwei kurze Sequenzen der Diskussionsveranstaltung: Nachdem eine der Nonnen des Drukpa-Ordens ihren spirituellen Weg vorgestellt hatte, führte der Gyalwang Drukpa zunächst aus, dass viele der sich gegen Frauen richtenden Verbote in buddhistisch geprägten Gesellschaften nur durch kulturelle Prägung und aufgrund von Dominanzvorstellungen der Männer entstanden seien und sich nicht auf die Lehren Buddhas zurückführen ließen. Und als der Gyalwang Drukpa nach dem Unterschied von Religion und Spiritualität gefragt wurde, beschrieb er Spiritualität als eine innere Einstellung, bei der man auf sich selbst geworfen und für sich selbst Gott sei. Religion hingegen zeichne sich durch Rituale aus und habe einen Transzendenzbezug. Dieser bewege nicht zu eigenem Tun, sondern verlange, einem höheren Wesen zu folgen, wodurch es einem dann gut ginge. Zudem sei es eine philosophische Idee, nicht man selbst, sondern ein anderer (i. e. Gott, J. P.) kümmere sich um einen.

Auch hier blieb für mich am Ende der Veranstaltungen einiges offen. Eindrucksvoll sind die humanitären und ökologischen Aktivitäten, die die zahlenmäßig recht kleine Drukpa-Linie in Deutschland entfaltet, ebenso das starke Engagement des Gyalwang Drukpa für die weltweit tätigen „Live To Love“-Organisationen. Doch gerade spirituelle bzw. religiöse Themen wurden wenig vertieft. So wurde der im Buddhismus geprägte Begriff „Achtsamkeit“ aus der Ankündigung zur Podiumsdiskussion nicht aufgegriffen. Hätten alle Diskussionsteilnehmer der buddhistischen Definition im Sinne des Vipassana zustimmen können? Und das, was der Gyalwang Drukpa mit dem Begriff „Religion“ assoziierte, wäre sicherlich einen eingehenden Austausch wert gewesen.

Fazit

Beide Vertreter des tibetischen Buddhismus haben auf je eigene Weise Spuren in der Hansestadt hinterlassen: der eine, indem er viele Tausend fasziniert und dazu bewegt hat, sich intensiver mit buddhistischer Lehre zu beschäftigen, der andere durch sein das Spirituell-Philosophische überschreitende Engagement für Gleichberechtigung, für ökologische, humanitäre, pädagogische und kulturelle Projekte. Es wäre zu begrüßen, wenn es gelänge, zudem auch in einen Dialog über unterschiedliche religiöse, spirituelle und weltanschauliche Einstellungen und die damit verknüpften Antworten auf existenzielle Fragen einzutreten.


Jörg Pegelow