Henning Freund

„Colonia Dignidad"

Der Öffnungsprozess einer „geschlossenen Gemeinschaft"

Am 10. März 2005 wurde Paul Schäfer in seinem argentinischen Versteck verhaftet und nach Chile gebracht, wo ihm der Prozess wegen mehrfachen Kindesmissbrauchs gemacht wurde. Seitdem sitzt der heute 87-jährige deutsche Sektenführer der ehemaligen „Colonia Dignidad“ im Gefängnis.1 Erst diese juristische Konsequenz und die damit verbundene Entlastung hat für viele Bewohner der Colonia Dignidad in Chile das Signal für einen ganz allmählichen und zaghaften Veränderungsprozess gegeben. Dieser Weg führt vom Leben in der früher stacheldrahtumzäunten und totalitär-religiös geführten Exklave hin zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen traumatischen Vergangenheit und der weitgehend unbekannten Außenwelt.

Der vorliegende Beitrag möchte einige wesentliche Entwicklungsstränge dieses neuerlichen Öffnungsprozesses einer mit unzähligen Skandalen und Menschenrechtsverletzungen in Verbindung gebrachten Sektengemeinschaft nachzeichnen. Dabei werden ein Programm zur psychotherapeutischen Behandlung, die Selbstdarstellung von Aussteigern sowie erste wissenschaftliche Zugänge eingehender dargestellt. Zunächst jedoch sollen in sehr komprimierter Form einige wesentliche Informationen zu den Entstehungsbedingungen und zur Geschichte der Colonia Dignidad zusammengetragen werden. Dabei wird deutlich, dass die „Kolonie der Würde“ mehr als eine ungewollt ironische Ortsbezeichnung eines deutschen Siedlungsprojektes in Südamerika war, nämlich die Infragestellung dessen, was gemeinhin unter dem Grundrecht der Unantastbarkeit der menschlichen Würde verstanden wird.

Kurzer geschichtlicher Überblick

Als Geburtsstunde könnte die Gründung der „Privaten Socialen Mission“ 1954 in Deutschland durch Paul Schäfer und einige Getreue verstanden werden, die sich damit von ihrem bis dahin baptistischen Gemeindeumfeld lösten.2 1961 entzog sich Paul Schäfer einer Anklage wegen Kindesmissbrauchs, indem er nicht ohne manipulative Einflussnahme mit ca. 200 Anhängern nach Chile auswanderte und dort nahe der Stadt Parral ein Landgut erwarb, das allmählich zu einer deutschsprachigen Exklave unter dem offiziellen Namen „Sociedad Benefactora y Educacional Dignidad“ ausgebaut wurde. In der Außenwahrnehmung imponierten zu-nächst eher die Verkörperung deutscher Werte und Tugenden gepaart mit sozialen Errungenschaften wie die Bereitstellung von Krankenbehandlung und Schulunterricht für die Bevölkerung der Umgebung. Allerdings entzog sich der Offensichtlichkeit, dass in der Binnenstruktur der Colonia Dignidad totalitäre Herrschaftsformen im Gewand einer pseudo-urchristlichen Privatreligion an der Tagesordnung waren. Dazu zählten unter anderem die Abschottung von der Außenwelt mit Hilfe eines eschatologischen Bedrohungsszenarios, fundamentale Eingriffe in die natürlichen Strukturen von Familie und Geschlechtlichkeit, die Etablierung eines Systems von Beichtzwang und öffentlicher Bestrafung und die Ausbeutung der Arbeitskraft der Bewohner. Mit dem Selbstverständnis, „Brautgemeinde Christi“ zu sein, dominierten Paul Schäfer und eine schmale Führungsschicht in diktatorischer Weise nahezu alle Lebensbereiche der Koloniebewohner.

Einem weiteren wichtigen Markstein stellt der Militärputsch unter General Pinochet dar, der 1973 die Regierung des Sozialisten Salvador Allende in Chile gewaltsam ablöste. In der Folgezeit kam es zur Kollaboration zwischen dem Regime Pinochets, der Geheimpolizei DINA und Paul Schäfer. Während der Diktator Pinochet schützend seine Hand über die Autonomie der Colonia Dignidad hielt, diente das ausgedehnte Gelände der Kolonie als strategisches Operationsfeld für die unterschiedlichsten Machenschaften der Militärdiktatur. Nur wenigen Mitgliedern der Colonia Dignidad gelang die Flucht vor den menschenverachtenden Zuständen in diesem streng bewachten „Staat im Staate“. Ihre Aussagen zu Menschenrechtsverletzungen untermauerten juristische Auseinandersetzungen in Chile und Deutschland, ohne dass es jedoch zu nennenswerten Einschränkungen für die Sektenführung kam. Dies änderte sich erst mit der langsamen Rückkehr Chiles zur Demokratie nach 1989. Nach und nach verlor die Colonia Dignidad ihre Privilegien der bis dato anerkannten Gemeinnützigkeit und vor allem auch den informellen Status einer quasi extraterritorialen Immunität. Der immer enger werdende Zugriff der chilenischen Behörden nötigte Paul Schäfer 1997 zur Flucht nach Argentinien, da er des mehrfachen Kindesmissbrauchs angeklagt worden war. Damit wurde einer weiteren Dimension der Sektenführung Rechnung getragen, nämlich der Instrumentalisierung der umfassenden Herrschaftsstrukturen zur Befriedigung der Pädophilie von Paul Schäfer in Form von konkretem sexuellem Missbrauch an vielen Jungen der Kolonie.

Die Folgezeit ohne direkte Präsenz Schäfers gestaltete sich für die zurückgelassenen Bewohner als Zerreißprobe, was sowohl die Unübersichtlichkeit der nun geltenden Machtverhältnisse als auch die Haltung jedes Einzelnen zu der fortschreitenden Demaskierung des erlittenen oder mitgestalteten Unrechts betraf. Eine Aufspaltung in Subgruppen unterschiedlicher Identifikation mit dem überkommenen System und ein öffentliches Schuldbekenntnis eines Teils der Bewohner sind Belege für Formen der Vergangenheitsbewältigung. 2004 erfolgte die rechtskräftige Verurteilung Schäfers durch ein chilenisches Gericht und auch die einiger anderer Mitglieder der Führungsriege. Die bereits erwähnte Verhaftung Schäfers im Jahr 2005 ist wohl der wichtigste Schritt zur Ahndung der Straftaten. Gleichzeitig stellt sie einen Wendepunkt für die verbliebenen Bewohner dar, weil deren verinnerlichte Gewissens- und Bestrafungsinstanz nun offensichtlich mit der tatsächlichen Entmachtung und Demaskierung Paul Schäfers in Konflikt geraten musste.

Psychotherapeutische Behandlung

Nahezu zeitgleich mit der Verhaftung Paul Schäfers startete das deutsche Außenministerium 2005 ein psychotherapeutisches Behandlungsprogramm für die in der Kolonie verbliebenen Bewohner. Damit beauftragt wurde Prof. Dr. Nils Biedermann, ein deutschstämmiger Psychiater aus Chile, der zusammen mit zwei Psychotherapeutinnen seit mittlerweile drei Jahren in regelmäßigen Abständen mehrtägige Behandlungseinheiten durchführt.3 Bezeichnenderweise war es nicht möglich, ein psychotherapeutisches Standardvorgehen zu wählen. Es war notwendig, die Interventionen und das Setting ständig an die ambivalente innere Situation der Bewohner und die wechselnde Gruppendynamik anzupassen. Besondere Schwierigkeiten stellten zum einen die Verwechslung von Psychotherapie mit der bis dahin bekannten „Seelsorge“ dar, zum anderen das fundamentale Vertrauensproblem durch die langjährige Denunziationsatmosphäre. Das Beziehungsverhalten der Bewohner erinnerte an die aus der Psychotraumatologie bekannten Stimmungsschwankungen zwischen großer Hilfsbedürftigkeit und massivem Misstrauen. Die Übertragungen in den therapeutischen Beziehungen wechselten also sprunghaft zwischen guten und bösen Objektbeziehungen. Deshalb ging das Behandlerteam vom klassischen Einzelsetting zur Gruppentherapie über, wobei sich ein eher pädagogisches, psychoedukatives Vorgehen der angststeigernden unstrukturierten Gruppensituation als überlegen erwies. Besonders wirksam war dabei die Vermittlung von Informationen über „normale“ Familienstrukturen und Möglichkeiten der Identitätsentwicklung in Abgrenzung zu einer alles überwachenden und bewertenden Gruppen- und Vaterinstanz. Man entschied sich dafür, die ganze Kolonie als „Kollektivpatienten“ zu behandeln, um so nicht nur den Reformwilligen, sondern auch den Konservativen eine Veränderungsmöglichkeit im Rahmen der Großgruppe zu geben. Dazu waren ebenfalls flankierende sozioökonomische Maßnahmen notwendig, die mit der chilenischen Regierung koordiniert wurden. Ein eher unbeabsichtigter Effekt des Behandlungsprogramms war, dass sich unterdessen nicht wenige Familien zur Remigration nach Deutschland entschlossen und somit den Kollektivcharakter in Frage stellten.

Die vorgefundene Psychopathologie und die Beziehungsstörungen fassen Biedermann et al. unter dem „Colonia Dignidad-Syndrom“ zusammen, das u. a. durch einen „Mangel an selbststrukturierenden Fähigkeiten“, Schwierigkeiten in der Affektregulation und die Internalisierung von Täterintrojekten geprägt ist. Die Formulierung eines „zweiten Gewissens“ durch einige Bewohner belegt, wie Sektenführung, Gruppendruck und Gottesbild zu einer hypertrophen Über-Ich-Instanz verschmolzen.

Das Behandlerteam resümiert den Zwischenbericht folgendermaßen: „Die Veränderungen, die in 21 Monaten erreicht werden konnten, sind jedoch beachtlich. Die Isolierung wurde weitgehend durchbrochen, die alten autoritären Hierarchien abgebaut, Konflikte können mittlerweile offener ausgetragen werden.“4 Dennoch wird angedeutet, dass bei weitem noch nicht von einem abgeschlossenen Therapieprozess gesprochen werden kann und dass eine Verlängerung des Behandlungsauftrags über 2008 hinaus unbedingt notwendig wäre.

Selbstdarstellung von Aussteigern

Zwei autobiographische Darstellungen von jungen Colonia Dignidad-Austeigern sind in den letzten Jahren auf dem deutschen Buchmarkt erschienen. Beide Publikationen ermöglichen es, auf der konkreten Ebene der Alltagserfahrung nachzuvollziehen, wie das Leben in der Colonia Dignidad aus der Sicht von Betroffenen aussah. Darüber hinaus wird sichtbar, welcher deformierenden Kraft die Entwicklung junger Männer im Einflussbereich der Sekte ausgesetzt war, aber auch welche Faktoren der Resilienz diesen ermöglichte, den Kern ihrer Persönlichkeit zu wahren und schließlich mit dem System, in dem sie aufgewachsen sind, zu brechen. Trotz aller Ähnlichkeit des erlittenen Schicksals zeichnen sich doch zwei ganz persönliche narrative Identitätskon-struktionen ab.

„Weg vom Leben“ ist der Titel des Berichts, den Efrain Vedder (geb. 1967) über seine ersten 35 Lebensjahre in der Colonia Dignidad abgibt.5 Vedder wurde im Alter von zwei Monaten von seinen chilenischen Eltern ins Krankenhaus der Kolonie gebracht und später unter verschiedensten Vorwänden nicht mehr zurückgegeben, sondern in der Kolonie zwangsadoptiert und aufgezogen. Mit acht Jahren wurde er in den „privilegierten“ Kreis von Jungen in die Nähe Paul Schäfers beordert und regelmäßig durch diesen sexuell missbraucht. Die nun folgenden Jahre waren geprägt von ständigen Krisen in der Nähe-Distanz-Regulation zu seinem Peiniger, der ihn mit Schmeicheleien, Psychopharmaka, härtester Arbeit und Strafen gefügig zu machen suchte. Geschildert wird ebenfalls die Verpflichtung zur ständigen Beichte persönlichster Gedanken im Kreis von drei Personen, wobei die Verfehlungen regelmäßig durch Spitzel an Paul Schäfer weitergegeben und auf allabendlichen Versammlungen veröffentlicht bzw. bestraft wurden. Je mehr die Colonia Dignidad von außen unter Druck geriet, desto stärker formierte sich der Widerstandswillen Efrain Vedders, der 2002 aus eigener Kraft die Colonia Dignidad verließ.

Eine deutlich andere, wenn auch nicht weniger prekäre Ausgangsbasis hatte Klaus Schnellenkamp (geb. 1972), der das Kind eines Mitglieds der Führungsriege in der Kolonie war. Dennoch wusste er bis zu seinem 16. Lebensjahr nicht, wer seine Eltern und Geschwister waren, da er, wie in der Kolonie üblich, in einer nach Jahrgang und Geschlecht getrennten Alterskohorte aufwuchs. Diese systematische Unterdrückung der Familien- und Geschlechterbeziehungen war ebenfalls ein Herrschaftsinstrument Schäfers, durch das er alles und jeden nur an den eigenen Einfluss band. Schnellenkamps Autobiographie liest sich wie eine Kette von Widerstand und Aufbegehren gegen die Unterdrückung von frühster Jugend an. Extrem traumatisch durfte die spätere Erkenntnis gewesen sein, dass die eigenen Eltern ihn vor den dauernden Bestrafungen durch Handlanger Schäfers nicht schützten, sondern der Vater sogar anwesend war. Zeitweise arrangierte sich Klaus Schnellenkamp auch mit der Unterdrückungsmacht, um in den Genuss eines der seltenen Privilegien zu kommen, nämlich eine Beziehung mit der Frau seiner Träume eingehen zu können. Der diesbezügliche Misserfolg, aber auch die gestörte Beziehung zu seiner Familie veranlassten ihn, die Kolonie nach mehreren vergeblichen Fluchtversuchen zu verlassen. Im Jahr 2005 flog er nach der Verhaftung seines Vaters in Begleitung eines Journalistenteams nach Deutschland. Dort veröffentlichte er sein Buch „Geboren im Schatten der Angst“ und war auch darüber hinaus in Presse, Funk und Fernsehen häufig medial präsent.6

Die Faktoren für die Ausstiegsbewegung dieser beiden Männer, die in der totalitär-religiösen Sozialisation der Colonia Dignidad aufwuchsen, dürften in einer Kombination aus ihrem jeweiligen familiären Trauma, ihrer persönlichen biographischen Transformation und einer zunehmenden Brüchigkeit des Machteinflusses einer ehemals „geschlossenen Gemeinschaft“ liegen. Dennoch repräsentieren diese Publikationen nur einen kleinen Ausschnitt der möglichen Erfahrungen in der Colonia Dignidad. Wir wissen wenig bis gar nichts über die Verarbeitungsformen der älteren Siedler der ersten Generation, der weniger Eloquenten, der stärker mit der Sektenideologie Identifizierten und der Mittäter. Mit der Bemerkung „Ein Buch über die Frauen der Colonia Dignidad wartet noch auf seine Autorin“ macht Friedrich Paul Heller auf einen geschlechtsspezifischen blinden Fleck in der Aufarbeitung aufmerksam.7 Diese „weibliche Sprachlosigkeit“ spiegelt aber auch die untergeordnete Rolle der Frau im Gefüge der Sekte wider.

Wissenschaftliche Ansätze

Bislang sind keine empirischen Arbeiten über die Mechanismen und Folgen der Sekte Colonia Dignidad erschienen. Die umfangreiche Berichterstattung wurde stattdessen von Journalisten, Menschenrechtsaktivisten und Betroffenen geleistet mit den entsprechenden Motivationslagen und Schwerpunktsetzungen. Dennoch erscheint eine wissenschaftliche Bearbeitung des Phänomens Colonia Dignidad unabdingbar, um im Dickicht der Geschehnisse und poltisch-affektiven Unübersichtlichkeiten eine möglichst objektive Datenaufnahme und deren Interpretation zu gewährleisten.

Dieser Forschungslücke widmet sich seit kurzem ein umfangreiches Kooperationsprogramm zwischen der Universität Heidelberg und zwei chilenischen Universitäten. Unter dem Rahmenprogramm „Interkulturelle Ätiologie- und Therapiemodelle am Beispiel der Depression im Vergleich Deutschland – Chile“ arbeiten deutsche und chilenische Wissenschaftler an kulturübergreifenden Fragestellungen.8

Für das Teilprojekt zur Colonia Dignidad zeichnen sich folgende Zugangswege ab: Auf chilenischer Seite sollen die in der Colonia Dignidad verbliebenen Bewohner mit einem qualitativ-psychologischen Ansatz untersucht werden. Fragestellung ist dabei, wie sich die frühere Sozialisation auf das Bindungsverhalten, die Emotionsregulation und die interpersonelle Beziehungsgestaltung ausgewirkt haben. Zu erwähnen ist, dass sich zurzeit in der Kolonie eher die alten Siedler der ersten Generation und jüngere Personen aufhalten, während annähernd hundert Personen vorwiegend mittleren Lebensalters nach Deutschland zurückgekehrt sind. Dieser zweiten Gruppe will sich der deutsche Projektpartner widmen. Geplant ist dabei, im Sinne einer „Multi-sited-Ethnography“9 die im deutschsprachigen Raum verstreuten Remigranten in Bezug auf unterscheidbare Vergleichsmerkmale wie psychische Gesundheit, ihre derzeitige soziale Situation und überdauernde kulturelle Repräsentanzen der Colonia Dignidad zu untersuchen. Viele relevante Aspekte der Colonia Dignidad wären darüber hinaus noch untersuchenswert. Dazu zählen u. a. die Bedingungen der unumschränkten Macht Paul Schäfers, die Analyse der religiösen und faschistischen Aspekte seiner Ideologie, die Konstruktion von „deutscher Identität“ in der Colonia Dignidad und die politisch-gesellschaftliche Kontextualität der Menschenrechtsverletzungen.

Schlussbemerkungen

Wie sieht die Situation der nach Deutschland zurückgekehrten ehemaligen Bewohner der Kolonie aus? Uneinheitlich und unübersichtlich wäre wohl die beste Umschreibung der Lage. Teilweise konnten die Rückkehrer an in den 1960er Jahren zurückgelassene familiäre und gemeindliche Strukturen wieder anknüpfen und somit den „Re-Entry-Schock“ der Rückkehr in das um vierzig Jahre weiterentwickelte Deutschland abfedern. Andere haben sich wiederum religiösen Sondergruppen angeschlossen. Dazu zählt beispielsweise die Freie Volksmission in Krefeld unter ihrem Prediger Ewald Frank, eine Gemeinschaft, in der Elemente der Lehre von William Branham zu den Glaubensüberzeugungen gehören.10 Auch in der Gemeinschaft der Norwegischen Brüder haben einige eine neue geistliche Heimat gefunden.11 Um die Geschädigten der Colonia Dignidad kümmert sich der Verein „Flügelschlag e.V. Gegen Kindesmissbrauch in Sekten“ in Bad Oldesloe. Dem Vorsitzenden Wolfgang Kneese gelang 1967 die Flucht aus der Colonia Dignidad nach Deutschland. Seitdem kämpft er engagiert gegen seine ehemaligen Peiniger und für die Entschädigung der Sektenopfer.

Aus der ehemals „geschlossenen Gemeinschaft“ in Chile, bei der eine Einheit von Lokalität, sozialer Ordnung und religiöser Überzeugung bestand, ist nun zumindest im deutschsprachigen Raum (Deutschland und Österreich) eine versprengte Gruppe an sehr verstreuten Wohnorten mit unterschiedlichen psychosozialen Problemlagen und Zugehörigkeit zu verschiedenen religiösen Gruppierungen entstanden. Von großem Interesse wäre die Betrachtung von Einzelschicksalen dieser Remigranten abseits der medialen Inszenierung. Die lange Sozialisation in der abgeschlossenen Sektengemeinschaft stellt ein einzigartiges „Gesellschaftsexperiment“ dar, dessen individuelle Verarbeitung als spezifisches Zusammenwirken von Faktoren der Beschädigung und Resilienz gesehen werden kann. Doch wie so vieles im Zusammenhang mit der Colonia Dignidad entziehen sich auch diese Einzelschicksale der Offensichtlichkeit. Dieser letzte Sichtschutz allerdings ist den Betroffenen zu wünschen, um nicht erneut in den schädlichen Einfluss von Bloßstellung und Instrumentalisierung zu geraten.


Henning Freund, Frankfurt/Main


Anmerkungen

1 1988 wurde die Kolonie offiziell in „Villa Baviera“ umbenannt, die Bezeichnung „Colonia Dignidad“ hat sich aber bis heute als meist gebrauchtes Synonym und Symbol für alles Geschehene gehalten.

2 Eine Stellungnahme des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland zur Berichterstattung zur „Colonia Dignidad“ vom 1.6.2006 stellt fest, dass es sich „weder bei Paul Schäfer um einen Baptisten handelt“ noch dass „die Geschehnisse in und um die Colonia Dignidad als baptistische Bewegung“ bezeichnet werden können. Richtig jedoch sei, dass sich vorwiegend Baptisten der Gruppe um Paul Schäfer angeschlossen hätten (www.baptisten.org/pdf/thementexte/id-62-pdf.pdf).

3 Die folgenden Ausführungen beruhen auf persönlichen Mitteilungen des Behandlerteams im Oktober 2007 und einem veröffentlichten Zwischenbericht: Biedermann, Nils / Strasser, Judith / Poluda, Julian, „Colonia Dignidad“ – Psychotherapie im ehemaligen Folterlager einer deutschen Sekte, in: Zeitschrift für Politische Psychologie, Jg. 14, 2006, Nr. 1+2, 111-127.

4 Ebd., 127.

5 Vedder, Efrain / Lenz, Ingo, Weg vom Leben. 35 Jahre Gefangenschaft in der deutschen Sekte Colonia Dignidad, Berlin 2005.

6 Schnellenkamp, Klaus, Geboren im Schatten der Angst. Ich überlebte die Colonia Dignidad, München 2007.

7 Heller, Friedrich Paul, Lederhosen, Dutt und Giftgas. Die Hintergründe der Colonia Dignidad, Stuttgart 2006, 7

8 Nähere Informationen zu diesem internationalen Doktorandenkolleg: www.chgdp.org

9 Vgl. Welz, Gisela, Moving Targets. Feldforschung unter Mobilitätsdruck, in: Zeitschrift für Volkskunde 94/1998 II, 177-194.

10 www.rp-online.de/public/article/regional/niederrheinsued/krefeld/nachrichten/krefeld/427878.

11 Persönliche Mitteilung eines Betroffenen.