Sebastian Kalicha (Hg.)

Christlicher Anarchismus. Facetten einer libertären Strömung

Sebastian Kalicha (Hg.), Christlicher Anarchismus. Facetten einer libertären Strömung, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2013, 192 Seiten, 14,90 Euro.

„Graswurzelrevolution“ – so heißen eine deutschsprachige Zeitschrift (Auflage 4000) und ein damit verbundener Buchverlag, die dem libertären, gewaltfreien Anarchismus eine Stimme geben wollen. Gemeint ist damit die Auffassung, „den Staat mit all seinen Institutionen und RepräsentantInnen als illegal anzusehen, den Kapitalismus als Wirtschaftssystem abzulehnen und eine egalitäre, gewaltfreie Gesellschaftsordnung ... zu verwirklichen“ (14). Damit grenzen sich die „Graswurzel“-Anarchisten einerseits von einem Staatssozialismus wie im früheren Ostblock ab, andererseits von einem parlamentarischen System, das Macht zwar durch Wahlen von unten legitimiert, dann aber zentral von oben ausübt. Angestrebt wird eine dezentrale Gesellschaftsorganisation von möglichst autonomen und aktiven kleinen Einheiten, die in Selbstorganisation ihr Leben gestalten. Diese revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft soll nicht mit gewaltsamen Mitteln (Attentate, „Propaganda der Tat“) durchgesetzt werden, sondern einerseits durch individuelle Verweigerung etwa des Kriegsdienstes und der Steuerzahlung, andererseits durch soziale und politische Aktivitäten an der Basis („direkte Aktion“). Dieser Minderheitstradition im Sozialismus folgen auch Menschen, die sich dafür auf explizit christliche Argumente berufen. Sie und ihre Ideen vorzustellen, ist das Ziel des vorliegenden Buches.

Dies geschieht einerseits durch biografische Porträts christlicher Anarchisten und Anarchistinnen, andererseits durch ausführliche exegetische Betrachtungen herrschaftskritischer Texte der Bibel. Es überrascht nicht, dass dabei die Bergpredigt (Matth 5) im Mittelpunkt steht. So betont der in England lehrende Alexandre Christoyannopoulos, dass deren paradoxe Weisungen (z. B. zwei Meilen mitzugehen, wenn eine verlangt wird) geeignet seien, den Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt unter Menschen zu unterbrechen. Positive Orientierung gebe dann die etwas später (Matth 7) zitierte „Goldene Regel“, die eine Ethik radikaler Gleichheit impliziere: „Wenn du nicht ausgebeutet werden willst, dann darfst du nicht ausbeuten. Wenn du nicht beherrscht werden willst, so musst du dich weigern, andere zu beherrschen“ (80). Das gilt als Alternativkonzept zum Gewaltmonopol des Staates, in dem wenige für viele Gesetze machen und damit eine Ungleichheit von Autorität in die Welt bringen. Für diese Sicht beruft sich Christoyannopoulos neben anderen Autoren insbesondere auf den Schriftsteller Lew Tolstoi, den wohl prominentesten Vertreter eines radikal staatsfernen, pazifistisch-anarchistischen Christentums, der eben deswegen 1901 aus der Russisch-Orthodoxen Kirche exkommuniziert wurde.

Aber nicht nur das Neue Testament bietet Texte, auf die Anarchisten sich berufen können (neben der Bergpredigt nicht zuletzt das Magnificat); vielmehr weisen auch Teile der hebräischen Bibel ausgesprochen kritische Züge gegenüber menschlicher Herrschaft auf. Das betonen exegetische Hinweise und Überlegungen des Australiers Dave Andrews und des Franzosen Jacques Ellul (zu ihm später mehr). Die Einführung des Königtums in Israel geschah gegen den durch den Propheten Samuel übermittelten Willen Gottes (1. Sam 8); der Psalmist warnt ausdrücklich davor, sich auf Fürsten zu verlassen (Ps 146), und in Jeremias großer Zukunftsvision (Jer 31) wird das Gesetz in jedes Herz eingeschrieben, und „keiner wird mehr den anderen belehren“. Prophetische Rede, so Ellul, sei fast immer auch Kritik am König. Insofern kann man zu Recht von einer befreiungstheologischen und herrschaftskritischen jüdisch-christlichen Traditionslinie sprechen – in der realen Religionsgeschichte zweifellos eine Minderheitstradition.

Sie spiegelt sich gesellschaftlich einerseits in manchen Exponenten vom „linken Flügel“ der Reformation wider, wie in dem vom Herausgeber Sebastian Kalicha und Gustav Wagner porträtierten Peter Chelcicky (1390 – 1460), dem Begründer der „Böhmischen Brüder“; man wird auch an Gruppen wie Waldenser, Mennoniten, Hutterer oder Amische denken können, die immer ein Kontrastmodell zur sie umgebenden Gesellschaft und ihren Herrschaftsformen leben wollten. Aber auch die großen Konfessionen kennen christliche Anarchisten in ihren Reihen. Für den Katholizismus ist insbesondere die Mitbegründerin der Catholic-Worker-Bewegung in den USA, Dorothy Day (1897 – 1980) zu nennen, hier vorgestellt von Tom Cornell. Die radikal sozialistische Journalistin begründete sowohl die Zeitschrift „Catholic Worker“ als auch „houses of hospitality“, die Armen und Mittellosen ein Quartier boten. Sie ging nie zur Wahl und zahlte keine Steuern, verweigerte verpflichtende Zivilschutzübungen und beteiligte sich an Protestaktionen gegen den Vietnamkrieg; ihr Einsatz als Streikposten bei einem für illegal erklärten Streik von Landarbeitern brachte der 75-Jährigen ihre letzte Verhaftung ein. 20 Jahre nach ihrem Tod hat die Erzdiözese New York ein Seligsprechungsverfahren für die gewaltfreie katholische Aktivistin in Gang gesetzt; man darf gespannt sein, ob diese Mischung aus Rosa Luxemburg und Mutter Teresa noch zur Ehre der Altäre gelangt.

Als bedeutendster europäischer Theoretiker des christlichen Anarchismus kann der französische Protestant Jacques Ellul (1912 – 1994) gelten, hier vorgestellt von Lou Marin. Der Jurist und Soziologe, während des Zweiten Weltkriegs aktives Mitglied der Résistance, machte sich einen Namen als Vordenker der Technikkritik und der Medienkritik. In seinem Werk „Anarchie et christianisme“ (1988) entwarf er die Vision einer herrschaftsfreien Gesellschaft vieler kleiner „Affinitätsgruppen“ aus rund 15 Personen unter dem Motto „Global denken – lokal handeln“. Es geht Ellul dabei „nicht um eine Revolte oder einen Kampf gegen die Herrschenden, sondern um den Austritt aus ihrem Herrschaftsbereich und den Aufbau einer Alternativgesellschaft“ (168) – ein Gedanke, der ihn mit anderen radikalen Zivilisationskritikern wie Ivan Illich verbindet. Seine radikale Gleichheitsidee führt das zeitweilige Mitglied des Nationalrats der Reformierten Kirche Frankreichs auch auf sein Verständnis des biblischen Gottes zurück, der eben nicht „von oben“ regiere, sondern mit dem Menschen „von Angesicht zu Angesicht, wie ein Freund mit seinem Freund“ spreche (Ex 33).

Faszination und Skepsis halten sich nach der Lektüre dieses ungewöhnlichen Buches die Waage. Theologisch ist das hier in verschiedenen Spielarten vorgestellte Konzept eines „christlichen Anarchismus“ außerordentlich reizvoll. Es zeichnet eine Minderheitstradition jüdisch-christlicher Herrschaftskritik nach, die in Theologie und Geschichte oft vernachlässigt wurde. Dabei erscheint sie in vielem der biblischen Botschaft näher als das unheilige Bündnis von Thron und Altar, das in der Geschichte des christlichen Abendlandes so wirkmächtig geworden ist. Das anstehende Hundert-Jahre-Gedenken an den Ersten Weltkrieg samt seinen geistlichen Propagandisten mahnt hier zu sehr selbstkritischer kirchlicher Rückschau. Auf der anderen Seite gilt: Die Visionen einer überzeugenden christlichen Alternativgesellschaft haben sich in der Geschichte nie wirklich erfüllt. Sie konnten in Gewalt umschlagen wie beim Bauernkriegshelden Thomas Müntzer oder dem Münsteraner Täuferreich des Jan van Leiden. Die Amischen und die Hutterer verweigern sich bis heute überzeugend militärischer Gewalt, haben aber eine straffe Kirchenzucht nach innen entwickelt, die ihrerseits unterdrückerische Züge annehmen kann. Das gilt erst recht für die (hier nicht behandelten) radikal staatsfernen Zeugen Jehovas, deren theokratisches System nach innen das Gegenteil von libertär oder auch nur liberal ist. Ob das Gesellschaftskonzept eines „christlichen Anarchismus“ je zum Tragen kommen kann, darf daher bezweifelt werden. Es behält aber seinen Wert als Stachel im Fleisch einer oft allzu herrschaftsnahen bürgerlichen Theologie und Kirche. Dies macht das vorliegende Buch überzeugend deutlich.


Lutz Lemhöfer, Frankfurt a. M.