Michael Nüchtern

Christliche Religionsgemeinschaften als Anbieter von Glaubensgütern

Chancen auf dem Markt der Religionen

Der Titel des hier zu verhandelnden Themas gebraucht ökonomische Begriffe für die Beschreibung der kirchlichen Wirklichkeit heute. Dies ist nicht selbstverständlich, aber auch längst nicht mehr gänzlich ungewohnt. Obwohl oder vielleicht auch gerade weil die ökonomische Sprache nicht die Muttersprache von Religion oder Kirche ist, scheint von ihrer Verwendung im Zusammenhang von Religion und Kirche eine eigentümliche Verlockung auszugehen. Wenn es nicht der Reiz des kleinen Tabubruches ist, von der heiligen Mutter Kirche als einer Anbieterin von Glaubensgütern auf dem Markt zu reden, dann ist es zumindest der gefällige und auch produktive Charme der Verfremdung, die Verhältnisse eines Lebensbereiches in der Sprache eines anderen zu formulieren. In aller Regel ist die Verwendung der neuen Sprache aber kein Spiel, sondern ist mit bestimmten Anlässen verbunden. Umstände, Gründe und Absichten legen den Gebrauch der neuen Sprache nahe. Aus der Erfahrung des Übersetzens und des Dolmetschens wissen wir aber auch, wie leicht dabei Nuancen und Besonderheiten einer Sprache verloren gehen können bzw. neue Assoziations- und Bedeutungsfelder entstehen können. Man muss sich der Gründe und vor allem der Grenzen für die Verwendung einer ökonomischen Sprache im Zusammenhang von Religion und Kirche bewusst bleiben.

Unser Titel enthält eine bezeichnende Unschärfe. Er lässt offen, ob er eher eine Feststellung formuliert oder eine Aufforderung enthält, ob er lediglich analytisch gemeint ist oder auch einen imperativen Sinn hat. Diese Unschärfe ist charakteristisch für die Rede vom „Markt der Religionen“. Denn sie wird in beidem Sinne gebraucht – als Beschreibung der religiösen Landschaft wie als Aufforderung an die Kirchen, sich in ihr – wie auch immer – recht zu verhalten.

In den folgenden Ausführungen soll deswegen zunächst den Gründen (I.) für den Gebrauch ökonomischer Begriffe nachgegangen werden. Sodann soll die Berechtigung oder die Unangemessenheit (II.) der Marktmetapher für die Situation der Kirche heute geprüft werden.

I. Von den Teilhabe- zu den Tauschprozessen

1. Begriffe geben nicht einfach die Wirklichkeit wieder, sondern sie deuten sie immer in bestimmter Weise. Die Rede vom „Markt“ signalisiert einen besonderen Zustand der Religion bzw. der Religionen in der Gesellschaft. Sie stellt fest: Religion wird nicht mehr selbstverständlich gelebt und durch Nachahmung und Hineinwachsen weitergegeben, sondern aktuell und bedürfnisorientiert in dieser oder jener Form erworben oder auch nicht erworben. Die Tradition ist abgebrochen, und wo Tradition war, sind Optionen geworden. Der Gang der Einzelnen auf den Markt hat die Gemeinde ersetzt, zu der man selbstverständlich gehörte. Religion ist für die Einzelnen nichts Vorgegebenes mehr, sondern etwas Aufgegebenes. Sie ist keine Grundierung und bestimmende Macht des alltäglichen Lebens mehr, sondern wird – wenn überhaupt – aus besonderen Anlässen von Zeit zu Zeit „portionsweise“ praktiziert. Tauschprozesse, könnte man sagen, sind an die Stelle von Teilhabeprozessen getreten.

Der Religionswissenschaftler Hartmut Zinser2 bringt die Entstehung des Marktes der Religionen mit dem Ende des staats- oder volkskirchlichen Systems der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, die das Monopol auf Religion hat, und mit der konsequenten Durchsetzung des Prinzips der Religionsfreiheit zusammen.

Es fällt auf, dass die Beschreibungen vom Entstehen des Marktes der Religionen mit der Geste des „früher einmal“ und „heute nicht mehr“ abgefasst sind. Hier besteht die Gefahr der Idealisierung historischer Verhältnisse und der Verabsolutierung bestimmter Trends.

Die Freude jedes Vertreters der Botschaft vom Markt der Religionen ist das Internet. Wer Begriffe wie Spiritualität, Hochzeit oder Bestattung bei Yahoo oder Google eingibt, bekommt den Eindruck einer unglaublichen Fülle, Buntheit und Verbreitetheit religiöser oder religionsähnlicher Angebote. Ein übersichtliches Abbild der virtuellen Realitäten liefern die Abteilungen für Lebenshilfe und Esoterik jeder größeren Buchhandlung. Hier findet sich alles in schöner Eintracht nebeneinander: Geistheilungsanleitungen, Astrologie und Orte der Kraft, Irische Segenssprüche und die Weisheit der Hexen, Anselm Grün, Bert Hellinger u. a. m. Der Markt der Religionen ist das Korrelat der Multioptionsgesellschaft – und wie die einschlägigen und eingängigen feuilletonistischen Deutungen unserer Wirklichkeit alle heißen.

2. Eine zweite Weise der Rede vom Markt der Religionen geht aber nun – möglicherweise reaktiv – von den Kirchen selbst aus. Sie fangen an, sich in einer Situation jenseits eines selbstverständlichen, staatsanalogen Zustands zu begreifen und entwickeln dabei z. T. für ihre Aufgaben eine Begrifflichkeit des Marktes und vielleicht auch ein den Begriffen entsprechendes Selbstverständnis. Sie sprechen von ihren „Produkten“, ihren „Kunden“ usw. Angesichts von Kirchenaustritten kommt die Frage auf, wie Kirchenmitglieder stärker gebunden oder zufriedener mit der Institution und ihren Leistungen werden können. Wo das Bewusstsein der selbstverständlichen Teilhabe als schwindend diagnostiziert wird, werden Tauschprozesse fokussiert. Der Begriff Markt wechselt dabei von einem die Situation deutenden Begriff zu einer Handlungsaufforderung, sich auf dem Markt der Religionen richtig zu verhalten.

Die Situation, die dazu veranlasst, die eigene kirchliche Wirklichkeit mit ökonomischen Begriffen zu beschreiben, ist durch drei Erfahrungen gekennzeichnet:

– die Erfahrung materieller Ressourcenverminderungen,

– die Wahrnehmung großer unterschiedlicher Optionen,

– und vor allem ein Selbstverständnis, das Kirche als Handlungssubjekt begreifen will und begreift.

Es ist also nicht nur ein Phänomen des Zeitgeistes, wenn auch in der Kirche unter so etwas wie Marktgesichtspunkten gehandelt werden soll. Vielmehr legt sich unter den drei genannten Bedingungen – ich formuliere bewusst vorsichtig – eine Marktsicht oder eine Marktsprache nahe. Dabei handelt es sich um eine große Bandbreite von Phänomenen, die meist polemisch als Ökonomisierung der Kirche empfunden werden mögen: Von der Rationalisierung kirchlichen Handelns, einer strategischen Ausrichtung auf bestimmte Ziele unter dem Druck einer Ressourcenverminderung über den Gebrauch ökonomischer Begriffe bis zu weitgehend unternehmensanaloger Theorie oder Praxis in der Kirche. Kosten-Leistungs-Rechnungen schaffen eine gewisse Transparenz und die Ausrichtung an Zahlen zielt auf eine Verbindlichkeit kirchlicher Vorhaben.

Viele Landeskirchen haben jedenfalls in den letzten Jahren aufwändige Prozesse initiiert und dokumentiert, in denen sie ihre Aufgaben und Ziele für die Zukunft erarbeitet haben. Kirchliche Organe entwickelten unter tatkräftiger Hilfe von Unternehmensberatungsfirmen eine „Vision“, begannen ihre Organisation zu überdenken und zu verbessern, versuchten ihre „Kernkompetenzen“ zu bestimmen. Landeskirchen organisierten Leitbild- oder Leitsatzprozesse. Selbstvergewisserung geschieht dabei dadurch, dass man vom Opfer der Ereignisse zu Akteuren des Geschehens werden will. Landeskirchen entwickelten Logos, um sichtbar und formatiert in Erscheinung zu treten, wenn nicht auf dem religiösen Markt, so doch in der Öffentlichkeit nach dem wahrgenommenen Ende einer traditionalen Christlichkeit. Es wird von Kirchenmarketing3 gesprochen, mit dessen Hilfe kirchliches Handeln effektiver und effizienter werden solle und könne.

In einigen Landeskirchen wurden die sog. „Neuen Steuerungsmodelle“ ansatzweise übernommen. Die für die kommunalen Verwaltungen entwickelten Verfahren sind aus der Erkenntnis entstanden, dass angesichts der finanziellen Lage neue Aufgaben nicht mit linearen Erweiterungen der Stellen einhergehen können, wie es die deutschen Kirchen in den 1960er und 1970er Jahren praktiziert hatten. Die Verantwortlichen werden dabei nicht von vornherein auf Inhalte eingeschworen, sondern auf eine Verbindlichkeit der Verfahren. Nicht bestimmte Ziele werden in den Mittelpunkt gestellt, sondern das Prinzip der Zielorientierung selbst. Das ist eine Voraussetzung dafür, neue Schwerpunkte bei der Auftragserfüllung zu setzen und andere Formen aufzugeben. Zentrale Begriffe des aus dem angelsächsischen Raum stammenden Neuen Steuerungsmodells sind Produktdefinitionen, Kosten-Leistungs-Rechnungen, Zielvereinbarungen und anderes. Stets geht es nicht um die Weiterführung des scheinbar immer schon so Getanen, sondern um die Voraussetzungen, dass bewusst und ausdrücklich Neues geplant werden kann angesichts bestehender Herausforderungen.

Andere Reaktionsmuster setzen nicht formal, sondern betont inhaltlich an. Wo Kernkompetenzen oder der „geistliche Markenkern“ (Wolfgang Huber) angesichts der Ressourcenverknappung definiert werden sollen, die auf jeden Fall fortzuführen sind, verbindet sich das formale Reaktionsmuster mit einer inhaltlichen Perspektive. Nicht nur die leereren Kassen oder leere Organisationsabläufe fordern heraus, sondern leere Herzen – und Kirchen. Seit der EKD-Synode 1999 in Leipzig zum Thema Mission und Evangelisation lässt sich ein Wiedererwachen eines missionarischen Selbstverständnisses und Handelns in der evangelischen Kirche beobachten, das sich begrifflich ausdrücklich oder auch nur implizit mit einer gewissen Marktperspektive verbindet. Neben programmatischen und strategischen Schriften (z. B. „Das Evangelium unter die Leute bringen. Zum missionarischen Dienst der Kirche in unserem Land“, EKD-Texte 68, 2001) gibt es in den letzten Jahren zahlreiche Initiativen und Programme, die Mission und Evangelisation häufig angeregt durch amerikanische Beispiele direkt und gezielt betreiben wollen. Wird hier auch nicht immer die Begrifflichkeit vom Markt und den religiösen Angeboten verwendet, so wird sich doch mit knalligen Werbebroschüren, fetzigen Titeln für Gottesdienste u. a. so verhalten, als stünde man mitten auf dem Marktplatz.

Man kann zusammenfassend feststellen, dass ein imperativer Sinn von „Markt“ einerseits in unterschiedlicher Intensität begegnet, z. T. fast beiläufig und nur um die Öffentlichkeitsarbeit ein wenig zu verbessern, z. T. als Anspruch, kirchliches Handeln stärker zu rationalisieren und Effektivitätskriterien zu unterwerfen. Andererseits tritt er in zwei inhaltlichen Ausformungsvarianten auf: In der einen Form geht es eher um die verantwortete Abstimmung zwischen kirchlichen Angeboten und berechtigten religiösen Bedürfnissen und Erwartungen der Menschen an die Institution Kirche in Zeiten der Ressourcenverknappung. In der anderen Form geht es um eine Aufmerksamkeit und vor allem Verbindlichkeit erzeugende Präsentation kirchlicher Angebote.

II. Religion im Erbe statt im Erwerben

Die Gründe für eine Betrachtung der Kirche und ihrer Angebote unter der Marktperspektive liegen in der Veränderung der religiösen Landschaft und in dem bewussten Versuch des „Kirchenregiments“, auf eine veränderte Situation ausdrücklich und gestaltend zu reagieren, wo Religion nicht mehr im Erbe ist, sondern erworben werden muss. Wer angesichts der Erfahrungen von Ressourcenverminderung und der Vielfalt von Handlungsmöglichkeiten auf die Marktsprache völlig verzichten will, muss angeben, wie die genannte Situation anders handlungsleitend beschrieben werden soll.

Die Grenzen einer Marktbetrachtung von Religion sollen wie die Gründe unter zwei Fragestellungen verhandelt werden. Die eine zielt darauf, ob die Marktmetaphoriken dem Gegenstand von Religion und Glaube angemessen sind oder ob sie ihn in unangemessener Weise verändern (1). Die andere Fragerichtung lautet, ob das Deutungsmuster vom Markt der Religionen die religiöse Landschaft zureichend beschreibt oder ob die Marktbrille nicht zu Abblendungen und blinden Flecken in der religiösen Landschaft führt (2).

Lassen wir uns auf beide Fragerichtungen ein.

1.1 Schon Zinser hatte in seiner Studie 1997 gefragt, welchen Veränderungen Religion auf dem Markt ausgesetzt sei und ob die auf dem Markt verhandelte Religion noch „Religion sei, (...) ob der Markt mit seinen Verdinglichungen und Verendlichungen das von der Religion gemeinte Absolute auflöst“.4 Der Religionswissenschaftler meint, die Form der Vermittlung durch Tradition oder durch Verkauf bleibe der Religion nicht äußerlich. Das Heilige werde, wenn es aus seinem kollektiven Zusammenhang gelöst werde, in dem es gefeiert und verehrt werde, seines Charakters beraubt. Ohne die Heiligkeit zuschreibende soziale Gemeinschaft werde es zu einem Ding wie jedes andere auch und verliere seine Bedeutung.5 Mit anderen Worten: das Heilige „braucht“ die soziale Gemeinschaft, während es durch den Markt „verbraucht“ wird.

1.2 In ähnlicher Weise haben andere Autoren angesichts einer Kirche, die die Verbesserung ihrer Marktposition zu einem strategischen Ziel erhebt, nicht religionswissenschaftlich, sondern theologisch versucht zu argumentieren: Auf dem Markt verkaufe die Kirche ihre Freiheit und liefere sich den Götzen oder dem Bösen aus. In einem etwas schlichten Entweder-oder wird dann etwa gefragt, ob das Evangelium Ware der Menschen oder Wort Gottes sei, ob die Kirchenglieder Kunden oder Volk Gottes seien und ob die Kirche Organisation der Menschen oder Werk Gottes sei.

Diese pauschale und generelle Kritik an der Marktsprache blendet ab, dass Kirche auch ein Handlungssubjekt ist, das mit Ressourcenbegrenzungen und unterschiedlichen organisatorischen Optionen verantwortlich umgehen muss. Sie dispensiert sich mit prophetischer Geste von der konkreten Handlungsverantwortung. Diese bezieht sich auf die Kommunikation des Evangeliums. Letztere hat aber zwei Dimensionen. Als „äußeres“, sichtbares und organisierbares Geschehen ist es kirchlicher Verantwortung und Haushalterschaft in den Mitteln der jeweiligen Kultur und Zeit zugewiesen. Ob Kommunikation des Evangeliums ihr Ziel erreicht, dass Menschen zum Glauben kommen, ist menschlicher Macht und kirchlich-organisatorischer Raffinesse entzogen, sondern geschieht, wo und wann Gott selbst es will (vgl. CA V). Damit ist die wichtigste Grenze kirchlicher Verantwortung und für eventuelle Analogien zwischen Kirche und Unternehmen genannt. Allenfalls auf die Verteilung der „Glaubensgüter“, nicht auf deren gläubige Annahme kann sich kirchliche Haushalterschaft beziehen.

1.3 Der Bonner Praktische Theologe Eberhard Hauschildt6 hat kürzlich ein differenziertes Modell vorgestellt, das seine Pointe darin hat, dass das, was Kirche als Unternehmen von anderen Unternehmen unterscheidet, heraustritt, wenn man so tut, als sei Kirche ein Unternehmen auf dem Markt. Durch die Übersetzung in eine ökonomische Begrifflichkeit kann das Besondere des religiösen Unternehmens und seines Glaubensgutes anschaulich werden. Das Glaubensgut, das die Kirche anbietet, gehört zu den immateriellen Gütern, die man nicht kaufen kann, sondern wie Gesundheit oder Bildung selbst praktizieren muss. Das Glaubensgut der Kirche ist ferner ein unteilbares Gut. Die mitbeteiligten Konsumenten des Gutes werden zu Unterstützern und Verbreitern des Gutes. Das Glaubensgut der Kirche enthält wesensmäßig eine transzendente Dimension. Die mitbeteiligten Konsumenten und die Anbieter verfügen nicht über die Erreichung des Glaubensgutes, sondern verstehen und erfahren sich als Dienende und Beschenkte.

Überzeugend ist Hauschildts Kritik am Konzept der Kernkompetenzen, das sozusagen nur auf den „Vertrieb“ der Glaubensgüter im engeren Sinne setzt. Die wesentlich unüberprüfbaren Glaubensgüter der Religion werden nämlich vertrauenswürdig durch die Erfahrungsgüter, die die Kirche vermittelt: Gemeinschaft, verlässliche Beziehungen und diakonische Arbeit. Wo die Kirche missionarisch-evangelistisch erfolgreich ist, da ist sie es nicht ohne jene Erfahrungsgüter. Ökonomische Begriffe sind nicht als gänzlich ungeeignet und unangemessen für kirchliches Handeln anzusehen. Sie bedürfen freilich einer verantworteten Übertragung, bei der das Besondere der kirchlichen Organisation im Blick ist.

2. Die andere Frage nach der Grenze der Markmetapher betrifft nicht die Angemessenheit für kirchliches Handeln, sondern die Reichweite ihrer Deutungskraft. Ist es wirklich so, dass die religiöse Landschaft durch den Begriff „Markt der Religionen“ zureichend beschrieben werden kann? Ich meine, nein. Heute noch weniger als vor zehn Jahren flanieren einfach tatsächlich oder potentiell religiös Kauflustige über den religiösen Marktplatz und suchen sich ihre Angebote. In der religiösen Landschaft in Deutschland haben New Age, fernöstliche Spiritualität und Esoterik ihren Höhepunkt überschritten. Verbindliche Gruppen und Zirkel – sowohl im Christentum als auch im Islam – haben ihre Positionen demgegenüber gefestigt. Daneben gibt es Anzeichen für eine weiterhin bestehende oder vielleicht sogar neue – irgendwie traditionale – kulturelle Christlichkeit, wie man es im vorigen Jahr (14/15/16.5.2005) zu Pfingsten (!!) in einem Titel der „Süddeutschen Zeitung“ lesen konnte: „Kirchenaustritte, leere Gottesdienste? Trotzdem und mehr denn je gilt: Du wirst christlich bleiben, liebes Abendland!“ Diese Wirklichkeit einer unbestimmten kulturellen Christlichkeit haben die Theoretiker des religiösen Marktes übersehen. Religion muss nicht nur stets neu erworben werden, es gibt sie auch weiterhin im Erbe.

Eine empirische Studie über diejenigen, die in den letzten Jahren in die Kirche eingetreten sind, kann dies ein Stück weit eindrücklich belegen. Die Evangelische Landeskirche in Baden hat 2002 beim Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD eine wissenschaftliche Untersuchung zu den Motiven des Kircheneintritts in Auftrag gegeben, die inzwischen publiziert ist.7 Fast 1100 Personen, die in den vergangenen Jahren in die Landeskirche eingetreten sind, wurden standardisiert telefonisch befragt.

Die Untersuchung zeigt zunächst ein deutlich unterschiedliches Profil bei den Übergetretenen einerseits und den Wiedereingetretenen sowie den Neueintritten andererseits. Die Eintretenden waren im Schnitt 50-jährig. Für sie spielen offensichtlich kaum äußere Veranlassungen für den Kircheneintritt eine Rolle. Sie haben nur zu einem geringen Teil vor ihrem Eintritt Gespräche mit anderen geführt, die sie als bedeutsam für den Entschluss zum Eintritt erachten. Ein innerer Prozess hat zum Wiedereintritt in die Kirche geführt, nicht die Begegnung mit irgendeinem evangelistischen Angebot. Der Grund, den die meisten angaben, warum sie wieder in die Kirche eintreten wollten, war das Motiv der Zugehörigkeit: Sie traten in die Kirche ein, weil sie wieder dazugehören wollten! Der persönliche Lebensbogen und dessen Verarbeitung gaben den Ausschlag zum Wiedereintritt in die Kirche. Der Kircheneintritt ist das Ergebnis einer biografischen Entwicklung, einer Innengeschichte.

Eine Theorie vom Markt der Religionen kann diese Entscheidungen nur begrenzt erklären. Die Vorstellung eines Tauschprozesses gilt nur höchst modifiziert: Lediglich bei den im Zusammenhang einer sog. Amtshandlung Eintretenden bzw. Übertretenden kann man überlegen, ob hier ein Tauschverhalten bestimmend ist. Die Eingetretenen verbinden mit Kirche bestimmte von ihnen geteilte „Werte“. Sie bekennen sich zu einem Erbe, sie wollen nicht etwas erwerben. Die Kirche stellt sich für die Eintretenden als ein vielfach mit Sinn gefüllter Raum dar. Er steht für kulturelle Herkunft und Beheimatung, für Bedürfnisse also, die der „Markt“ und das Ökonomische nur begrenzt und kaum nachhaltig bieten können.

Die Eintretenden schätzen, dass das Gemeindeleben lebendig ist, ohne allerdings die Nötigung zu empfinden, sich selbst daran zu beteiligen. Dies Ergebnis deckt sich mit anderen Untersuchungen8: Eine kirchliche Durchsetzungsmacht für bestimmte Wertvorstellungen wird abgelehnt, gewünscht wird aber ein ethisches kirchliches Angebot in der Gesellschaft. Unzweifelhaft hat sich die öffentliche Präsenz der Kirche damit aus dem staatspolitischen in den zivilgesellschaftlichen Bereich verschoben, freilich ohne ihre Zugehörigkeit zum kulturellen Lebenshintergrund zu verlieren.

Wenn sich die Metapher vom Markt der Religionen kaum als Deutung für diesen Befund über das Eintrittsverhalten anbietet, muss man andere Begrifflichkeiten wählen, um die Wirklichkeit der religiösen Landschaft in Deutschland zutreffend zu Gesicht zu bekommen. Man hat, um den Platz des Christentums in der Moderne zu bestimmen, von seiner dreifachen Gestalt gesprochen.9 Christliches erscheint als

kirchliches Christentum im Leben der Gemeinden und im Handeln der kirchlichen Institution. Es lebt darüber hinaus in anderer Form als eine Art

öffentliches Christentum in vielfältigen kulturellen Zusammenhängen: von der Präsenz christlichen Traditionsgutes in der Sprache, in der Musik und im Stadtbild über die Geltung bestimmter Werte und den staatlichen Schutz christlicher Feiertage bis hin zu öffentlichen Erwartungen an die Kirchen, zum Beispiel in Situationen kollektiven Gedenkens mit religiösen Handlungsformen zu dienen. Christliches begegnet schließlich als

individualisiertes Christentum, das in den unterschiedlichsten Gestalten privater Frömmigkeit oder Weltanschauung mit zumindest Fermenten christlicher Traditionen anzutreffen ist.

Die Begehung des Weihnachtsfestes kann als Beispiel dafür dienen, wie Christliches in der Kirche, in der Öffentlichkeit und in der Privatsphäre höchst different, aber doch auch nicht völlig beziehungslos voneinander wirksam ist.

Die Theorie der dreifachen Gestalt des Christentums in der Moderne mag im Detail umstritten sein. Sie darf nicht dazu missbraucht werden, die Gegenwart religiös zu verklären. Aber sie kann in zweierlei Weise als Hypothese nützlich sein:

– Sie kann zunächst Veränderungen der religiösen Landschaft anschaulich machen. Viele Beispiele lassen sich dafür bringen, dass in den letzten Jahrzehnten die Macht des öffentlichen Christentums schwächer geworden, aber gerade in letzter Zeit auch nicht völlig verschwunden ist. Die Sinnenfälligkeit eines privaten Christentums ist undeutlicher geworden und hat sich möglicherweise mehr mit religiösen Elementen aus anderen Kulturkreisen vermischt. Aber verschwunden ist diese Form keineswegs.

– Die Theorie der dreifachen Gestalt des Christentums kann zweitens eine Erklärungshypothese anbieten, warum bestimmte kirchliche Handlungsformen mehr Echo haben und lebendiger sind als andere. Das heißt sie bietet sich sekundär als Erklärung dafür an, wo Chancen auf dem „Markt der Religionen“ für christliche Glaubensgüter und die Kirchen liegen. Die Theorie der dreifachen Gestalt des Christentums in der Moderne gibt eine Deutung für die weiter vorhandene oder sogar gestiegene Akzeptanz bestimmter kirchlicher Handlungsformen.

Es sind solche, die in allen Gestalten des Christlichen in der Moderne lebendig und mit diesen verknüpft sind. Ich nenne beispielhaft die Kasualien, die Kirchenmusik und die Kirchenräume selbst, die im Protestantismus in den letzten zehn Jahren eine erstaunliche Renaissance der Wertschätzung und der Beachtung erlebt haben. Sie sind Kulturgut, Form privater Religiosität, gemeinsamer Ausdruck kirchlichen Glaubenszeugnisses. Sie gehören zur „gelebten Religion“ (W. Gräb). Kirchenräume und Kirchenmusik sind kulturell präsent und privatreligiös verwertbar. Es gibt wenig anderes christliches Traditionsgut, das so stark wie die Musik und die Gebäude diese Bereiche verbinden – vielleicht das Weihnachtsfest, die Lutherbibelsprache oder das Gebot der Nächstenliebe. Kulturelle Präsenz und Nutzbarkeit für die individuelle Religiosität der Menschen lässt Kirchenmusik und Kirchenräume eine ähnliche Rolle ausüben wie die Kasualien. Sie bilden eine Brücke zwischen Kirche, Kultur sowie privater Frömmigkeit.

Gleichzeitig handelt es sich hierbei um kirchliche Handlungsformen, die den Alltag transzendieren. Sie korrespondieren der Festbedürftigkeit des Lebens – besonders im Falle der sog. Kasualien – bzw. einer Ahnung von der Grenze des Machbaren. Den Kirchen begegnet im Umgang mit dieser Grenze offenbar ein nachhaltiges Vertrauen. Gerade weil Kirchenräume, Kasualien und anderes damit auf etwas jenseits des Ökonomischen verweisen, sollten sie verstärkt ins kirchliche Blickfeld geraten. Sie bilden eine Chance auf dem tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen Markt der Religionen, weil sie gerade die Welt des Marktes relativieren.


Michael Nüchtern, Karlsruhe


Anmerkungen

1 Vortrag auf dem Symposion „Religion/Theologie und Ökonomie: Fremde – Abhängige – Lernende?“ vom 16. – 18. Juni 2005 des Internationalen Wissenschaftsforums der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg; erschienen auch im Protokollband des Kongresses, Heidelberg 2006.

2 Hartmut Zinser, Der Markt der Religionen, München 1997.

3 Hans Raffée, Art. Kirchenmarketing, in: Ev. Soziallexikon, Köln 2001, Sp. 843ff: „K. will die knappen Ressourcen möglichst wirksam einsetzen und ist insoweit ein Konzept der Ökonomisierung, die prinzipiell christlich nicht nur legitim, sondern um des Nächsten willen oft auch geboten ist. K. ist aber weit mehr: Es ist neben seinem Kalkülbereich ein Konzept der Kreativität und der Innovation(en), das neue Handlungs- und Lösungsräume für die Evangeliumsvermittlung erschließt.“

4 Hartmut Zinser, Der Markt der Religionen, 31.

5 Ebd., 150f.

6 Ist die Kirche ein Unternehmen?: PT (93)2004,514ff.

7 Rainer Volz, Massenhaft unbekannt – Kircheneintritte, Kurzfassung Michael Nüchtern, hg. Ev. Oberkirchenrat Karlsruhe 2005.

8 Vgl. Michael N. Ebertz, Kirche und Öffentlichkeit – Chancen und Grenzen, in Hans-Georg Ziebertz (Hg.), Erosion des christlichen Glaubens? Umfragen, Hintergründe und Stellungnahmen zum „Kulturverlust des Religiösen“, Münster 2004, 15ff.

9 Dietrich Rössler, Grundriß der praktischen Theologie, 2. Aufl. Berlin 1994, 90ff.