Christliche Identität, alternative Heilungsansätze und moderne Esoterik

Grundsätze zur Orientierung für Kirche und Gemeinde (zweiter Teil)

Im Zusammenhang der Studientagung „Christliche Identität und alternative Heilungsansätze heute“, die im Christian Jensen Kolleg, Breklum, stattfand (31.10.06 -2.11.06), haben Reinhard Hempelmann (Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, EZW), Dietrich Werner (Nordelbisches Missionszentrum, NMZ), Harald Lamprecht (Evangelisch-Lutherische Kirche Sachsen) und Ulrich Laepple (Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste, AMD) ein Grundsatzpapier vorgestellt. Nachdem in MD 3/2007, S. 104ff, die ersten 13 Thesen dokumentiert wurden, folgt nun der zweite Teil. Im Rahmen der EZW-Texte werden weitere Beiträge der Tagung publiziert werden.


D. Schlüsselthemen im Dialog zwischen christlichem Glauben und alternativen Heilungsansätzen

14. Differenzierte Wahrnehmung und Lernbereitschaft

Für den Dialog mit Heilungsansätzen, die sich nichtchristlicher Herkunft verdanken, ist ein genaues Wahrnehmen ihres jeweiligen Selbstverständnisses wesentliche Voraussetzung für eine verantwortliche Beurteilung aus christlicher Sicht. Im theologischen Gespräch mit alternativen Heilungsansätzen steht sowohl das Gottesverständnis als auch das Menschenbild zur Diskussion. Dialog und Auseinandersetzung mit alternativen Ansätzen des Heilens helfen den christlichen Gemeinden, vernachlässigte Aspekte des eigenen christlichen Glaubens neu zu entdecken und zu vertiefen: die Erschließung der therapeutischen Dimension von Glaube und Liturgie, die Vertiefung eines Verständnisses des Heiligen Geistes als Kraft zu einem neuen Leben, die Wiederentdeckung der Leiblichkeit in der Theologie und Frömmigkeitspraxis.

15. Gott als geisthaftes Prinzip oder ansprechbares Gegenüber?

Zu den kontrovers diskutierten Themenbereichen gehört die Frage, wie sich das christliche Gottesbild zu einem energetisch-unpersönlichen Bild Gottes verhält, wie es in asiatisch und esoterisch orientierten Konzepten bestimmend ist, die etwa von der kosmischen Energie (Chi, Ki, Prana, Kundalini etc.) ausgehen. Dabei ist bemerkenswert, dass bei einigen Ansätzen der energetischen bzw. geistigen Heilung ein Energiebegriff verwandt wird, der schon physikalistisch genannt werden kann, d.h. es wird von einer subtilen oder feinstofflichen Energie so gesprochen, als sei sie ein physikalisch messbares und technisch handhabbares Energiefeld. Dafür werden dann die unterschiedlichsten Erklärungstheorien verwandt, die sich – besonders in der Esoterik – mit einer entsprechenden Kosmologie und einem energetisch-kosmischen Gottesverständnis verbinden können. Wenn dabei nur transrationale Erkenntnisformen zugelassen werden, stellt sich eine solche Energiemedizin außerhalb der erfahrungswissenschaftlichen Überprüfbarkeit. Wo jede „grobstoffliche“ Erkrankung auf eine „feinstofflich-psychische“ Ursache zurückgeführt wird, kann dies nicht nur zu einer totalen Psychosomatisierung aller Krankheiten, sondern auch zu einer maßlosen therapeutischen Selbstüberschätzung führen. Jedenfalls gibt es fließende Übergänge zwischen bestimmten Ansätzen bei der Vorstellung einer kosmisch-universalen Lebensenergie zu einem problematischen, letztlich pantheistischen Denken, bei dem der in der jüdisch-christlichen Tradition verankerte Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf vernachlässigt und verwischt wird.

Von Gott reden kann sich aus christlicher Perspektive eben nicht darin erschöpfen, von einer unpersönlichen Energie, einem geisthaften Prinzip oder einer Urenergie des Kosmos zu sprechen. Vielmehr setzen die Sprache der Bibel und der Vollzug des christlichen Gottesdienstes ein Gottesverständnis voraus, nach dem Gott der von der Welt zu unterscheidende Schöpfer des Himmels und der Erde und ein ansprechbares personales Gegenüber für alle Menschen ist. Eine Vermischung esoterischer und christlicher Gottesvorstellung muss abgelehnt werden. Von Gottes Gegenwart kann aus christlicher Perspektive nicht apersonal (Urkraft oder Geist des Universums) und getrennt von der jüdisch-christlichen Offenbarungsgeschichte und der Person Jesu Christi geredet werden. Allerdings wird in der christlichen Tradition Gott als Vater, Sohn und Heiliger Geist auch als derjenige verstanden, der als schöpferische, heilende und liebende Macht in allem gegenwärtig ist und wirkt und sich allen Menschen heilvoll zuwendet. Insbesondere die in der Denktradition der hellenistischen Antike verwurzelten orthodoxen Kirchen kennen die Redeweise von den im ganzen Kosmos wirkenden Energien Gottes (energeia thou theo), die – rückgebunden an das Verständnis des dreieinigen Gottes – in den Dialog mit Vertretern esoterischer Anschauungen einzubringen ist.

16. Heilung für den ganzen Menschen

Zu den Schlüsselfragen gehört ebenso das Verständnis des Menschseins, das biblisch-alttestamentlich nur ganzheitlich als Einheit von Leiblichkeit und Sozialität, von Geist, Körper und Seele gedacht werden kann.

Das hat Folgen für ein multidimensionales Verständnis von Gesundheit und Krankheit. In jedem Zustand von Gesundheit/Krankheit sind jeweils alle Dimensionen des Menschlichen gleichermaßen beteiligt, die physisch-somatische, die soziale, die geistig-mentale und die spirituell-religiöse Dimension. Heilverfahren, die eine wesentliche Dimension des Menschen prinzipiell ausklammern, abwerten oder nivellieren, tragen nicht zu einem ganzheitlichen Verständnis menschlichen Heilwerdens bei. Das gilt für eine Ausklammerung der spirituell-religiösen Dimension des Heilwerdens in der modernen Medizin ebenso wie etwa für die Vernachlässigung der sozialen, familiären und gesellschaftlichen Dimension menschlichen Gesundwerdens in Bereichen der Esoterik. Es ist deshalb ein wesentliches Anliegen christlicher Gesprächspartner im Dialog über alternative Heilverfahren, danach zu fragen, wie jeweils die Ganzheit des Menschen im Verständnis von Gesundheit und Krankheit bewahrt und ebenso eine falsche, neue Spiritualisierung des Menschenbildes und Gesundheitsverständnisses wie eine falsche und einseitige Materialisierung und Ökonomisierung des Menschenbildes in Heilungspraxis und Gesundheitswesen vermieden wird.

Eine Verfremdung des christlichen Glaubens findet dabei ebenfalls statt, wenn mit dem Ansatz des christlichen Heilens durch Gebet und Handauflegung Momente des Positiven Denkens (nach dem New Thought-Ansatz des amerikanischen Heilers Quimby: Krankheit ist wesentlich eine geistige Angelegenheit und kann durch Beseitigung negativer Glaubensüberzeugungen geheilt werden) verbunden werden, nach dem – im Extremfall – die Affirmation, Verinnerlichung und konsequente Wiederholung des „positiven Gedankens“ (z.B. „Ich habe keinen Krebs“ oder „Ich werde heil“) zum entscheidenden kausalen Faktor im Prozess menschlicher Heilung erklärt wird.

17. Gegen Fitness- und Gesundheitskult – Annahme und Integration von Schwachheit und Leiden

Zu den Schlüsselfragen gehört auch der vor allem im populären psychosomatischen Denken geläufige Kreislauf bzw. Wirkungszusammenhang von Krankheit, Sünde und Schuld. Die biblische Tradition, die diesen Zusammenhang durchaus kennt, wehrt zugleich ein einlinig kausales Schuldzurechnungsdenken ab, das den Kranken und Leidenden dann auch noch als den religiös Gestraften sieht (vgl. Joh 9,3).

Andererseits wehrt die christliche Tradition die Selbstvergöttlichung des Menschen und damit die Überschätzung oder Übersteigerung seiner Möglichkeiten ab. Dass der Mensch nicht Schöpfer seiner Gesundheit ist, dass körperliche Gesundheit nicht ein religiöser Wert per se ist und dass im Verständnis von Gesundheit und Krankheit die Erfahrung von Schwachheit, Gebrechlichkeit und/oder bleibendem Leiden (d.h. die Erfahrung des Kreuzes) mit integriert werden muss, dies sind Elemente, die von der christlichen Tradition her in das Gespräch mit alternativen Ansätzen einzubringen sind. Dadurch kann die christliche Tradition kritisch bleiben, sowohl gegenüber einem Trend zur „Gesundheitsreligion“ in der Moderne (Gesundheit, Fitness und ewige Jugend und Leistungskraft als Ziel, das um jeden Preis erreicht werden muss) als auch gegenüber einer gesundheitsbezogenen Instrumentalisierung von Religion („Gesundheitsevangelium“ als Analogie zum „Wohlstandsevangelium“).

18. Christlicher Glaube und geistig-energetisches Heilen

Es ist eine wichtige Kernfrage, welches Verhältnis besteht zwischen den alten christlichen Traditionen der Handauflegung sowie des Gebetes für den Kranken und den verschiedenen Formen des geistig-energetischen Heilens (spiritual healing, therapeutic touch, distant healing, bioenergetic healing, aura healing). Voraussetzung für die meisten Formen des geistig-energetischen Heilens ist die Annahme von bioelektrisch-magnetischen Feldern des Menschen, deren Schwingungsmuster eine je nach Krankheitsbefund unterschiedliche Charakteristik aufweist und die von dazu begabten Menschen (Energieheilern) beeinflusst werden können.

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass auch bei den in der christlichen Tradition bekannten Formen der segnenden Handauflegung, des Gebetes sowie der Salbung Veränderungen der elektromagnetischen Strahlungsfelder auftreten und insofern Korrespondenzen bestehen zum bioenergetischen Heilen. Unabhängig von der letztlich bisher nicht geklärten Messbarkeit und Erklärbarkeit entsprechender Energiefelder (Tachyonen-Hypothese, Biophotonen-Hypothese, Psi-Hypothese) muss man nüchtern konstatieren, dass entsprechende Formen des geistenergetischen Heilens (in Deutschland, aber auch in vielen Ländern des Südens) von bewussten Christen praktiziert werden, die sich in ihrer Arbeit auf Jesus Christus berufen, und dass es andererseits aber auch Geist-, Trance- oder Energieheiler gibt, die ihre Praxis in den Rahmen einer anderen Weltanschauung und Religiosität stellen.

Charakteristisch für das christliche Verständnis von Heilung ist, dass nicht der Beter durch seine Fähigkeiten oder besonderen Begabungen Energiefelder verändert, sondern der Segen Gottes wird durch Handauflegung zeichenhaft und sinnlich erfahrbar zugesagt. Was er bewirkt, liegt nicht in der Autorität des Handauflegers, sondern allein im Willen Gottes.

E. Kriterien zur Beurteilung

19. Dreifacher Grundsatz christlicher Beurteilung

Eine Beurteilung der verschiedenen alternativen Heilungsansätze aus christlicher Perspektive wird sich zunächst auf eine sorgfältige Wahrnehmung ausrichten müssen, die durch ein paar kritische Schlüsselfragen erleichtert werden kann:

• Was ist der weltanschauliche und gegebenenfalls religiöse Hintergrund eines bestimmten Heilverfahrens?

• In wieweit ist dessen Übernahme Voraussetzung für die Annahme einer Heilwirkung?

• Ist das behauptete Wirkprinzip auch im Rahmen eines anderen Weltbildes plausibel?

• Werden Klienten mit dem Anspruch des jeweiligen alternativen Heilverfahrens von anderen Formen einer anerkannten medizinischen Behandlung abgehalten?

• Werden überzogene Honorare gefordert und übersteigerte Heilungs- oder Vollkommenheitserwartungen mit dem Heilungsansatz verbunden?

• Wird eine psychische Abhängigkeit von dem begleitenden Therapeuten/Heiler aufgebaut?

Sodann wird sich eine christliche Beurteilung von einem dreifachen Grundsatz leiten lassen:

• Es ist zum einen der Grundsatz der Freiheit der Nutzung von allen in der Schöpfungswirklichkeit mitgegebenen Wegen und Mitteln der Heilung zur Geltung zu bringen („Machet euch die Erde untertan“, Gen 1,26ff).

• Es ist zum anderen dem Grundsatz der christusgemäßen Prüfung zu entsprechen („Prüfet alles und behaltet das Gute“, 1. Thess 5,21ff). Christlich unbedenklich ist demzufolge ein Heilmittel oder Heilverfahren, das nicht im Widerspruch steht zur Wirklichkeit des Menschen im Machtbereich Christi, wie er biblisch beschrieben wird. Christlich ist ein Handeln, das gegenüber dem ersten Gebot respektvoll bleibt und die in Christus gegebene Freiheit des Menschen achtet.

• Es ist schließlich der Grundsatz der kritischen Abgrenzung von allem zu beachten, was Leben und Freiheit zerstört und Abhängigkeit erzeugt („Werdet nicht erneut zu Sklaven der Elementarmächte“, Gal 4,3-11).

20. Kritische Prüfung von Weltbild und Wirksamkeitsplausibilität

Das Wesen einer solchen „christusgemäßen Prüfung“ ist die Frage, welche Elemente der Esoterik in der Konfrontation mit dem christlichen Glauben nicht bestehen können, welche vom religiösen Standpunkt wertneutral sind und welche vielleicht auch als Bereicherung des eigenen Glaubenslebens Aufnahme finden können. Dafür empfiehlt sich eine abgestufte Beurteilung.

Zunächst ist generell die Frage nach dem Zusammenhang von Weltbild und Wirksamkeitsplausibilität zu stellen:

• Sind die angebotenen Wirkzusammenhänge im Rahmen des eigenen Welt- und Menschenbildes überhaupt nachvollziehbar?

• Was ist der weltanschauliche und gegebenenfalls religiöse Hintergrund eines bestimmten Heilverfahrens?

• Wie viel an impliziter Weltanschauung muss ich mit übernehmen, bevor ich bei nüchternem Nachdenken die behaupteten Zusammenhänge akzeptieren kann?

• Ist das behauptete Wirkprinzip auch im Rahmen eines anderen Weltbildes plausibel?

Zum Beispiel ist bei der Akupunktur auch ohne wissenschaftlich exakten Nachweis des von den Betreibern im Körper angenommenen Meridiansystems nachvollziehbar, dass Nadelstiche (etwa über Nervenreizungen) eine Wirkung auf den Organismus haben können. Bei Bach-Blütenessenzen oder kinesiologisch gestellten Diagnosen ist es hingegen ebenso wie beim Kartenlegen nicht unmittelbar nachvollziehbar, warum zwischen intuitiv, zufällig ausgewählten Pflanzenextrakten, momentanen Muskelanspannungen bzw. ausgelegten Karten und der eigenen Befindlichkeit ein Zusammenhang bestehen soll.

21. Glaube und Vernunft

Christlicher Glaube ist nach christlichem Verständnis vernunftfreundlich, auch wenn er die Möglichkeiten menschlicher Rationalität übersteigt. Gottes Güte und Barmherzigkeit sind mit Mitteln menschlicher Vernunft weder beweisbar noch widerlegbar. Ein recht verstandener Vernunftgebrauch ist zugleich offen für Erweiterungen und Veränderungen menschlicher Erkenntnis. Darum bleibt das medizinisch-heilungsbezogene Gesamtwissen der Gegenwart ergänzungsfähig auch für Faktoren und Wirkungsweisen, die sich bislang nicht vollständig erklären lassen. Bei zahlreichen Krankheiten sind Ätiologie wie Pathologie und Salutogenese nicht vollständig geklärt (vgl. etwa neuere Forschungsansätze in der Psychoneuroimmunologie). Christlicher Glaube unterstreicht die Berechtigung und Notwendigkeit zum kritischen Gebrauch der Vernunft als Schöpfungsgabe. Deshalb müssen in der Beurteilung der Methodik bzw. der Pragmatik von Heilverfahren Kriterien wie verstandesgemäße Nachvollziehbarkeit, anwenderunabhängige Reproduzierbarkeit und statistisch belegbarer Wirksamkeitsnachweis, wie sie im neuzeitlichen medizinischen Diskurs entwickelt wurden, eine Rolle spielen.

22. Stellung zum Zentrum christlichen Glaubens

Als zweiter Schritt ist die Prüfung auf die Verträglichkeit mit den Grundüberzeugungen des Christentums notwendig: Welche Stellung hat die Methode zum Glauben an die Erlösung durch Kreuz und Auferstehung Jesu? Als Antwort sind verschiedene Möglichkeiten denkbar:

• ausgeschlossen (z.B. beim Karma-Glauben);

• eingeschränkt oder ergänzt (z.B. bei Yoga – je nach Anwendung, s. 25.) oder

• nicht berührt (z.B. Homöopathie, Heilkräuteranwendung etc.).

Eine hilfreiche Leitfrage bei dieser Entscheidung lautet:

• „Welches Heil wird von wem erwartet?“ Diese Leitfrage hilft bei der Klärung: Geht es um gesundheitliche Besserung, seelische Gesundung oder gar kosmische Erlösung?

• Soll dies mit Mitteln der Schöpfung erfolgen oder wird die Hilfe von „der Natur“, „dem Kosmos“, einer unpersönlichen „Energie“ oder von Gott erwartet?

Solange lediglich gesundheitliche Besserung mit Mitteln der Schöpfung (z.B. Heilpflanzen) gesucht wird, sind kaum Probleme zu erwarten. Wenn der Anspruch aber beinhaltet, dass Körper und Seele in einem umfassenden Sinne heil werden sollen, indem sich die Erwartungshaltung auf allgemeine kosmische Energien gleichsam als Ersatz für Gott richtet, dann gerät dies in Spannung zur biblisch-christlichen Überlieferung.

Eine Prüfung anhand dieser Leitfragen erfolgt in der Absicht, differenzierte Urteile zu treffen. So ist z.B. die klassische Homöopathie zwar naturwissenschaftlich umstritten, selbst aber mit keiner besonderen Religion verknüpft und daher „religiös neutral“. Allerdings ist die Homöopathie auch integraler Bestandteil der anthroposophischen Medizin. Zahlreiche homöopathisch behandelnde Mediziner sind zugleich Anthroposophen, wobei deren weltanschauliche Voraussetzungen das Behandlungskonzept mit prägen und in Spannung zum christlichen Glauben bringen können.

23. Kommerzialisierung, Scharlatanerie und Allmacht des Therapeuten

Wie ist die Selbstkontrolle innerhalb der verschiedenen Ansätze und Schulen alternativer Heilverfahren gegen Scharlatanerie, unangemessene Kommerzialisierung und Abwehr von Missbrauch oder der Übersteigerung des jeweiligen Bildes des Therapeuten geregelt? Alternative Heilverfahren sind ein Markt mit großer Reichweite und erheblichem Gewinnpotential geworden. Nur in Teilbereichen gibt es gemeinsame Standards, Qualitätskontrollen und gegenseitige Kontrolle. Mit dem Begriff der Scharlatanerie ist vorsichtig umzugehen, weil auch Menschen gebrandmarkt werden können, die durchaus Gutes im Sinn haben. Hilfreich ist die folgende Definition: „Ein Scharlatan ist jemand, der wegen Geldes oder um ökonomischer Vorteile willen Substanzen verschreibt oder Behandlungen vornimmt, unabhängig von den eigenen Qualifikationen oder Fähigkeiten, im Wissen, dass sie wirkungslos sind oder manchmal gefährlich sind“ (Bernhard Wolf). Um falsche Pauschalurteile zu vermeiden, ist stets zwischen der Sicherheit oder Fragwürdigkeit der Methode und dem Verantwortungsbewusstsein des konkreten Anbieters zu unterscheiden. Dabei sind verschiedene Kombinationen möglich. Auch manche wissenschaftlich nicht anerkannten Methoden können unter bestimmten Umständen bei einem Therapeuten, der seine Grenzen kennt und respektiert, durchaus hilfreich wirken. Umgekehrt können auch wissenschaftlich fundierte Methoden bei unsachgemäßer Anwendung durch mangelhaft ausgebildete Therapeuten oder skrupellose Geschäftemacher schwere Schäden anrichten. Dennoch ist leider die andere Verbindung häufiger: Nicht wissenschaftlich anerkannte Verfahren sind meist in ihrem Erfolg viel weniger überprüfbar und gesichert. Darum haben sie ein höheres Missbrauchspotenzial, werden öfter mit überzogenen Versprechungen aufgeladen und sind für die Klienten weniger durchschaubar. Aus diesem Grund sind im Bereich alternativer Heilverfahren besondere Anstrengungen zur Qualitätssicherung und zur Vermeidung von Missbrauch notwendig. Weithin ist davon wenig zu spüren.

F. Praktische Hinweise

24. Kriterien zur Raumvergabe

Mit der Raumvergabe ist im kirchlichen Kontext eine besondere Verantwortung verbunden. Die Kirche wird mit den Veranstaltungen in ihren Räumen identifiziert. Es wird nie nur ein Raum, sondern immer auch ein Name vermietet. Die meisten Menschen gehen davon aus, dass Veranstaltungen in einem kirchlichen Raum eine positive Wirkung haben und von den Verantwortlichen der Kirchengemeinde geprüft sind. Die folgenden Hinweise können diese Prüfung erleichtern. Vor einer Vermietung kirchlicher Räume ist generell zu prüfen:

• Wer ist der Veranstalter? Ist er Teil größerer Organisationen? Bestehen zu dem Veranstalter ökumenische Kontakte?

• Worum handelt es sich bei der geplanten Veranstaltung? Ist es eine religiöse Veranstaltung? Ist sie für eine geschlossene Gruppe oder wird offen dazu eingeladen?

• Besteht für zufällig Hinzukommende Verwechslungsgefahr mit kirchlichen Angeboten?

25. Umgang mit Yoga und Reiki

Yoga und Reiki werden heute von vielen Menschen westlicher Gesellschaften als Hilfen zur Bewältigung des Alltags aufgegriffen.

Yoga wird in zahlreichen Kursen als Entspannungstechnik angeboten und dabei weitgehend von seinem weltanschaulich-religiösen Hintergrund abgelöst. Manche Formen des Yoga werden innerhalb eines christlichen Deutungsrahmens rezipiert und gewissermaßen „christianisiert“. Seiner Herkunft nach stellt Yoga (ähnlich wie viele asiatische Kampfsportarten) allerdings keine Gesundheitsübung dar, sondern ist Bestandteil eines religiösen Heilsweges, auf dem die Körperbeherrschung zur Beherrschung des Geistes führen soll. In Europa kommt davon oft nur das gymnastische Angebot, also ein säkularisiertes Wellness-Yoga an, das keinen größeren Stellenwert hat als jede gute Form von Seniorengymnastik.

Wer Yogaübungen zur Steigerung seiner körperlichen Fitness betreibt, nimmt dadurch noch keine andere Religion an. Deshalb ist es unangemessen, wenn von bestimmten Kreisen Yoga-Kurse in kirchlichen Gemeindehäusern als ein Einbruch okkulter und dämonischer Mächte apostrophiert wird. Wer jedoch die Zeitschrift „Yoga aktuell“ durchblättert, wird keine Zweifel mehr an der zutiefst hinduistischen Prägung einer ganzen Reihe von Yogalehrern haben, für die diese Übungen entschieden mehr als nur Sport darstellen. Die Prüfung des konkreten Einzelfalles ist darum unerlässlich.

Reiki ist keine gymnastische Entspannungsübung, sondern – dem Anspruch nach – eine vom Patienten passiv empfangene kosmische Kraftübertragung. In der Praxis trifft man auf der Anbieterseite auf stark esoterisch orientierte Behandler, die auch vor unseriösen Therapieversprechungen nicht zurückschrecken, vereinzelt auch auf „säkularisierte“ Versionen, die die Behandlung auf reines Handauflegen beschränken.

Für die christliche Beurteilung ist die Frage entscheidend, mit welchem weltanschaulichen Geltungsanspruch jeweils diese Heilungspraxis und Entspannungstechnik verbunden ist. Wenn Reiki-Meister für sich in Anspruch nehmen, über spirituelle Energien und schnell wirksame Heilungskräfte zu verfügen, mit deren Hilfe Ursachen von Krankheiten umfassend diagnostiziert und heilende Kräfte wirksam freigesetzt werden können, muss dem aus christlicher Sicht entgegengehalten werden: Gottes Geist ist nicht verfügbar, er weht, wo er will. Eine Deckungsgleichheit zwischen dem biblischen Pneuma und dem asiatischen Konzept der kosmischen Ki-Energie oder dem Prana besteht nicht.

G. Heilung als Thema der internationalen und interkulturellen Ökumene

26. Dialog zwischen Medizin, alternativen Heilungsansätzen und Spiritualität

Wichtige, neue Impulse zur Auseinandersetzung mit dem Thema Gesundheit, Heilung, Spiritualität kommen aus der internationalen Ökumene: Für viele Kirchen in Afrika oder auch in China ist das Heilungsthema zentral für das Verständnis und die Praxis des christlichen Glaubens. Der Ökumenische Rat der Kirchen hat dem Thema Heilung, Gesundheit, Spiritualität einen wichtigen Stellenwert gegeben – nicht nur in den 30 Jahren Geschichte der Christlich-Medizinischen Kommission (CMC), sondern auch bei der Weltmissionskonferenz in Athen, die die Frage nach heilenden und versöhnenden Gemeinschaften in den Mittelpunkt stellte. Im Grundsatzdokument des ÖRK „Zur heilenden Mission der Kirche“ (2005) wird nachdrücklich auf die Notwendigkeit eines neuen Dialogs zwischen spirituellen Heilungspraktiken und der modernen Medizin hingewiesen.

Eine gleichermaßen wichtige Rolle spielt die Heilungsthematik in charismatischen und esoterischen Strömungen. Trotz großer Unterschiede im religiös-weltanschaulichen Begründungszusammenhang gibt es zwischen beiden Strömungen bemerkenswerte Übereinstimmungen und Gemeinsamkeiten: Beiden geht es um den Kontaktgewinn mit göttlicher Heilungskraft, beiden geht es um die Erfahrung des Wunderhaften und Außergewöhnlichen, um die siegreiche Auseinandersetzung mit den Mächten des Bösen. Hier wie dort überlässt man den Bereich von Krankheit und Heilung nicht den Ärzten allein und sucht entsprechende Erfahrungen von Geistheilung und Kraftübertragung. Die Resonanz und globale Bedeutung dieser Bewegungen unterstreicht die Notwendigkeit, sich kritisch mit verschiedenen Ausdrucksformen religiöser Suche auseinanderzusetzen. Offensichtlich gehört die Sehnsucht nach Heilung zu den anthropologischen Grundkonstanten in unterschiedlichen Kulturen, auf die die christlichen Kirchen gemeinsam eine Antwort finden müssen.

27. Plädoyer für einen interdisziplinären Dialog über Krankheit und Heilung

Weit über die pragmatische Aufgabe von Raumvergabe und Zulassungsbedingungen für Kursangebote in kirchlichen Familienbildungsstätten hinaus muss die entscheidende Aufgabe von Kirche und Gemeinde heute in der Förderung und Initiierung eines grundlegenden und weiterreichenden Dialoges über Krankheit, Gesundheit und Heilung gesehen werden. Die Kirche könnte ein Ort für eine „dritte Kultur“ (John Brockmann) des interdisziplinären Dialoges über Krankheit und Heilung sein. Anzustreben ist ein Dialog nach der Art eines Konsiliums nicht nur zwischen wissenschaftlicher und alternativer Medizin, sondern auch zwischen natur- und geisteswissenschaftlichen ebenso kulturanthropologischen und missionstheologischen Perspektiven, in dem unfruchtbare Stereotypen und Polaritäten vermieden werden. Ein solcher Dialog ist nicht nur für die Gesellschaft insgesamt dringend erforderlich, in der das kostbare Gut Gesundheit immer teurer wird. Auch für die Kirche gehört er zum Kern ihres Auftragsbereiches, weil das Evangelium keinen Rückzug in ein innerchristliches Ghetto duldet. Wenn an einzelnen Orten und in einzelnen Regionen „Runde Tische“ eines Dialoges über Gesundheit, Heilung und Spiritualität entstehen, sollte die Stimme der Christen und Kirchen nicht fehlen. Die Botschaft des Evangeliums ist Stärkung für die Schwachen und Heilung für die Kranken. Sie bezeugt Hoffnung angesichts von Leiden und Endlichkeit.

28. Die Sehnsucht nach Heilung und die missionarische Verantwortung der Kirche

Die Begegnung mit Menschen, die auf der Suche nach alternativen Heilungsangeboten sind, und mit denen, die solche Heilungskonzepte anbieten, hat für die Kirche eine wichtige Funktion. Sie verweist sie auf ihre Aufgabe, Menschen das Evangelium von der Nähe Gottes und seiner heilenden Liebe in ihrer jeweils eigenen Sprache zu verkündigen.

Dabei geht es nicht um die eigene Aktualitätssicherung durch die Aufnahme alternativer Heilpraktiken in die kirchliche Praxis; auch nicht um den Appell, die Kirchen sollten ihren Sendungsauftrag ganz in den Dienst der Integration aller geistigen und religiösen Energien unserer Welt stellen, als ob deren Botschaft im Kern dieselbe wäre. Nicht eine ungeprüfte Übernahme von Inhalten und Methoden alternativer Heilansätze ist die Aufgabe der christlichen Kirchen, wohl aber ein genaues Hören auf die Fragen und Sehnsüchte der Menschen. Wer dies wagt, kann auf viele dieser Fragen Antworten aus der Mitte des Evangeliums und der christlichen Tradition finden. Ein offener Blick in die Geschichte christlicher Lebenspraxis und eine ökumenische Horizonterweiterung helfen, die Verengungen des Christlichen in der eigenen Kulturprägung zu entdecken.

In der Alltagspraxis von Gemeinde, im Gottesdienst und dem interdisziplinären Gespräch mit Ärzten, Pflegenden, Heilpraktikern und Menschen mit heilenden Gaben geht es heute darum,

• dass Ärzte und Pflegende nicht alleine gelassen werden mit ihrer Not, auf die wachsende Suche nach spirituellen Antworten eine angemessene und im christlichen Glauben verwurzelte Antwort zu finden;

• einen stärkeren Dialog mit denjenigen Menschen zu suchen, die ihre heilenden Gaben bewusst in den Dienst der christlichen Gemeinde stellen wollen. Sie sollten ermutigt und eingeladen werden, ihre den Menschen zugewandten Fähigkeiten in Segnungs- und Salbungsteams, in Gottesdiensten und Besuchsdienstkreisen einzubringen;

• das gottesdienstliche Leben nach Formen zu gestalten, die in der Kirche bewährt sind im Blick auf den Umgang mit unserer Leiblichkeit, mit Krankheit und mit der Sehnsucht nach innerer Gelassenheit und Konzentration. Zu diesen Formen gehören Salbungsgottesdienste, körperlich spürbare Gesten des Segens, explizites Gebet für Kranke, Ausrüstung von Heilungshelfern;

• einen Aufbau von regionalen Netzwerken des Dialogs zu fördern: zwischen verschiedenen Verfahren, die auf Heilung und Gesundheit ausgerichtet sind, und der diakonisch-seelsorgerlichen Kompetenz in der Kirche, so dass ein zunehmendes Auseinanderdriften verschiedener Milieus verhindert wird;

• eine Platzierung von christlichen Bildungsangeboten im Bereich der neuen religiösen Suchbewegungen anzustreben, um im Dialog die jahrhundertealten spirituellen Schätze der Christenheit im Umgang mit Krankheit, Gesundheit und Sterben neu zur Entfaltung zu bringen;

• die Verbindungen zwischen sozial-diakonischen und spirituell-geistlichen Arbeits- und Gestaltungsformen in Ortsgemeinden zu stärken, um auf die wachsende Sehnsucht nach religiöser Erfahrung und Heilung Antworten zu geben, die aus der Mitte des Evangeliums von Jesus Christus kommen und den Menschen dienen.


Reinhard Hempelmann
Dietrich Werner
Harald Lamprecht
Ulrich Laepple