Martin Tamcke

Christen in der islamischen Welt. Von Mohammed bis zur Gegenwart

Martin Tamcke, Christen in der islamischen Welt. Von Mohammed bis zur Gegenwart, Beck’sche Reihe, Verlag C. H. Beck, München 2008, 205 Seiten, 12,95 Euro.


Nach „Das orthodoxe Christentum“ (2007) meldet sich der renommierte Göttinger Professor und Direktor des Instituts für Ökumenische Theologie und Orientalische Kirchengeschichte, Martin Tamcke, erneut zu Wort. Facettenreich beschreibt er die Lebensbedingungen orientalischer Christen unter islamischer Herrschaft und zeichnet ein anschauliches Bild des christlichen Orients, den es vor und nach der Entstehung des Islam auch immer gegeben hat. Tamcke will mit seiner Studie für den „Umgang der Muslime mit der einzigen noch quantitativ bedeutenden anderen Weltreligion in der islamischen Welt“ (11) sensibilisieren. Nicht nur aufgrund aktueller politischer Debatten hat das Interesse am Thema „orientalische Christen“ wieder zugenommen. Auch innerhalb des christlich-islamischen Dialogs spielen die christlichen Minderheiten der Region eine wichtige Rolle. Insofern ist das Buch ein zu empfehlendes Grundlagenwerk, um sich über die geschichtliche und aktuelle Situation der Christen vor Ort zu informieren.

Tamcke verwahrt sich in seiner Darstellung gegen allzu einfache Pauschalisierungen, so etwa gegen den häufig von Muslimen selbst genährten Mythos der völligen Toleranz gegenüber Nicht-Muslimen. Im ersten Kapitel beschreibt er detailliert die erdrückenden Steuerlasten für die Dhimmis (nichtmuslimische „Schutzbefohlene“) seit den frühesten Zeiten des Islam, außerdem den beruflichen und sozialen Druck, der auf den Christen lag und liegt und der letztendlich als ein Ziel verfolgt, sie doch zur Konversion zu bewegen. Aufgrund dieser Situation bildete sich Tamcke zufolge eine „Minderheitenpsyche“ der orientalischen Christen heraus. Es gelingt dem Autor, das subtile Spiel zwischen Toleranz und Demütigung gegenüber den Christen nachzuzeichnen, das in den letzten 14 Jahrhunderten sehr häufig auch zu Übertritten führte, die in ostkirchlichen Liturgien bis heute in Trauergesängen verarbeitet werden. Eine wirkliche Religionsfreiheit nach amerikanisch-europäischem Vorbild könne nicht konstatiert werden, denn die Konversion zum Islam sei willkommen und mit sozialen Aufstiegschancen verbunden, ein „Abfall“ vom Islam dagegen ein immer noch todeswürdiges Verbrechen.

Doch wer nach diesen Beschreibungen einen antiislamischen Rundumschlag erwartet, wird enttäuscht. Tamcke schildert differenziert die Lebensbedingungen der orientalischen Christen in muslimischen Herrschaftssystemen. Er gibt auch immer wieder Beispiele für den Beitrag der Christen zu Gesellschaft, Kultur und Politik des Nahen und Mittleren Ostens. Sie seien die Vermittler der griechischen Kultur und Philosophie (Platon, Aristoteles) an die Araber gewesen, die jene begierig aufnahmen und eine breite Übersetzungstätigkeit begannen. Der Kreis schloss sich, als diese Quellen im Hochmittelalter zurück nach Europa gelangten, wo sie größtenteils vergessen waren und nun aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzt wurden. Ferner hatten Christen einen bedeutenden Anteil an der Entstehung und Entwicklung des arabischen Nationalismus, einer der wichtigsten politischen Emanzipationsbewegungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Verfasser verschweigt auch nicht die Verfolgungen und Vertreibungen der orientalischen Juden. Somit halten in vielen muslimischen Ländern die orientalischen Christen allein die Erinnerung an eine multireligiöse Vergangenheit in der Region wach.

Im zweiten Kapitel gibt der Autor einen knappen Überblick über die Geschichte einzelner orientalisch-christlicher Religionsgemeinschaften unter islamischer Herrschaft vom 7. bis zum 20. Jahrhundert. Neben Armeniern, Kopten, Syrern, Maroniten und Chaldäern werden noch viele weitere behandelt, und der Autor schaut kurz auf die protestantische Mission in der Region, die – von den Orthodoxen unerwünscht und polemisch bekämpft – seit dem 18. Jahrhundert besteht.

Es folgt ein Kapitel über die interreligiösen Dialoge zwischen Muslimen und Christen seit dem frühesten Islam. Die Dispute eines Johannes von Damaskus (650 bis ca. 750) mit Muslimen sind nach Tamcke vor der Ausbildung einer umfassenden islamischen Theologie zunächst von der intellektuellen Überlegenheit der Christen geprägt gewesen (97). Die religiösen Auseinandersetzungen wurden mündlich, später auch schriftlich über Zeitschriften oder Monographien ausgetragen. Die Aktualität des Disputs belegt der Autor am Beispiel eines syrisch-orthodoxen Priesters aus der Südosttürkei. Dieser wurde 1994 von islamischen Terroristen entführt, woraufhin es in der Geiselhaft zu einem christlich-islamischen Disput kam, bevor er sich befreien konnte.

Nachdem Tamcke im vierten Kapitel das Leben und die Rolle der orientalischen Christen im 19. und 20. Jahrhundert sowie Wünsche und Erwartungen des Westens an diese beschrieben hat, befasst er sich im letzten Abschnitt detailliert mit den gegenwärtigen Zuständen in der Region. Dieses fünfte Kapitel behandelt die Lebensbedingungen, Rechte und Möglichkeiten der Christen im Irak, Iran, Libanon, in der Türkei sowie in Äthiopien und Ägypten. Was der Leser hier über die „Entrechtung der Christen“ (154) erfährt, ist erschreckend und alarmierend. So werden dem Autor zufolge in Pakistan immer wieder Todesurteile wegen vermeintlicher Blasphemie gefällt, werden Christen von Muslimen wie in der Türkei aus religiösen Gründen erschossen oder wird die Existenz einer christlichen Gemeinschaft in Saudi-Arabien vehement bestritten, da jedwede nichtislamische Religion verboten ist.

Das Buch, das sich nicht nur an Theologen oder Ostkirchen-Spezialisten, sondern an einen breiten Leserkreis richtet, nimmt trotz der zahlreichen Publikationen der letzten Jahre in seiner zeitlichen, räumlichen und inhaltlichen Perspektive einen wichtigen Platz in der Forschung ein. Es ist inhaltlich sehr dicht geschrieben und an einigen Stellen ohne Vorkenntnisse nicht ganz leicht zu verstehen. So sind etwa die innerchristlichen Streitigkeiten – die allerdings im Gesamtkontext des Buches eine untergeordnete Rolle spielen – ohne theologische Vorkenntnisse über die Gründe, die zumeist die Bewertung der „Natur Christi“ betreffen, nur schwer nachzuvollziehen. Es bietet sich an, zunächst die eingangs erwähnte, 2007 erschienene Studie desselben Autors zu lesen. Er begründet seine Entscheidung, in seinem neuen Buch die einzelnen Denominationen nicht detailliert zu beschreiben, mit dem Rahmen des Buches und dem Fokus, der auf der Geschichte der Christen unter den Muslimen liege. Dennoch wäre ein kurzes Glossar wünschenswert gewesen. Abgerundet wird das Buch durch eine Karte zum christlichen Orient, einen statistischen Überblick zu Christen in der islamischen Welt, den Anmerkungsapparat sowie einige wenige Literaturhinweise. Ein Personenregister erleichtert die Suche nach spezifischen Sachverhalten. Wer einen Zugang zum Verständnis der faszinierenden und fremden christlichen Kirchen des Orients sucht und etwas über die aktuellen Lebensbedingungen von Christen unter islamischer Herrschaft erfahren möchte, kommt an der Lektüre dieses atmosphärisch dichten Buches nicht vorbei.


Torsten Lattki, Berlin