Michael Nüchtern

Charme und Schatten von Halloween

Neben italienischen Spaghettitellern und chinesischen Woks kann man sie jetzt auch schon schön grün und orange in unserem Haushaltswarengeschäft kaufen: Halloweenkürbisse aus Porzellan oder Steingut in unterschiedlichen Größen, passend für die Wohnzimmerschrankwand. Ein fremder Brauch scheint endgültig eingedeutscht.

"Ach", berichtet Frau P., "letztes Jahr haben so viele Kinder mit Geistermasken an unserer Tür geschellt und wollten Schokolade oder Geld. Ich mache dieses Jahr gar nicht mehr auf."

Neben den biederen und lästigen Gesichtern von Halloween wird in Darstellungen und Kommentaren zu diesem neuen Datum im deutschen Festkalender immer auch an das brutale erinnert. Im Prozess um die grausame Ermordung der 12-jährigen Vanessa in Augsburg im Februar 2003 schaute sich das Gericht eine bestimmte Szenenfolge aus dem Film "Halloween I" an. Offensichtlich hatte der Mörder des Mädchens sich bei seiner Tat bewusst oder unbewusst von einer Szene aus dem Film leiten lassen. Die Süddeutsche Zeitung (5. Februar 2003) schreibt: "In jener Nacht, in der Vanessa erstochen wurde, hat Michael W. sich als Tod verkleidet, mit Totenkopfmaske und langem schwarzem Umhang... Er geht mit seiner Mutter und dem Stiefvater ins Bierzelt, trinkt drei Maß Bier. Allein geht er weiter. Auf der Straße sieht er eine junge Frau, er geht ihr nach, sie schnauzt ihn an... Er sei sauer gewesen, sagt er, wütend, er habe sich kaputt gefühlt, als müsse er irgendetwas kaputt machen. Er sieht das erleuchtete Wohnzimmerfenster, er steigt über die Gartenmauer, beobachtet die beiden Kinder, die beim Fernsehen sitzen. Und dann macht er alles genauso wie der wahnsinnige Mörder in 'Halloween'."

Es wäre gewiss unsinnig, eine kausale Verknüpfung zwischen dem Kürbis- und Gruselfest Halloween und dem Mord zu behaupten. Aber wie man stets die schlichte und harmlose Seite des Kürbisfestes wahrnehmen muss, so darf man auch die dunkle Seite nicht übersehen, dass vorhandene Gewaltbereitschaft durch Masken und Verkleidung eine bestimmte Formatierung erfahren können.

Halloween begreifen, bedeutet nicht nur, diese Ambivalenz zu beschreiben. Wer das relativ rasche Aufkommen, vielleicht sogar den Boom von Halloween bei uns deuten will, muss neben dem allgemeinen Hinweis auf die Erlebnis- und Spaßgesellschaft1 auf vier Bedingungen und Ursachen verweisen. Diese sollen im Folgenden - zum Teil knapp, zum Teil etwas ausführlicher - dargestellt werden.

1. Globalisierung

Dass innerhalb von gut zehn Jahren ein Fest aus einem anderen Erdteil bei uns heimisch wird, ohne dass es eine Einwanderergruppe sozusagen mitgebracht hat, lässt sich nur mit dem verstärkten Informationsfluss und dem weltweiten Austausch eben nicht nur von Waren, sondern auch von Bräuchen erklären. In ähnlicher Weise wird in gewissen städtischen, westlich orientierten Kreisen Chinas Weihnachten gefeiert. So wie bei uns die Halloweenprodukte das Schaufenster zieren, zeigen Pekinger Geschäfte eine bestimmte Dekoration mit Tannengrün, Lichtern und Nikoläusen. Man kauft Geschenke füreinander und lädt sich zur Christmasparty ein - so wie bei uns zum Kostümfest mit Kürbis und Knochenhand.

Offensichtlich gibt es durch Auslandsaufenthalte von Studierenden und Reisen einer trendbestimmenden Mittelschicht eine Art Brauchtumsaustausch. Das neue Fest wird wie ein Souvenir der fremden Kultur mitgebracht und ohne tiefere Bedeutung begangen als willkommene exotische Abwechslung oder Dokumentation eines bestimmten Lebensstils. Das Fest verbindet sich rasch mit kommerziellen Interessen und wird durch sie verstärkt und entprivatisiert. Es erscheint bald in der Öffentlichkeit des Marktes und der Feuilletons.2 Die Kommerzialisierungsfähigkeit eines Brauchs ist eine Bedingung für den raschen Fluss durchs globale Netz. Freilich nicht die einzige.

2. Traditionsanschluss

Formal lässt sich das Aufkommen des neuen Datums im Festkalender als Anschluss an eine andere - in diesem Fall amerikanische - Festtradition und als Abbruch oder Verschwinden der traditionellen religiösen Festtradition von Reformationstag und Allerheiligen, vielleicht sogar des Martinsfestes beschreiben.

In diesem Vorgang lässt sich ein Muster erkennen, das vielfach in Bezug auf die unterschiedlichsten Phänomene identifiziert worden ist: Wo Menschen früher wie selbstverständlich Traditionen folgten, gibt es heute eine Vielzahl von Optionen. Das Buffet im Restaurant, bei dem sich jeder nach Belieben selbst bedienen kann, ist die Metapher der Moderne. Es hat das so genannte Stammessen abgelöst, wo gegessen wurde, was auf den Tisch kam. Wo Vorgegebenes war - z.B. vorgegebene Feste -, ist Aufgegebenes geworden - auch das Finden oder Erfinden von eigenen Festen und Bräuchen. Individualisierung heißt der kulturelle Prozess, in dem Menschen ihr eigenes Leben nicht mehr in vorgegebenen Bahnen und Gewissheiten gehen, sondern es als Projekt begreifen wollen und müssen. "... muss selbst den Weg mir weisen in dieser Dunkelheit", singt der Wanderer im "Nachtlied" in Franz Schuberts "Winterreise". Aus der Verwurzelung im Vorfindlichen wird der Auszug in neue Zusammenhänge. Dieses neuzeitliche Grundmuster betrifft alle Lebensbereiche, nicht zuletzt den Bereich der Religion und des Glaubens. Es kann durchaus positiv als Befreiung empfunden und gewertet werden.

Ulrich Beck erkennt in der modernen Individualisierung näher hin drei Schritte:

- "Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und -bindungen im Sinne traditionaler Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge ...,

- Verlust von traditionalen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen ... und - womit die Bedeutung des Begriffes gleichsam in ihr Gegenteil verkehrt wird - eine neue Art der sozialen Einbindung."3

Individualisierung vollzieht sich wegen dieses letzten Schrittes nicht nur wie häufig gesehen wird als Traditionsabbruch, sondern in der Regel auch als neuer Traditionsanschluss, zumindest als Suchbewegung zu neuen Traditionen. Die Macht des Individualisierungsprozesses löst nicht nur alte Orientierungen auf, sie produziert selbst auch neue. An die Stelle der Bindung, die gelockert oder aufgegeben wurde, tritt eine neue. Wo z.B. alte Feste und Bräuche als brüchig, langweilig oder nichtssagend erlebt werden, schaut man sich nach neuen Festen und Bräuchen um. Die Veränderungen in der Festlandschaft lassen sich mit gleichem Recht als Abkehr von alten wie als Hinwendung zu neuen Festen in vielerlei Gestalt erklären. Im deutschen Halloween wird "der Zwang zur Häresie" (Häresie heißt auf deutsch Wahl!) realisiert, den Peter Berger in seinem gleichnamigen Buch beschrieben hat; Halloween ist die Realisierung der Multioptionsgesellschaft4 (Peter Gross) in Bezug auf den jahreszeitlichen Festkalender.

Nun würde freilich kein Fest gewählt, wenn es nicht Bedürfnisse für ein Fest und gerade für ein solches Fest gäbe. Von der "Passung", der Kompatibilität zwischen Festangebot und Festbedürfnis sollen die nächsten beiden Kapitel handeln.

3. Festbedürftigkeit

Menschen feiern Feste, weil ihr Leben es nötig hat. Feste und Feiertage unterbrechen das Einerlei der Zeit. Sie schaffen Erholung dadurch, dass anderes gilt und anderes erlebt werden kann als am Werktag. Sie dienen der Rekreation, sei es in einem sehr trivialen Sinn von Erholung, sei es in einem emphatischen Sinn als Verwandlung und Neuwerdung des Lebens. Fest und Feier sind einerseits eine Alternative zur Welt der Arbeit und des alltäglichen Lebens. Andererseits verdichtet sich in ihnen aber auch das Leben, wie es klassisch in den Festen des individuellen Lebenslaufs vom Geburtstag über die Hochzeit bis zu Jubiläumstagen oder Festen des natürlichen Jahreslaufs zum Ausdruck kommt. Im Frühlings- oder Sommerfest wird die neue Jahreszeit bewusst und als Grund zum Feiern erlebt. Fest und Feier machen Lebensschwellen und den Wechsel der Zeit bewusst. Beide Dimensionen des Festes sind wichtig. Nur als Alternative, ohne das Element der Verdichtung und Steigerung von Leben, bleiben Fest- und Feiertage immer ein bisschen leer. Und wer den Frühling nicht als Alternative feiert, bleibt blind für die tatsächliche neue Jahreszeit. Mit anderen Worten: Jedes Fest und jeder Feiertag braucht - in welcher Weise auch immer - Sinn- und Bedeutungsbezüge.

Der unseren Zeitfluss grundlegend strukturierende Gegensatz von Arbeitszeit und Feierabend und vor allem von Werktag und Sonntag hat zunehmend an Kontur verloren. Das heißt nicht, dass Menschen individuell für sich Werktage und Sonntage nicht unterschiedlich erleben und gestalten, sondern nur, dass generell in der Öffentlichkeit Differenzen verschwimmen und weniger sichtbar sind. Elemente des Werktags prägen jeweils auch den Sonntag und umgekehrt hat der Sonntag manches an den Werktag abgegeben. Den früheren Sonntagsbraten gibt es inzwischen auch dienstags. Vom alten Sonntag und der Arbeitsruhe ist vieles für viele in die Woche ausgewandert. Auf die Wochenenden und die Sonntage verlagern sich Elemente aus der Welt des Werktags, z.B. zu Hause zu erledigende Berufs- sowie Hausarbeiten. Sonntage werden zu Einkaufserlebnistagen. Die Individualisierung der Zeitgestaltung, die gleichzeitig durch den Markt verstärkt wird, hat die immer noch für unsere Kultur grundlegende Struktur des Wechsels von Werktagen und Sonntag erheblich nivelliert.

Trotz des Verschleifens von Sonntagen und Werktagen sind die Belastungen des Alltags nicht geringer geworden - im Gegenteil! Die vielfältigen Anforderungen der Arbeitswelt und des privaten Lebens haben zugenommen. Hektik und Stress sind tief in den Eigentümlichkeiten unserer Kultur verwurzelt. Einige Andeutungen müssen hier genügen.

- Alles ist schneller geworden. Die Erfahrung, dass nichts bleibt, alles veraltet und durch Neues überholt wird, ist in erschreckender Weise allgemein und alltäglich geworden. Der Philosoph Hermann Lübbe brachte die allgemeine Beschleunigung in das treffende Bild vom "verkürzten Aufenthalt in der Gegenwart"5. Die immer kürzer werdenden Halbwertzeiten von Wissen, Gebrauchsgegenständen und menschlichen Beziehungen lassen "Gegenwart" immer mehr schrumpfen. Nichts ist beständig und sicher. Das hängt natürlich auch mit dem Individualisierungsprozess zusammen:

- Wo anstelle von Vorgegebenem Aufgegebenes geworden ist (s.o.), gibt das nicht nur ein Gefühl der Freiheit. Es strengt auch an. Selbst-AG (Matthias Horx) und Projekt haben die normale Biografie abgelöst. Es braucht Energien, die Anforderungen des Lebens zu erfüllen. Die theoretisch bestehende Vielfalt der Optionen und die große Ungewissheit, ob ich eines meiner Ziele angesichts der mir zur Verfügung stehenden Ressourcen erreichen kann, stressen (Optionsstress). Sehnsucht nach Neuwerdung mischt sich mit der Sorge, nicht zu genügen.

Dadurch entsteht eine sehr unspezifische Sehnsucht nach "Festem", nach neuen Festen und signifikanten Zeitstrukturierungen. Individuell ist der Urlaub - ob kürzer oder länger und oft mehrfach im Jahr - für die, die es sich leisten können, das große Zeit strukturierende Fest.6 Urlaub und Reisen bedienen den "Wunsch nach Verwandlung", die Sehnsucht nach dem (ganz oder teilweise) anderen und dabei "zu mir selbst" zu finden.

Offenbar genügen der Urlaub und das Reisen nicht für die Zeitstrukturierung und das anthropologisch tief verwurzelte und gegenwärtig kulturell verstärkte Festbedürfnis. Halloween lässt sich als Finden eines Fests interpretieren, das das Leben nötig hat. Damit soll ganz und gar nicht behauptet werden, dass Halloween vollständig passförmig ist für die oben skizzierte Bedürfnislage; wohl aber kann es sich in dieser Bedürfnislage nicht ganz unerfolgreich anbieten.

Folgende Charakteristika erweisen sich als Stärke von Halloween:

- Halloween bietet einfache, vorgegebene rituelle Elemente: Kürbisse, die man aushöhlen und mit einer Kerze versehen ins Fenster stellen kann; das sog. "trick or treat", bei dem Kinder von Haus zu Haus ziehen, um Süßes oder Geld zu sammeln; Kostüme und Masken im Grusellook, die die Partystimmung heben.

- Halloween zeichnet sich durch Schmiegsamkeit und Anpassungsfähigkeit an unterschiedliche soziale Bedingungen und Gruppen aus. Im Kindergarten und in der Kleinfamilie mit Kindern kann dasselbe Fest anders gefeiert werden als in der Peergroup der Teenager oder auf der Singleparty. Steht dort das Basteln und die Bearbeitung des Kürbisses im Vordergrund, so hier das Kostümfest mit der leisen Lust auf Schauer.

- Halloween bietet unverbindliche Beteiligungsmöglichkeiten und ist Anlass für Geselligkeit. Es ist "viel Spaß und wenig Pflicht". "Genau dieser unverbindliche Charakter ist für heutige Partygänger noch aus einem anderen Grund attraktiv: Man zieht sich gruselig an - oder auch nicht. Man trifft sich im Freundeskreis zu einer eigens organisierten Party - oder geht in die Disco... Keine Geschenke müssen in letzter Minute gekauft werden. Keine Verwandten, die man eigentlich lieber nicht sehen würde, müssen erduldet werden."7

- Halloween bedient den Wunsch nach Verwandlung (Maskenparty) und Regelüberschreitungen (bei fremden Leuten schellen und Schokolade fordern).

- Neben, bei und in allem, was an Halloween sozusagen "light" ist, bietet es aber auch Schweres: Sinnbezüge, die gerade dadurch verlockend sind, dass sie ganz oberflächlich mit Scherz und ohne tiefere Bedeutung als Gruselerlebnis und Horrorlust empfunden werden können. Dunkles und Aggressives kann ausgedrückt werden: durch die Kürbismaske, den "Heischebrauch" und das Knochenmannkostüm. Dem soll im folgenden letzten Abschnitt genauer nachgegangen werden.

4. Halloween , St. Martin und Reformationstag

In dem Büchlein "Geister, Hexen, Halloween. Ein Ratgeber für Eltern"8 betreibt Hansjörg Hemminger zu Recht Entmythologisierung in Bezug auf Halloween. Die Vorstellung, Heidnisches dringe durch Halloween in unsere Kinderzimmer und Jugendpartys sei "reichlich absurd". Die Iren, bei denen sich Halloween über fast tausend Jahre entwickelt habe, seien ein christliches Volk. In den USA habe Halloween "keinen religiösen Sinn mehr". "Für die Menschen ... handelt es sich um Mummenschanz, um ein Spiel mit dem angenehmen Gruseln, das Dunkelheit und Tod auslösen, solange sie uns nicht zu nahe kommen. Halloween ist heute in der Tat ein heidnisches Fest, aber eines der neuen Heiden, die eine Mehrheit unserer Bevölkerung bilden, und die weder an heidnische Götter noch an den Gott der Bibel glauben, sondern an sich selbst und ihren Spaß."

Freilich lässt es sich nicht leugnen, dass der Spaß im Zusammenhang mit Halloween doch aus dem Spiel mit dem Gruseln vor Tod und Dunkelheit kommt und die Lust eben "Lust auf Horror" ist. So geben andere Autoren zu bedenken9, ob das Spiel mit dem Tod nicht als eine Art Selbsthilfe angesichts der allgemeinen Todes- und Nachtverdrängung der Gesellschaft zu interpretieren sei. Man könnte in der Tat sagen: Durch die Identifikation mit dem Aggressor wird die Angst geringer. Durch das Spiel verliert das Schreckliche seinen Schrecken. Geisterfratze und Totenmaske machen Nacht und Tod beherrschbar.

Auch wenn man die These, dass in solchen Gruselspielen "eine - tiefenpsychologisch und religiös gesehen - gesunde Haltung zutage (trete): ein Nicht-totschweigen-Wollen der Frage nach dem Tod und einer möglicherweise hinter dem Tod liegenden anderen Seite der Wirklichkeit"10, wenigstens in Bezug auf Halloween für etwas überzogen hält, so kann man sicherlich vorsichtiger formulieren: In der Nachtseite von Halloween kehrt - in wie trivialer und alberner Form auch immer - Verdrängtes und zum Leben Gehöriges wieder. Für therapeutisch und gesund muss man diese Gestalt der Wiederkehr damit noch nicht halten. Die Identifikation mit der Gewalt und den Gruselgeistern durch das Tragen von Totenmasken kann die vorhandene Gewaltbereitschaft verstärken. Nicht auf das bloße Ausagieren des Dunklen, sondern auf seine Kultivierung kommt es an. Wo "Es" war, soll "Ich" werden (Sigmund Freud).

Die Wiederkehr des Verdrängten kann freilich als Hinweis verstanden werden, die dunklen Seiten des Lebens nicht zu negieren. In großer zeitlicher Nähe zu Halloween wurde und wird hierzulande in vielen Kindergärten St. Martin gefeiert. Im Ritus des Martinsfestes ziehen die Kinder mit ihren Laternen durch die dunklen Straßen.

"Ich geh mit meiner Laterne
und meine Laterne mit mir.
Dort droben leuchten die Sterne,
hier unten da leuchten wir!"

Bei diesem Kinderlied, das beim Laternenumzug gesungen wird, wird das Dunkle nicht übersehen. Die Kinder spielen aber eine charakteristisch andere Rolle als im Zusammenhang mit Halloween. Sie treten als "Lichtträger" in der Gruppe gegen das Dunkel an - wie der heilige Martin, der mit seinem Schwert seinen Mantel für den nackten Bettler teilt. Es mag erlebnismäßig und auch pädagogisch sinnvoll sein, nicht immer auf der Lichtseite gegen die Nacht und das Dunkel stehen zu müssen. Pädagogisch und erlebnismäßig falsch wäre es aber, nur etwas zu bieten oder zu haben, bei dem mit der Gruselmaske eine dunkle Rolle agiert werden kann. Halloween und St. Martin bieten Gelegenheit, der Doppelrolle bewusst zu werden, Träger des Dunklen zu sein und Lichtträger, der die Dunkelheit vertreibt.

Mit dem Hinweis auf diese Doppelrolle lässt sich an die anthropologische Erkenntnis Martin Luthers anknüpfen, der den Menschen als Gerechten und Sünder zugleich begriff. Halloween wird am 31. Oktober, dem Reformationstag begangen. Im Protestantismus besteht manchmal die Gefahr, nur die eher lichtvollen Seiten in der Rechtfertigungslehre darzustellen. Rechtfertigung entfaltet sich freilich auf der Folie des Gerichts und der dunklen Seite in Gott selbst.11 Das Schatzhaus der christlichen Religion enthält auch Dunkles und Widerständiges. Halloween kann selbst in seinen albernsten Formen daran erinnern, dass eine christliche Frömmigkeit, die nur Bilder von Hellem und Klarem bietet und das Dunkle und Nachtseitige abblendet, die Wirklichkeit nicht vollständig wahrnimmt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das abgespaltene Dunkle und das Bedürfnis, Dunkles zu symbolisieren dann in so trivialen Bildern und Bräuchen wie bei Halloween maskiert zu Tage treten. Halloween kann uns anregen, im christlichen Glauben die dunklen Bilder von Gottes Verborgenheit, Gericht und Zorn nicht zu vergessen. Das Dunkle muss sozusagen im Hellen seinen Platz haben. Es würde etwas fehlen, wenn christliche Spiritualität nur helle Bilder hätte. Wer dem menschlichen Leben gerecht werden will, darf bei den Lebensbildern das rätselvoll Dunkle und Aggressive nicht wegretuschieren.

Anmerkungen

1 Matthias Pöhlmann, Kürbis, Karneval, Kommerz, Materialdienst der EZW 10/2002, 305ff.
2 Vgl. hierzu die im Internet (http://www.halloween-im-rheinland.de/) verfügbaren Studien über "Halloween im Rheinland" des Amtes für rheinische Landeskunde Bonn des Landschaftsverbandes Rheinland: besonders Alexandra Deak, Von der amerikanischen Walpurgisnacht zum rheinischen Kürbisbrauch. Halloween in den Medien, und Gabriele Dafft, Das Geschäft mit der Gänsehaut. Die Vermarktung von Halloween (2001).
3 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986, 206.
4 Vgl. Peter Gross, Die Multioptionsgesellschaft, Frankfurt a.M. 1994.
5 Im Zug der Zeit, Berlin / Heidelberg 1992.
6 Vgl. hierzu Christoph Hennig, Reiselust. Touristen, Tourismus und Urlaubskultur, Frankfurt a.M. 1997.
7 Matthias Röckel, Halloween boomt! - Warum gerade jetzt?, in: "Halloween im Rheinland" (s. Anm. 2).
8 Gießen 2002, 89ff.
9 Werner Thiede, Suche nach Thrill oder nach Sinn? Zur Frage der (Be-)Deutung von Okkultismus unter jungen Menschen, Materialdienst der EZW 5/2003, 163ff, bes. 167, mit Verweis auf die Arbeiten von Hainer Barz und Werner Helsper.
10 Ebd., 169.
11 Vgl. hierzu in Bezug auf den Religionsunterricht: Fritz Koppe, Die Rechtfertigung des Schattens, Glaube und Lernen 16/2001, 66ff.