Horst Georg Pöhlmann

Buddhismus und Christentum

Chancen und Grenzen der Verständigung

Während dreier Gastprofessuren in Indien hatte ich die Gelegenheit, mit bekannten buddhistischen Theologen in Indien und Sri Lanka zu sprechen.1 Ich möchte von diesen Dialogen berichten. Es waren Dialoge mit Mönchen des Theravada-Buddhismus, des ältesten und Ur-Buddhismus (Hinayana).

Kommt alles Leid aus dem selbstsüchtigen Begehren?

Konstante in den Variablen aller meiner Dialoge mit buddhistischen Theologen war die Grundeinsicht Buddhas: Ursache alles Übels und Leidens (Dukkha) ist das selbstsüchtige Wünschen und Begehren des Menschen, sein „Durst“ (Tanha). Nur wenn diese Ursache beseitigt wird, werden auch das Leiden und das Übel beseitigt.2 Nur wenn die Gier, alles an sich zu reißen, aus der alles Unglück kommt, überwunden wird, wird der Mensch wieder glücklich. Das selbstsüchtige Begehren wurzelt nach Meinung meiner Gesprächspartner im Selbst (Atman) des Menschen, das ständig „I“, „my“, „Ego“ sagt, das der Buddhismus – ganz im Unterschied zum Hinduismus – verneint. Zielwert des Buddhismus ist daher das „Nicht-Selbst“ oder Anatta, die Selbstlosigkeit, die Liebe, die sich selbst aufgibt.Dieses Menschenbild steht im schroffen Widerspruch zu dem westlich-christlichen Menschenbild, das auf Selbstfindung und Selbstverwirklichung abzielt. Doch in der Bibel suchen wir vergeblich so etwas wie eine Selbstfindung und Selbstverwirklichung. Wir finden in ihr eher das buddhistische „Nicht-Selbst“, wenn Paulus von der Liebe sagt: „Sie sucht nicht sich selbst“ (1. Kor 13,5) oder wenn nach ihm der Christ sein Selbst preisgibt, damit Christus sein neues Selbst werden kann: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20). Hat nicht auch Jesus wie Buddha seine Jünger aufgefordert, sich selbst zu verleugnen? „Denn wer sein Selbst retten will, wird es verlieren, wer aber sein Selbst ... verliert, wird es gewinnen“ (Matth 16,24f). Sicher soll in christlicher Sicht der Mensch sein Selbst gewinnen, indem er es aufgibt. Welches neue Selbst der Mensch gewinnt, wenn er es preisgibt, deutet Paulus an. Die Mystikerin Therese von Lisieux treibt diesen Gedanken weiter, wenn sie von ihrer ersten Kommunion schreibt: „Therese war verschwunden, wie sich ein Wassertropfen im weiten Ozean verliert – Jesus allein war zurückgeblieben.“3 Wir sind nicht so wichtig. Wir haben aus der Selbstverwirklichung ein goldenes Kalb gemacht. Der Buddhismus kann uns hier einen Spiegel vorhalten.Das gilt auch von der Begierde. Auch hier kann der Buddhismus uns Christen an eine vergessene Wahrheit unserer Religion erinnern. Auch in der Bibel ist die Begierde – ähnlich wie im Buddhismus – eine Grundsünde (Röm 7,7; Gal 5,24). Zweimal finden wir in unseren Zehn Geboten das Verbot „Du sollst nicht begehren“ (2. Mose 20,17). Was im Jakobusbrief steht, könnte auch Buddha gesagt haben: „Jeder wird von seiner eigenen Begierde, die ihn lockt und fängt, in Versuchung geführt. Wenn die Begierde dann schwanger geworden ist, bringt sie die Sünde zur Welt; ist die Sünde reif geworden, bringt sie den Tod hervor“ (Jak 1,14f). „Wo Begierde und Ehrgeiz herrschen, da ist Unordnung und böse Taten jeder Art“ (Jak 3,16). Unsere westliche Egogesellschaft geht an ihrer Habgier, immer mehr haben und immer mehr sein zu wollen, zugrunde – wie wir alle wissen. Nur die Bescheidung und Selbstlosigkeit können uns noch retten. Die lächelnden buddhistischen Mönche, die nichts haben und nichts sein wollen, können uns hier Vorbild sein.

Die Welt, ein Wirbelstrom der Impermanenz oder Schöpfung?

In vielen Dialogen mit buddhistischen Theologen wurde immer wieder betont: Alles ist „impermanent“, alles ist im Fluss. Man kann sich an nichts festklammern, sowenig wie man sich an einer Wasserwelle festhalten kann. Die Gier, die nach etwas greift, greift ins Leere. Die Begierde, die nach Buddha Wurzel alles Leides ist, greift nach etwas, das es gar nicht gibt, und spielt so absurdes Theater. Alles ist vergänglich; wer sich ans Vergängliche hält, der vergeht.4 Alles ist vergänglich, auch der Mensch, der nach dem Bhikkhu5 Ratarapala nur eine „Pusteblume des Augenblickes“ ist.6 Der Unterschied zum Christentum wurde immer wieder darin gesehen, „dass für den Buddhisten die Welt keine Schöpfung eines Gottes ist, sondern ein Wirbelstrom ohne Woher und Wohin“ – so von dem Bhikkhu Wellamate Gnanabhiwansa Thero.7Sicher, hier wird ein echter Unterschied markiert: Gott ist für uns Christen Schöpfer der Welt und Evolutor der Evolution. Aber ist nicht andererseits auch nach der Bibel unser Leben vergänglich und nichtig und alles, was wir festhalten, wie Sand, der uns durch die Finger rinnt? Der Buddhismus kann uns wieder daran erinnern. So lesen wir in Psalm 103: „Wir sind Staub. Des Menschen Tage sind wie Gras, er blüht wie die Blume des Feldes. Und wenn der Wind darüber fährt, ist sie dahin, der Ort, wo sie stand, weiß von ihr nichts mehr“ (Ps 103,14-16). Beim Prediger Salomo heißt es gar „Windhauch, Windhauch ..., alles ist Windhauch“ (Pred 1,2). Nicht minder skeptisch äußert sich – trotz des Schöpfungsglaubens – das Neue Testament, wie etwa der Jakobusbrief: „Ihr wisst nicht, was morgen mit eurem Leben sein wird. Ein Dampf seid ihr, den man eine Weile sieht, dann verschwindet er“ (Jak 4,14).Wohl das eingefleischteste westliche Vorurteil gegen den Buddhismus ist, dass er eine „pessimistische Religion“8 sei. Edward Conze, Helmuth v. Glasenapp, Perry Schmidt-Leukel und Heinrich Dumoulin haben diesem Vorurteil widersprochen9, Papst Johannes Paul II hat es erneut kolportiert.10 Ich war in meinen Gesprächen mit buddhistischen Theologen immer wieder überrascht, wie energisch sie dieses westliche Vorurteil zurückwiesen, der Buddhismus sei eine lebensfeindliche Religion des Jammertals. So meinte der Bhikkhu Buddharakkhita: „Ziel unserer Religion ist nicht das Leid, sondern das Glück, das darin besteht, dass ich das Leid mit seiner Wurzel ... beseitige, der Begierde, die alles an sich reißen will.“11 Ein anderer buddhistischer Theologe, Bhikkhu Nandana Vanse, äußerte sich ähnlich: „Der Buddhismus will nichts anderes als die Menschen vom Leid befreien, indem sie erkennen: alles, woran wir uns anklammern, ist impermanent. Daher laß alles los, nur dann wirst du glücklich. Der Buddhismus ist eine Glückslehre.“12 Er ist eine Glücksreligion, ähnlich wie das Christentum (Matth 25,21-23; 11,5; Offb 21,4).

Religion ohne Gott?

Bis heute wird häufig die Meinung verfochten, der Buddhismus sei ein atheistisches System (so z. B. von Papst Johannes Paul II.13). Ich habe die Frage, ob der Buddhismus ein Atheismus sei, auch meinen buddhistischen Dialogpartnern gestellt, die sie in der Regel verneinten. Zur Begründung, dass der Buddhismus kein Atheismus sei, wurde nicht nur der Glaube an „Götter“ oder Devas genannt, die den christlichen Engeln vergleichbar sind, sondern vor allem der Glaube an eine transpersonale Transzendenz, die sich Gebeten entzieht: das Nirvana.14 Dieses sei keine persönliche Gottheit wie im Christentum, sondern „das Göttliche“ – so der buddhistische Theologe Bhikkhu Vivekananda.15 Er meinte: „Man kann das Nirvana nicht beschreiben, weil es das Unbeschreibliche ist, es ist nicht in Begriffe zu fassen, sondern das Unbegreifliche, das dem Zugriff der Begriffe entzogen ist, es ist das Ende von allem Begreifen und Greifen, ja die Befreiung von allem Begreifen und Greifen als der Wurzel allen Übels.“16Mein Gesprächspartner war überrascht, dass ich ihm hier als Christ zustimmen konnte. Auch aus christlicher Sicht ist Gott ein absolutes Geheimnis, das sich allen Begriffen von Gott entzieht, kein geheimnisloses Ding, viereckig, nummeriert, sortiert, bewiesen, vorzeigbar, wozu ihn der theologische Rationalismus aller Zeiten verfälschte. Es gibt im Christentum eine „theologia negativa“, derzufolge wir „keine Aussage“ über Gott machen können – so der Kirchenvater Justin.17 „Wenn du ihn begriffen hast, ist es nicht Gott“, sagt Augustinus.18 Die vollmundige christliche Theologie hat das vergessen, und sie könnte es wieder neu vom Buddhismus lernen.Wenn wir dieses Geheimnis zwar nicht beschreiben können, so dürfen wir es aber doch umschreiben. Beide Religionen tun das, und sie tun es überraschend übereinstimmend – etwa wenn der Meinungsführer des Theravada-Buddhismus, Bhikkhu Buddharakkhita, das „Göttliche“ oder „Nirvana“ als „summum bonum“ oder „höchstes Gut“, als die „letzte, letztgültige höchste Wirklichkeit“ und das „letzte, letztgültige Unbedingte“ umschreibt.19 Konnten genauso nicht auch christliche Theologen Gott umschreiben, etwa Augustinus, für den Gott das „summum bonum“, das „höchste Gut“20, das unvergleichlich Höchste, das all unsere Gedanken und Träume überbietet, das volle Glück ist? Ebenso konnte, wie der Bhikkhu, Paul Tillich Gott als das bezeichnen, „was den Menschen letztgültig“, „was ihn unbedingt angeht“21, was ihm den Atem nimmt, was ihn vom Stuhl reißt.Man könnte den Eindruck gewinnen, Buddhisten und Christen glaubten an denselben Gott. Doch in der Frage, ob Gott ein persönlicher Gott ist, besteht ein Unterschied, auf dem man buddhistischerseits immer wieder insistierte.22 Der Gott der Bibel ist ein persönlicher Gott, sosehr er ein Geheimnis ist, das alle personalen wie nichtpersonalen Begriffe hinter sich lässt – unbegreiflich und doch greifbar, greifbar als Jahwe und als der Mensch gewordene Gott Jesus Christus. Merkwürdig, wie stark der Widerspruch der Studenten zum Buddhismus in Sachen persönlicher Gott in einem meiner Buddhismus-Seminare war – trotz allem, was man sonst von dieser Religion lernen kann. Sie konnten sich ein Leben ohne persönlichen Gott, zu dem man betet, nicht vorstellen. Ist das Gebet nicht ein Essential von Religion? Braucht der Mensch nicht ein Du, das ihn hält und trägt, um glücklich zu sein?

Gibt es eine Selbsterlösung?

Im Unterschied zum Mahayana-Buddhismus erlöst sich nach dem Hinayana- oder Theravada-Buddhismus der Mensch selbst. Wie Gustav Mensching sehen viele den entscheidenden Unterschied zwischen Christentum und dem Theravada-Buddhismus in der Selbsterlösung.23 Ausnahmslos alle meine buddhistischen Gesprächspartner verstanden ihren Heilsweg als Selbsterlösung.24 So konnte z. B. der Bhikkhu Ananda sagen, Erlösung sei „unsere Eigenleistung, kein Geschenk von außen“. „So ein Geschenk zu erwarten“, wäre ein selbstsüchtiges „grasping and desiring, wo ich mich an etwas festklammere und etwas zu haben wünsche und begehren will“ – nach Buddha „die Quelle allen Leides. Religion ist ein Tun, kein Geschenk ... Denn ich bin selbst verantwortlich für mich und für mein Glück“.25 Nach Aussage des Bhikkhu Mahathera Piyadassi ist der Buddhismus „Selbsterlösung“, nicht „Fremderlösung, die den Menschen fremdbestimmt und seine Selbstbestimmung blockiert“ wie im Christentum.26 Der Bhikkhu Buddharakkhita begründete die „Selbsterlösung des Menschen“ mit dem Satz Buddhas: „Man ist seine eigene Zuflucht, wer anderes könnte die Zuflucht sein?“27Ich hielt dem entgegen, dass das Christentum an eine Fremderlösung glaube, da der Mensch sich doch erfahrungsgemäß nicht aus eigener Kraft aus dem Gefängnis des Bösen befreien kann. Dieses Gefängnis könne – wie jedes Gefängnis – nur von außen geöffnet werden. Ich wies darauf hin, dass gerade die jüngste Geschichte gezeigt habe, dass der Mensch sich nicht selbst erlösen kann, was der Zusammenbruch des marxistischen Machbarkeitsglaubens und des westlichen Fortschrittsglaubens erwiesen hätten. Der heutige Mensch habe ganz neu erkannt, dass es kein „Do-it-yourself-Paradies“ gibt und dass nur ein aus der Geschichte nicht ableitbarer Eingriff von außen die ersehnte Erlösung bringt.28 Was der Mensch leisten könne, sei keine bessere Welt, nur eine weniger schlechte – und oft nicht einmal das. Das Gebot der Stunde heute sei die Verkleinerung des Menschen auf seine natürliche Größe. Die Maxime Buddhas „Man ist seine eigene Zuflucht“ würde mich in die Verzweiflung treiben. Christus sei unsere einzige Zuflucht, der Schlüssel, mit dem das Gefängnis aufgesperrt werden könne. Als ich das dem Bhikkhu Ananda in einem anderen Gespräch sagte, lächelte er und meinte: „Warum nicht? Christus ist für dich die einzige Wahrheit, aber nicht für alle. Jeder hat seine eigene einzige Wahrheit.“29 Diese Toleranz, auf die ich auch bei anderen buddhistischen Mönchen immer wieder stieß, hat mich tief beeindruckt. Hier kann man lernen.

Die Meditation als Heilsweg?

Das Nirvana ist eine fensterlose Transzendenz und ein absolutes Geheimnis, über das wir nicht sprechen können und zu dem wir nicht sprechen können. Wir können vor ihm nur schweigen. Daher ist die Meditation im Buddhismus der Heilsweg, nicht das Gebet und nicht Sakramente wie im Christentum. Scheidet dieses Essential des Buddhismus die Religionen oder unterscheidet es sie nur, sodass sie voneinander lernen können?Immer wieder wurde mir in meinen Gesprächen mit den Mönchen klargemacht: In der Meditation des Theravada-Buddhismus des Hinayana ist nicht, wie in der Zen-Meditation des Mahayana, das Leerwerden das Entscheidende, sondern die Fokussierung eines kleinen Punktes, einer kleinen Sache, eines kleinen Inhalts oder eines kleinen Gegenstandes wie in der hinduistischen Yogameditation, wobei man immer die „Vier Edlen Wahrheiten“ Buddhas über die Ursache und die Beseitigung des Leides im Blick haben soll. Für den ganzen meditativen Lebensstil sei der siebte des „Achtfachen Pfades“ Buddhas wichtig: die „Wachheit“ oder „Achtsamkeit“, mit der man kleine und kleinste Dinge des Lebens wahrnimmt.30 Urmuster aller Meditationen sei das bewusste Ein- und Ausatmen, Wunschziel der Meditation die Erleuchtung oder Ekstase (Samadhi), in der das Nirvana aufblitzt und mich ein Glücksgefühl überfällt, das zum Gleichmut und zur Wunschlosigkeit führt.31Besonders hilfreich erschienen mir von den vielen Meditationsarten des Hinayana die Atemmeditation des Anapanasati, bei der ich einfach nur auf das Ein- und Ausatmen achte und darüber ruhig werde32, die Vipassana-Meditation, die darauf abzielt zu lernen, im Leben nicht zu reagieren, sondern zu agieren33, sowie die Metta-Meditation oder „Meditation der Liebe“, in der in immer weiteren Kreisen an Menschen gedacht wird, die wir lieben sollen, von den „liebsten Menschen“ bis zu den „neutralen“ und „verfeindeten Menschen“, von den Menschen in der eigenen Straße bis zu denen im eigenen Ort, Land, anderen Ländern bis hin zu denen in anderen Erdteilen.34 Ich habe selbst oft diese Metta-Meditation praktiziert und praktiziere sie bis heute, weil in ihr mit der Liebe, die ja auch nach dem Neuen Testament keine Grenzen kennt (Matth 5,44), wirklich ernst gemacht wird. Verlieren wir unsere christliche Identität, wie manche befürchten, wenn wir die genannten Meditationsformen vom Buddhismus übernehmen, zumal es sich bei ihnen auch um unsere eigene Sache handelt, die selbstlose Liebe? Niemand, der das tut, will das Gebet als Essential christlichen Glaubens ersetzen. Sicher, Jesus hat nie gesagt: „Meditiert“. Trotzdem suchte er immer wieder die Einsamkeit und Stille, aus der er wirkte (Mark 1,12; Joh 6,15). Denn Gott offenbart sich nur in der Stille, abseits vom Lärm dieser Welt, wie wir auch von Elia am Horeb wissen (1. Kön 19,11f). Auch in unserem Leben geschehen die großen Dinge in der Stille. Hier muss auch das Sabbatgebot in unseren Zehn Geboten genannt werden, das Jesus nie aufgehoben hat, wenn er es auch von seiner Gesetzlichkeit befreit hat. Der Buddhismus erinnert uns an dieses vergessene Gebot, in dem sich ja auch ein meditativer Lebensstil ausdrückt. Es ist kein Zufall, dass dieses Ruhegebot den Tätigkeitsgeboten vier bis zehn vorausgeht. Unsere Aktion muss aus der Meditation kommen, sonst ist sie nichts wert. Unser Tun muss aus der Ruhe kommen, sonst ist es hektisch, nervös, verkrampft und zerfasert. Hier gilt es, vom Buddhismus zu lernen.Die buddhistische Meditation erinnert uns nicht nur an vergessene biblische Wahrheiten, sondern auch an Einsichten unserer christlichen Mystik, die wir im Protestantismus zu Unrecht von unserer einseitigen Worttheologie her disqualifiziert haben. Doch es stellt sich die Frage: Können wir überhaupt noch in die Stille gehen im Lärm unserer Zeit, können wir uns überhaupt noch sammeln in der totalen Zerstreuung unserer Welt mit ihrer Fernseh- und Reisesucht, ihren dröhnenden Lärmkulissen, ihrem hektischen Nachrichten-Kurzfutter, ihren Werbespots und ihrem Gesetz des „immer schneller, immer greller, immer schriller, immer fetziger“?

Das gemeinsame Grundgebot der Liebe?

In beiden Religionen scheint die radikale, alle Grenzen durchbrechende Liebe das Hauptgebot zu sein. Aber versteht man nicht unter Liebe oder Metta hier und dort etwas Verschiedenes? Nach Helmuth v. Glasenapp ist Metta im Buddhismus im Unterschied zur christlichen Liebe nur ein „leidenschaftsloses Wohlwollen“35, nach Gustav Mensching nur ein „impersonales Wohlwollen“ und „Mitleid“36. Dieser Unterschied bestätigte sich mir durch meine Gespräche nicht. Meine buddhistischen Gesprächspartner sahen nicht nur in der Liebe, die in beiden Religionen ein Hauptgebot ist, eine wichtige Gemeinsamkeit zwischen ihnen37, sie definierten Liebe auch ähnlich wie wir Christen. Liebe ist für sie wie für uns Christen eine Liebe, die grenzenlos alle liebt und nicht einmal am Feind eine Grenze findet.38 Sie ist auch für sie wie für uns eine Liebe, die nichts wünscht und begehrt, sondern sich selbstlos hingibt39, ja sich so sehr preisgibt, dass sie ihre Identität aufgibt.40 Christliche Liebe ist nicht mehr als buddhistische Metta. Ich habe selten christliche Liebe in solcher Radikalität erlebt wie bei den buddhistischen Mönchen, denen ich in Indien und Sri Lanka begegnete. Diese Liebe wird durch die tägliche Metta-Meditation eingeübt. Wo wird im Christentum Liebe eingeübt? Auch hier wie sonst ist der Buddhismus der vorgehaltene Spiegel des Christentums.Ich schließe mit den Worten über die Liebe aus der Abschiedsrede des Bhikkhu Buddharakkhita, die ich am 14. Juli 1996 in seinem Kloster hörte. Was will die Bibel anderes, als Buddharakkhita hier fordert? Er sagte: „Liebe ist nur echt, wenn sie Liebe zu allen ist, auch zu den von uns ... gehassten Menschen. Liebe heißt teilen, nicht raffen. Liebe heißt naiv sein, nicht raffiniert. Liebe ist positive thinking. Liebe heißt nicht schimpfen auf das, was nicht gut ist, sondern sich an dem freuen, was gut ist. Liebe heißt in allem noch so Unguten etwas Gutes entdecken. Liebe heißt über nichts urteilen, nichts verurteilen und sich an allem freuen. Liebe heißt nie schlecht über andere reden. Die Liebe hält sich fern von geschwätzigen Menschen und allem klebrigen Klatsch und Tuschelnischen. Liebe heißt nie zornig und unbeherrscht sein. Liebe heißt nicht etwas vom anderen erwarten, sondern immer für ihn da sein. Liebe heißt keine Vorwürfe machen und nichts übel nehmen. Liebe heißt keine Vorurteile über andere haben und niemanden mit Umhängeschildern versehen. Der kürzeste Weg der Liebe ist ein Lächeln. Liebe ist frei von jeder Antipathie und Sympathie. Liebe leidet mit allen leidenden Menschen und Tieren. Liebe lebt bewusst und enthält sich von allem Berauschenden ...“41

Fazit

Beide Religionen gehen darin einig, dass die Liebe Zielwert und Grundwert jeder Religion und der Lackmustest der wahren Religion ist. Der Bhikkhu Ananda sagte zu Recht: „Es gibt nur eine wahre Religion, die der Liebe. Die Religionen sind so wahr und so falsch, so viel und so wenig sie lieben.“42 Wir waren uns darin einig, dass nach beiden Religionen die Liebe allein zählt, die ja auch nach dem Neuen Testament über dem Glauben steht (1. Kor 13,2 und 13) und über allen Glaubensbekenntnissen. Auch nach unserer christlichen Religion macht nur die Liebe den Glauben glaubwürdig, wie verschieden auch immer die Wege dieses Glaubens sein mögen.


Horst Georg Pöhlmann


Anmerkungen

1 Vgl. Horst Georg Pöhlmann, Begegnungen mit dem Buddhismus, Frankfurt a. M. 22005.

2 Vgl. die erste Predigt Buddhas, in: Reden des Buddha, Stuttgart 1996 (Nachdruck), 32ff; Edward Conze, Der Buddhismus, Stuttgart 51974, 39f; Walpola Sri Rahula, What the Buddha Taught, New York 1978, 16ff, 29ff, 35ff.

3 Therese von Lisieux, Geschichte einer Seele, Kirnach-Villingen 1938, 55.

4 Vgl. Horst Georg Pöhlmann, Begegnungen mit dem Buddhismus, a.a.O., 21, 57, 70, 103, 123.

5 Bhikkhu: buddhistischer Mönch.

6 Horst Georg Pöhlmann, Begegnungen mit dem Buddhismus, a.a.O., 57.

7 Ebd., 123.

8 Edward Conze, Der Buddhismus, Stuttgart 51974, 18.

9 Vgl. ebd., 18f; Helmuth v. Glasenapp, Die Weisheit des Buddha, Baden-Baden 1946, 66f; Perry Schmidt-Leukel, Den Löwen brüllen hören, Paderborn u. a. 1992, 52ff; Heinrich Dumoulin, Begegnung mit dem Buddhismus, Freiburg i. Br. 1982, 35ff.

10 Vgl. John Paul II, Crossing the Threshold of Hope, New York 1994, 84ff.

11 Horst Georg Pöhlmann, Begegnungen mit dem Buddhismus, a.a.O., 21.

12 Ebd., 103.

13 In: Buddha?, Dialogue, Vol. XXII 1995, 2.

14 Vgl. Horst Georg Pöhlmann, Begegnungen mit dem Buddhismus, a.a.O., 10, 16ff, 105f, 119, 124f.

15 Vgl. ebd., 10f.

16 Ebd., 10.

17 Apol. I, 9, 3.

18 Serm. Cl. 0284, Serm. 117, PL 38, Vol. 663.

19 Horst Georg Pöhlmann, Begegnungen mit dem Buddhismus, a.a.O., 17.

20 Quaest. 83,21.

21 Paul Tillich, Systematic Theology, Vol. I, Chicago 1951, 211.

22 Horst Georg Pöhlmann, Begegnungen mit dem Buddhismus, a.a.O., 10, 31, 38, 41, 44, 46f, 58, 111, 124ff.

23 Vgl. Gustav Mensching, Buddha und Christus – ein Vergleich, Stuttgart 1978, 169.

24 Horst Georg Pöhlmann, Begegnungen mit dem Buddhismus, a.a.O., 40, 69f, 107, 112, 125, 130f.

25 Ebd., 71.

26 Ebd., 112.

27 Ebd., 40

28 Ebd.

29 Ebd., 131.

30 Ebd., 24ff, 55f, 98f; vgl. Richard F. Gombrich, Der Theravada-Buddhismus, Stuttgart u. a. 1997, 72f; Heinrich Dumoulin, Spiritualität des Buddhismus, Mainz 1995, 66f; Michael v. Brück, Buddhismus, Gütersloh 1998, 117f.

31 Vgl. Horst Georg Pöhlmann, Begegnungen mit dem Buddhismus, a.a.O., 27ff, 77f, 104.

32 Vgl. ebd., 24ff.

33 Vgl. ebd., 55ff.

34 Vgl. ebd., 95ff.

35 Helmuth v. Glasenapp, Die Weisheit des Buddha, a.a.O., 98.36 Gustav Mensching, Buddha und Christus – ein Vergleich, a.a.O., 84f.

37 Vgl. Horst Georg Pöhlmann, Begegnungen mit dem Buddhismus, a.a.O., 61f, 90ff, 124.

38 Vgl. ebd., 49, 89, 96.

39 Vgl. ebd., 33, 48f, 89, 90f, 94f, 109, 125f.

40 Vgl. ebd., 92f.41 Ebd., 49f.42 Ebd., 129.