Film und Literatur

„Avatar“: Direkter Draht zum Paradies

Der weltweit erfolgreichste Film im Kino „zwischen den Jahren“ 2009/2010 war diesmal „Avatar – Aufbruch nach Pandora“. Der Film an der Grenze zwischen Science-Fiction und Fantasy entführt die Zuschauer für knapp drei Stunden in eine fremde, faszinierend schöne Welt auf einen der Erde ähnlichen Mond namens Pandora. Dem invalidisierten Soldaten Jake Sully wird von seinem Vorgesetzten die Hölle versprochen, der aber findet in der fremden Wildnis und unter den Eingeborenen das Paradies. Die Geschichte um Jake lebt von starken Gegensätzen und scharfen Kontrasten. Gezielt spricht sie damit Ängste und Sehnsüchte der Menschen im 21. Jahrhundert an.

Der Drehbuchautor und Regisseur James Cameron hat nach eigenen Angaben die gesamte Science-Fiction-Lektüre seiner Jugend in „Avatar“ verarbeitet. Aber auch bekannte Motive aus Indianer- bzw. Wildwestgeschichten sind erkennbar. Cameron selbst nennt die Geschichte um die Indianerin Pocahontas als eine Inspirationsquelle. Dem deutschen Zuschauer legt sich ein Vergleich mit Karl Mays Winnetou-Romanen nahe. Dort sind es die Weißen, hier die (wohlgemerkt ebenfalls fast durchgehend weißen) Menschen, die sich, ohne jedes Verständnis für die fremde Kultur, brutal des Landes bemächtigen und alles niederwalzen, was ihnen in die Quere kommt. Dort ist es Old Shatterhand, hier der Soldat Jake Sully, die sich auf die fremde Kultur einlassen, sich in die Häuptlingstochter verlieben, das Vertrauen der edlen Eingeborenen gewinnen und diese zum Sieg über die rohen Eindringlinge führen.

Der ehemalige Marine Jake Sully ist seit einer Verwundung von der Hüfte abwärts gelähmt. Das Angebot, für ein Projekt zum weit entfernten Pandora zu reisen, kommt ihm gerade recht, um seinem trostlosen Leben zu entfliehen. Auf Pandora gibt es eine Militärbasis, in der drei Gruppen von menschlichen Akteuren in Erscheinung treten: Ein Wirtschaftskonsortium, vertreten durch einen Leiter, sucht im Weltall nach Rohstoffen. Dieses Wirtschaftsunternehmen finanziert und verantwortet die ganze Aktion. Auf Pandora wurde der extrem wertvolle Rohstoff Unobtanium gefunden. Für den Abbau müssen jedoch erst die Voraussetzungen geschaffen werden, da das Vorkommen in einem Urwald in unwegsamem Gelände liegt, der Lebensraum von menschenähnlichen Wesen, den Na’vi, ist. Der Wirtschaftsvertreter verkörpert rücksichtslose Gier, die für den zu erwartenden Gewinn über Leichen geht.

Zweiter und gewichtigster menschlicher Akteur ist das Militär. Es sieht so aus, als hätte es an diesen Außenposten menschlicher Existenz in den Weiten des Alls nur die rohsten und besonders abgebrühten Kämpfer verschlagen. Der Boss erklärt den Neuankömmlingen auch sogleich, dass in dieser Wildnis nur die härtesten überleben werden. Ausgestattet ist das Militär mit monsterhaften Maschinen und martialischen Geräten. Das Militär steht damit für rohe Gewalt und die Lust am Zerstören und Töten. Reden, Verstehen und Diplomatie sind aus dieser Sicht pure Zeitverschwendung, wenn man mit Waffengewalt viel schneller ans Ziel kommen kann.

Die dritte Gruppe menschlicher Akteure sind Wissenschaftler, die ebenfalls in die Aktion eingebunden sind. Ihnen ist es gelungen, die DNA von Mensch und Na’vi zu kreuzen. Die Körper aus dem Labor, die wie Na’vi aussehen, genannt Avatare, lassen sich von jeweils den Menschen steuern, deren DNA verwendet wurde. Der Mensch, der mit einem Avatar verbunden ist, gleichsam in seinen Körper schlüpft, kann auf diese Weise als Na’vi die Natur erkunden und Kontakt zu den Eingeborenen aufnehmen. Jake Sully soll den Avatar seines verstorbenen Bruders übernehmen und arbeitet unter der Leitung von Dr. Grace Augustine. Die Wissenschaftler, allen voran Grace, sind von der fremden Welt und ihren Bewohnern zutiefst fasziniert. Sie vertreten in der Geschichte die vernünftige und moralische Seite des Menschen. Am Ende kämpfen sie an der Seite der Eingeborenen gegen das Militär.

Jake wird gleich bei seinem ersten Ausflug als Avatar von seiner Gruppe getrennt. Er lernt die Häuptlingstochter Neytiri kennen, die ihn mit der Zeit in das Leben und die Kultur der Na’vi einführt. Die Na’vi stellt der Film als die besseren Menschen dar. Ihre Körper sind größer und athletischer als die der Menschen, sie leben in unmittelbarem Kontakt zur Natur, kennen ihre Geheimnisse und wissen ihre Spuren zu deuten. Sie sind friedliebend und nehmen nur so viel, wie sie brauchen. Gefordert sind vor allem Mut und Geschicklichkeit. Sie scheinen ihre Unschuld noch nicht verloren zu haben. Sie leben – theologisch gesprochen – noch im Paradies. Die Na’vi verkörpern, was Menschen in der westlichen Zivilisation verloren haben oder vermissen: das Vertrauen in ganz natürliche Fähigkeiten ohne Technik als Hilfsmittel, die unmittelbare Verbundenheit mit Tieren, die Achtung vor dem Leben, eine scheinbar natürliche Spiritualität. Der Kampf zwischen Menschen und Na’vi im Film ließe sich auch als Kampf zwischen Natur und Technik verstehen, zwischen einer Kultur, die ganz im Einklang mit der Natur lebt, und einer Kultur, die sich über die Natur (auch die eigene) hinwegsetzt.

Eine nicht unerhebliche Rolle spielt im Film die Religion der Eingeborenen. Letztlich führt nur sie zum Sieg über die Menschen und ihre Kriegsmaschinerie. Pfeile haben gegen Maschinengewehre keine Chance. Erst als sich die gesamte Natur, Na’vi und Tier, vereint gegen die Eindringlinge wendet, können die Menschen bezwungen werden.

Die Na’vi pflegen eine Naturreligion, die – und das ist sicher eine Besonderheit – von Dr. Grace Augustine wissenschaftlich erklärt werden kann, jedoch nicht im Sinne einer Religionskritik, sondern vielmehr mit der Intention eines Beweises, dass es sich nicht um irrationalen, naiven Firlefanz der Wilden handelt, sondern um ein nachweisbares, faszinierendes Phänomen, das besser auch von Militär und Wirtschaft ernst genommen würde. Auf Pandora, so die Wissenschaftlerin, ist alles miteinander vernetzt: Pflanzen, Tiere und Na’vi sind über so etwas wie Nervenbahnen miteinander verbunden. Im Zentrum des Ganzen steht ein Baum, den die Na’vi als ihren heiligsten Ort verehren und den sie „Baum der Seelen“ nennen. Stirbt ein Na’vi, so wird seine Seele von Eywa, wie die Gottheit genannt wird, aufgenommen.

Wie sich die Na’vi mit anderen Kreaturen vernetzen können, wird mehrfach demonstriert: Alle Na’vi tragen ihr Haar zu einem langen Zopf gebunden. Am Ende des Zopfes schauen auch einige Nervenenden hervor. Mit ihrem Zopf können sich die Na’vi so z. B. mit ihren Reittieren verbinden, fühlen, was diese fühlen, und deren Willen steuern. Verbinden sie die Nervenenden mit einem der Äste des heiligen Baumes, die ebenfalls wie starke Nerven aussehen, können sie den Chor der Stimmen der Verstorbenen hören. Beim gemeinsamen Gebet des Stammes, der sich um den Baum versammelt hat, verbinden sich die Nervenenden aus den Zöpfen der Sitzenden mit zahlreichen Nervenfasern aus dem Boden rund um den Baum, so dass es aussieht, als wären die Na’vi über ein feines, weißes Wurzelgeflecht mit der Erde verwachsen. Die Religion der Na’vi ist damit eine Art pantheistische Naturreligion, die eine Natur zur Grundlage hat, die ähnlich netzwerkartig-intelligent funktioniert wie die Computer- und Internettechnologie bzw. Visionen von deren Zukunft.

Der Film kontrastiert scharf zwischen Gut und Böse, Schuld und Unschuld. Ob bewusst oder unbewusst erinnert die Geschichte an die Eroberung der Welt durch die Europäer seit der Neuzeit und die damit verbundene Schuld gegenüber den Eingeborenen, ihren Kulturen und der Natur. Diese Geschichte wird erzählt als immer wieder vollzogener Verlust bzw. als Zerstörung des Paradieses, einer heilen Welt, für deren wahren Reichtum die Räuber keinen Sinn haben.

Zur gleichen Zeit haben die Westeuropäer mit der Aufklärung, mit dem Triumph von Vernunft und Wissenschaft ihre Unschuld noch auf eine ganz andere Weise verloren. Seitdem kommt sich der westliche Mensch in der Moderne immer wieder unbehaust vor, verloren in einer durch die Wissenschaft entzauberten und durch Maschinen entseelten Welt. In Gegenbewegungen, die selbst Teil der Moderne sind, wird ihm dann die Natur zum Geheimnis wie schon in der Romantik, und die Technik entwickelt ein unheimliches Eigenleben.

Science-Fiction hat in Literatur, Comic und Film all dies immer wieder verarbeitet. Der Film „Avatar“ appelliert an die Sehnsucht nach dem Paradies, aus dem der westliche Mensch sich vertrieben weiß, nach einer unschuldigen Verbundenheit zwischen Mensch und Natur, die sich noch in seiner Spiritualität transzendiert. Was die Na’vi haben, was dem Menschen dagegen fehlt bzw. wonach er sucht, ist dem Film zufolge im wahrsten Sinne des Wortes Verwurzelung, ein direkter Draht zu den Dingen, die ihn umgeben, und damit auch zum alles umfassenden Sein.


Claudia Knepper