Helmut Zander

Anthroposophie in Deutschland. Theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis 1884-1945

Helmut Zander, Anthroposophie in Deutschland. Theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis 1884-1945, 2 Bde., Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007, 1884 Seiten, 246,00 Euro.


Die Entstehung der Anthroposophie und ihre theosophische Vorgeschichte waren bislang nicht gründlich erforscht. Die zweibändige Studie des Wissenschaftshistorikers Helmut Zander schließt auf diesem Gebiet eine empfindliche Lücke. Er hat bereits viele umfangreiche und verdienstvolle Studien zu Anthroposophie und christlichem Glauben, zur Geschichte der Seelenwanderung in Europa (vgl. die Rezension in MD 6/2001, 214f) und nicht zuletzt wertvolle historische Analysen zum Weltanschauungsdiskurs des 19. und 20. Jahrhunderts vorgelegt. In seiner nun publizierten Berliner Habilitationsschrift wendet er sich einem zentralen Thema der Esoterikforschung zu, das – wie es im Nachwort heißt – im universitären Kontext noch immer als „unseriös“ betrachtet wird (1717). Von anthroposophischer Seite wurde das vorliegende Werk seit seinem Erscheinen aufmerksam und kontrovers zur Kenntnis genommen. Die Reaktionen reichen von polemischen – mitunter persönlich verletzenden – und verständnislosen Urteilen bis hin zu differenzierten und teilweise zustimmenden Besprechungen in anthroposophischen Blättern. Hier scheinen sich – wie die anthroposophischen Reaktionen zeigen – die Geister zu scheiden.

Im ersten Band setzt der Verfasser mit historiographischen Vorüberlegungen zur Esoterikforschung und zur Theosophie ein, die er als „die erste nichtchristliche Religionsgründung nach der Antike in Europa“ (2) bezeichnet. Zander betrachtet die Geschichte der Theosophischen Bewegung vor dem Hintergrund religiöser Pluralisierungsprozesse in Deutschland und der Zunahme sog. „dissentierender Gemeinschaften“ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Vorüberlegungen bieten interessante begriffsgeschichtliche Analysen zu Weltanschauung, Religion, Okkultismus, Esoterik, Theosophie und Parapsychologie. Modernisierung, Säkularisierung und Pluralisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelten in dieser Untersuchung als maßgebliche Deutungskategorien für das Aufkommen der Theosophischen Bewegung. Die Quellenlage für die Erforschung ihrer Geschichte erweist sich im Blick auf die Adyar-Theosophie als günstig, im Blick auf andere Richtungen dagegen als äußerst „katastrophal“ (59), da viele Archivbestände verloren gegangen sind.

Den eigentlichen Schwerpunkt des 957 Seiten umfassenden ersten Bandes bilden die Geschichte der Theosophischen Gesellschaften im deutschsprachigen Raum sowie die Sozialstruktur und das Vereinsleben der deutschen Adyar-Theosophie (75-434). Hier findet der Leser interessante Einblicke in das weltanschauliche und zeitgeschichtliche Umfeld des Spiritismus und der aufkeimenden Theosophischen Bewegung. Akribisch werden die Gründungsjahre und die internen Konflikte der miteinander konkurrierenden theosophischen Richtungen auf der Basis von zugänglichem Archivmaterial und theosophischer Zeitschriften nachgezeichnet. Besonders spannend zu lesen ist die Konfliktgeschichte zwischen Steiner und der theosophischen Mutterorganisation um den Hindujungen Krishnamurti. Auch innerhalb der sich nun abgespaltenen anthroposophischen Richtung werden wiederum interne Auseinandersetzungen sichtbar – insbesondere um die Person Steiners (240ff). Ein eigener Abschnitt widmet sich der Sozialstruktur und dem Vereinsleben der deutschen Adyar-Theosophie (347-432). Übersichtskarten und Tabellen dokumentieren die Verbreitung und die jeweilige Mitgliederzahl deutscher Gruppen.

Ein weiteres Kapitel wendet sich der Grundlegung der Weltanschauung Rudolf Steiners vor 1900 zu (433-542). Einleitend heißt es: „Keine andere theosophische Gesellschaft kann es hinsichtlich Kontinuität, philosophischem Anspruch, Breite der systematischen Darstellung und praktischer Umsetzung mit seiner Theosophie aufnehmen.“ (433) Zander wendet sich hier den geistigen Wurzeln des Theosophen Steiner zu und nennt im Folgenden Goethe, Kant, Nietzsche und Eduard von Hartmann. Daran schließt sich eine gründliche Darstellung von Steiners Theosophie an (543-957). Mit der Konversion zur Theosophie beginnt für diesen ein neuer biografischer Abschnitt, der seine atheistische Phase beendet. Überzeugend wird der Nachweis erbracht, dass die von Steiner über „geistige Schau“ empfangenen Inhalte seiner neuen Weltanschauung theosophischer Literatur entstammen. Der „Geistesforscher“ hat zudem seine grundlegenden theosophischen Werke „bei Neuauflagen teilweise eingreifend überarbeitet und fortgeschrieben“ (569). Gerade am höheren Erkenntnisanspruch Steiners setzt Zanders grundlegende Kritik an: „Visionären Irrtum schloß er [Steiner; M. P.] also nicht ganz aus, marginalisierte ihn jedoch. Gegenüber der historisch-kritischen Wissenschaft baute Steiner einen dezidierten Überlegenheitsanspruch auf, mit dem die Unterstellung einer harmonischen esoterischen Tradition zum Hebel wurde, die Geschichtswissenschaften aufgrund ihrer Quellenprobleme und ihrer Deutungspluralität zu diskreditieren“ (618). So entwirft der Historiker Zander auch „eine virtuelle theosophische Bibliothek Steiners“, anhand derer er den Nachweis zu erbringen versucht, welchen Kernbestand theosophischer Schriften Steiner in seiner „geistigen Schau“ gedanklich „verarbeitet“ hat (686-696).

Die von Steiner entwickelte Christologie war bereits mehrfach das Thema theologischer Analysen (Klaus von Stieglitz, Werner Thiede). Zander will sie demgegenüber stärker in der biografischen Entwicklung Steiners verankern und die Kontextualisierungen besonders im Blick auf die Theosophie intensivieren (784). Dabei gelangt er u. a. zu der überzeugenden Feststellung, dass „Steiner ein Seismograph für die Defizite des großkirchlichen Christentums und seiner vornehmlich protestantischen Klientel“ war (857). Der Historiker folgert: „Aus der Distanz eines Jahrhunderts erscheinen der Geist von Steiners Christologie, seine ‚hellsichtigen’ Aufklärungen und seine ‚Korrekturen’ oder ‚Verbesserungen’ der Bibel und der Christentumsgeschichte als Zeitgeist.“ (858)

Im Schlussteil wendet sich Zander dem theosophischen Wissenschaftsverständnis Steiners zu (859-957). Er entfaltet dieses vor dem Hintergrund von Fortschrittsemphase und Fortschrittskritik, aber auch im Blick auf das Verhältnis zur romantischen Naturphilosophie. Im Gegenüber zur neuzeitlichen Forschungseuphorie bildeten sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts „alternative“ Wissenschaftskulturen wie Spiritismus und Okkultismus. Dabei wollte – so Zander – die Theosophie „aus der Dunkelheit der spiritistischen Séance-Zimmer in das Licht der wissenschaftlichen Öffentlichkeit treten“ (945).

Der zweite Band der voluminösen Studie widmet sich den anthroposophischen Praxisfeldern. Er setzt ein mit einem Kapitel zur Ästhetik, worunter Freimaurerei, Mysterientheater, Architektur (insbesondere der Johannesbau und das spätere Goetheanum) sowie die Eurythmie in ihrer historischen Genese eingehend beleuchtet werden. Hier bekommt der Leser einen interessanten Einblick in das Verhältnis der Theosophie zur Freimaurerei. Steiner hat sich wohl erst ab seiner theosophischen Phase näher mit der Freimaurerei beschäftigt – v. a. mit Formen der ägyptophilen Hochgradfreimaurerei. Innerhalb der Esoterischen Schule begann er „maurerische Zeremonien“ zu entwickeln, die ausführlich beschrieben und analysiert werden (995-1015). Dabei erweist Steiner sich vorrangig als Eklektiker und Synkretist. Ein weiteres umfangreiches Kapitel untersucht Steiners politische Haltung in seiner vortheosophischen Phase sowie in der Zeit vor und während des Ersten Weltkriegs (1239-1356). Ausführlich wird dabei u. a. auf die Genese der sog. Dreigliederung eingegangen.

Der Abschnitt über die Waldorfpädagogik analysiert die in der Forschung weitgehend unberücksichtigt gebliebene historische Situierung des pädagogischen Komplexes (1357-1454). Dabei werden wichtige theosophische Denkeinflüsse herausgestellt. In welchem Verhältnis stehen Waldorfpädagogik und Anthroposophie heute zueinander? Ist die Waldorfschule eine Weltanschauungsschule? Das Ergebnis fällt eindeutig aus: „Die Umsetzung der autoritativen Vorstellungen Steiners in die Unterrichtspraxis und den Schulalltag ist deutlich, wird letztlich auch nicht bestritten, und reicht von den Prinzipien bis in die Details: von der Erkenntnistheorie über das Menschenbild bis zur Reinkarnationsvorstellung, von der Schularchitektur über den Lehrplan bis in die Didaktik, vom Lehrer-Schüler-Verhältnis über die (fehlende) Schüler-Mitverwaltung bis zur Relativierung der Elternrolle, vom Märchenerzählen in den unteren Klassen über die (fehlende) Sexualkunde bis zum anthroposophischen Religionsunterricht“ (1441). Zander nimmt weitere populäre anthroposophische Praxisbereiche wie die Medizin (1455-1587), die er vor dem Hintergrund des medizinhistorischen Kontextes und der Homöopathie und anthroposophisch gedeuteter Wirkstoffe (Blei, Mistel) untersucht, sowie die biodynamische Landwirtschaft (1579-1607) in den Blick.

Am Ende seiner Studie befasst sich Zander mit dem „neuen Kult“, den die Anthroposophie in Gestalt der Christengemeinschaft – einer „Kultkirche“ – hervorgebracht hat. Er beschränkt sich dabei „auf wenige Aspekte; eine umfassende historisch-kritische Darstellung bleibt ein Desiderat“ (1611). Die Christengemeinschaft wollte in Abgrenzung zu den bestehenden Kirchen eine Bewegung für religiöse Erneuerung sein. Der Band zeichnet den Entstehungsweg von den ersten Schulungskursen, die Steiner für Theologen durchführte, bis zur „Institutionalisierungsphase“ nach, die anfangs nicht frei von Spannungen zur Anthroposophischen Gesellschaft war, so dass sich Steiner zu einer klaren Verhältnisbestimmung zwischen beiden genötigt sah, indem er der Anthroposophie eine vorrangige Stellung einräumte. Weitere Abschnitte beleuchten die Theologie in der Christengemeinschaft, wobei Steiners Lehren deren eigentliche Lehrgrundlage bilden (1652). Zander präsentiert sie auf den folgenden Seiten als „ein genuin anthroposophisches Produkt“ (1664): „Die Christengemeinschaft erhielt jedenfalls kein Ritenmonopol, sie blieb in Steiners Konzeption eine Vorfeldorganisation für Menschen, die noch nicht reif für die Anthroposophie waren.“ (1671) Aber auch das Verhältnis der heutigen Christengemeinschaft zur Ökumene kommt in den Blick. Demnach sei es offen, ob es zu einer Annäherung komme: „Sollte die Christengemeinschaft jedoch das Verhältnis des Offenbarungsanspruchs der Bibel und Steiners neu bestimmen und den hermeneutischen Schlüssel auf Seiten der Bibel sehen, wofür es augenblicklich Indizien gibt, wären alle diese Fragen neu zu diskutieren“ (1676).

Auf den letzten knapp 40 Seiten fasst der Autor seine Ergebnisse zur Theosophischen Bewegung unter den Überschriften Internationalität, Vereinsgeschichte und Weltanschauungsproduktion sowie gesellschaftliche Praxis zusammen und spürt den langfristigen Nachwirkungen der Theosophie nach: ideengeschichtlich etwa bei der New-Age-Bewegung oder in der Ökologiebewegung sowie in verschiedenen Praxisfeldern wie Waldorfschulen oder in Auswirkungen auf die Partei „Die Grünen“, bei anthroposophischen Banken, Plebisziten oder beim sog. „georgischen Dreigliederungsstaat“. Dort hatte der 1990 im unabhängigen Georgien amtierende Präsident und Anthroposoph Swiad Gamsachurdia (1939-1993) versucht, die Steinersche Gesellschaftstheorie in die Tat umzusetzen.

Zander liefert eine Fülle an Material und wertvolle Analysen, auf die an dieser Stelle nicht hinreichend eingegangen werden kann. Es bleibt abzuwarten, wie die anthroposophische Bewegung sich in Zukunft zu diesen neuen, wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen verhalten wird. Eines steht jetzt schon fest: Zanders beeindruckende zweibändige Studie wird für längere Zeit ein wissenschaftliches Standardwerk zur Genese und Geschichte der anthroposophischen Bewegung in Deutschland bleiben, an der sich künftige Arbeiten zum Thema messen lassen müssen. Es bleibt zu hoffen, dass die Anthroposophie dieser imposanten Forschungsleistung nicht bloß abwehrend, sondern dialogisch zu begegnen vermag, um sich zu einem verantwortlichen und zeitgemäßem Umgang mit der Person Rudolf Steiners und seiner literarischen Hinterlassenschaft anregen zu lassen – fernab von pathetisch-musealer Idealisierung oder ideologischer Besserwisserei.


Matthias Pöhlmann