Jan Badewien

Anfragen der Anthroposophie an Theologie und Kirche

In der Regel ist es umgekehrt: Apologeten, Theologen, befragen weltanschauliche Bewegungen, neue Gemeinden und Gemeinschaften neben den Kirchen nach ihren Zielen und ihrer Theologie. In diesem Beitrag soll einmal anders gedacht werden: Welche Anfragen sind es, die seitens einer profilierten esoterischen Weltanschauung, hier am Beispiel der Anthroposophie paradigmatisch gezeigt, an die Kirchen gestellt werden? Was macht denn diese „Geisteswissenschaft“ Rudolf Steiners so attraktiv, dass sich Menschen ihr zuwenden, die zuvor evangelisch oder katholisch sozialisiert worden sind – und wo liegen darin Herausforderungen für Kirche und Theologie, die nicht (nur) in apologetischer Abwehr beantwortet werden können, sondern möglicherweise eine Veränderung im eigenen Denken und Handeln erfordern.

Um angemessen auf religiös-weltanschauliche Richtungen reagieren zu können, ist es wichtig, sich zu überlegen, welche Anfragen durch die jeweiligen Glaubens- oder Erkenntnisangebote an die Kirchen gestellt werden. Dabei geht es nicht um oberflächliche Dinge wie Erscheinungsform, Auftreten oder öffentliche Darstellung, sondern um tiefere Dimensionen: Bieten diese Bewegungen den Suchenden, denen, die derzeit keine Orientierung in ihrem Leben finden, Hilfestellungen, die traditionellerweise von den Kirchen gegeben wurden, in einer Weise, die dem intellektuellen, dem sozialen und dem gesellschaftlichen Status der Menschen mehr entspricht? Weisen diese Antworten auf Defizite in Theologie und Kirche hin? Auf Vermittlungsdefizite (die leichter behoben werden könnten) oder aber auf inhaltliche Defizite, sodass zentrale Punkte der durch die Kirchen vermittelten christlichen Botschaft heute nicht mehr akzeptiert werden bzw. nicht mehr als ausreichend angesehen werden? Letzteres würde auf eine grundsätzliche Krise christlichen Glaubens und christlicher Theologie hinweisen.

Die Frage nach dem Woher und Wohin des Menschen

Während im christlichen Bereich die Frage nach dem Woher des Menschen recht verschwommen und vor allem für Nicht-Theologen kaum plausibel beschrieben wird (wenn man nicht naturalistisch/atheistisch argumentieren will!), gibt die Anthroposophie mit ihrer Reinkarnationslehre eine Antwort, die verstehbar ist, sobald man die Grundlage glaubend akzeptiert. Die Stadien der Evolution, die Zeiten zwischen den verschiedenen Erdenleben werden plastisch, detailliert und nachvollziehbar beschrieben – logisch abgeleitet von dem nicht rational begründbaren Fundament.

In gleicher Weise gilt das für die Frage des Wohin: Vergangenheit und Zukunft sind grenzenlos, Geburt (oder Zeugung) und Tod sind nur mehr Übergänge in jeweils unterschiedliche Formen der Existenz – auf dem „physischen Plan“ bzw. in der geistigen Welt. Die Evolution der Menschheit und des eigenen Ich hat eine lange Vergangenheit und endet nicht in der Gegenwart, sondern setzt sich fort – weit über die Menschenstufe hinweg in die Höhen der geistigen Hierarchien. Das gilt für alle Esoterik, wird aber von Steiner in einer besonders konkreten Weise ausformuliert.

Die Anfrage lautet: Wie können christliche Theologie und Verkündigung so vom Woher und Wohin des Menschen sprechen, dass es verstanden und aufgenommen werden kann? Reichen die bildlichen Aussagen, die zur normalen Gemeindepredigt gehören: Neuschöpfung, „von Gott, zu Gott“, biblische Bilder wie Festmahl, Stadt Gottes, Licht usw.? Wie können Theologie und Kirche vermitteln, dass hier Bereiche angesprochen sind, über die verantwortlich nur in Bildern geredet werden kann, weil jegliche Erfahrung fehlt, obgleich viele esoterische Richtungen (im Spezialfall die Anthroposophie) solche Antworten, als Wissenschaft und Erkenntnis bezeichnet, anbieten? Kann hier überzeugend dargelegt werden, dass es sich bei den esoterischen Aussagen – und scheinen sie noch so konkret – um reine Behauptungen handelt, mit denen Erfahrungen dieses Lebens in andere Bereiche fortgeschrieben werden? Begnügen sich die Menschen unserer Zeit, die erleben, in wie viele Richtungen hinein neue wissenschaftliche Erkenntnisse möglich sind, mit dem Hinweis auf Glauben und Vertrauen – und auf die Äußerung des Paulus an die Gemeinde in Korinth: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild, dann aber von Angesicht zu Angesicht“ (1. Kor 13,12)? Die Akzeptanz von Reinkarnationsvorstellungen bis weit in die christlichen Gemeinden hinein zeigt, wie nötig es ist, hier zu arbeiten.

Die Theodizeefrage

In gleicher Weise verhält es sich mit der Frage der Theodizee: Während die Atheisten das unerklärbare Leid zum Anlass nehmen, die Existenz und das Wirken Gottes überhaupt zu bestreiten, erklärt die Anthroposophie jedes Schicksal mit dem „Karmagesetz“: Alles, was einem Menschen schicksalsmäßig zustößt, ist weder Zufall noch durch einen willkürlich handelnden Gott veranlasst. Der Mensch hat es sich selbst zuzuschreiben und es selbst zu verantworten. Was ihm hier in diesem Leben widerfährt, ist die Wirkung, die ihre Ursache in einem früheren Leben hat; was wir hier tun und lassen, wird zur Ursache, die ihre Wirkung in einem späteren Leben entfaltet. Es gibt ein klares Tun-Ergehen-Schema, allerdings sind Ursache und Folgen nicht unmittelbar zu sehen, sondern erstrecken sich auf verschiedene Erdenleben, sodass nur ein erprobter Geistesforscher die Zusammenhänge erkennen kann. Aber für diejenigen, die das akzeptieren, sind damit die Rationalität des Geschehens und die Gerechtigkeit der Welt gewährleistet! Und wie in der übrigen Gesellschaft auch, ist es hier die Leistung des Ich, Schuld aus früheren Leben zu bearbeiten und dieses Leben so zu führen, dass im kommenden (noch) bessere Startchancen vorhanden sind.

Die Anfrage an Theologie und Kirche lautet: Reicht unsere Rede von der Vergebung Gottes, von der Rechtfertigung des Sünders, von der Erlösung durch den Tod Jesu am Kreuz? Hat die Rede noch Plausibilität oder klingt sie paternalistisch, theoretisch? Wie können wir positiv deutlich machen, dass das Geschenk der Vergebung befreit, während die Karma-Lehre bindet und Selbsterlösung fordert, die menschliche Kräfte übersteigt? Von Anthroposophen wird gerne behauptet, dass das Geschenk einer Vergebung mit ihrem Bild eines mündigen Menschen nicht mehr vereinbar sei; es sei vielmehr angemessen, durch eigenes Handeln, eigene Leistung das Karma zu bearbeiten.

Gottesbild und das Verhältnis von Gott und Mensch

Eine weitere Anfrage betrifft das Gottesbild: Die Anthroposophie spricht – wie alle Esoterik – hauptsächlich vom überpersonalen Gott, vom Göttlichen oder vom kosmischen Geist. Ganz offensichtlich hat das derzeit große Plausibilität. Haben sich Theologie und Kirche zu stark auf ein personales Gottesbild festgelegt, das oftmals patriarchale und feudalistische Züge trägt (Gott als Vater, Richter, König, Gutsherr, Hirte; der Mensch als Kind, Schaf, Knecht) und mit Bildern versehen ist, die großenteils nicht mehr unserer Welt entstammen? Müssten Theologie und Kirche neue Bilder suchen? Müssten sie stärker die nichttheistische Rede von Gott aufnehmen, die ja auch in der Bibel und der christlichen Tradition (Mystik) vorhanden ist?

Damit verbunden ist die Anfrage: Wie ist das Verhältnis von Gott und Mensch zu verstehen? Die Anthroposophie spricht von einer großen Nähe der menschlichen Individualität und der göttlichen Kraft: „Gott in mir“ ist ein viel zitiertes Wort. Ist das wirklich falsch? Wie erlebe ich Gott, wenn nicht in mir? Gemäß dem berühmten Spruch von Angelus Silesius: „Halt an, wo läufst du hin? Der Himmel ist in dir! Suchst du Gott anderswo, du fehlst ihn für und für.“

Christlicher Glaube und christliche Theologie betonen die Distanz zwischen Gott und Mensch. Aber muss nicht die Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf, die evolutionär nicht zu überwinden ist, von Kirche und Theologie in ihrer lebensdienlichen Bedeutung hervorgehoben werden: Gott, der Helfende, Orientierende, Sinnstiftende? Ich halte die Betonung der Differenz und der Distanz für unverzichtbar, aber hier muss deutlicher, klarer und verständlicher gesprochen werden. Allein der Hinweis auf dogmatische Grundentscheidungen und Glaubensbekenntnisse der Vergangenheit trägt heute nicht mehr, um Menschen von der Bedeutung der Differenz zwischen Gott und Menschen zu überzeugen. Und muss sie nicht ergänzt werden durch das Angebot spiritueller Erfahrung, Gott in sich zu erleben – im Sinne von Angelus Silesius?

Wer ist Jesus Christus?

In der Esoterik gibt es die unterschiedlichsten Interpretationen zu Jesus Christus, zum Verhältnis von Jesus und Christus zueinander, von Christus zu Gott usw. Steiner hat eine sehr ausgeformte Christologie, gerne als „Christosophie“ bezeichnet. Er trennt Jesus und Christus: Christus, der Sonnengeist, senkt sich in die menschliche Hülle des Jesus von Nazareth, der auf komplexe Weise für diese weltgeschichtlich bedeutsame Verbindung vorbereitet wurde (z. B. die zwei Jesusknaben). In dem Christus Jesus verbinden sich alle großen vorchristlichen Religionen, der Christus-Impuls wirkt nach Ostern unter den Menschen und befähigt sie, den Aufstieg in die höheren Welten zu vollbringen. Es ist keine Frage, dass sich dieses Bild von Jesus Christus, das aus der Akasha-Chronik stammen soll, im Gegensatz zu den durchaus variierenden Vorstellungen des Neuen Testaments befindet.

Wie aber können Theologie und Kirche das biblische und zugleich das dogmatisch gewachsene und in den altkirchlichen Bekenntnissen formulierte Verhältnis von Jesus und Christus, von Gott-Sohn zu den anderen Personen der Trinität und nicht zuletzt die Trinität selbst so formulieren, dass sie für Menschen unserer Zeit nicht auswendig gelernte Fremdbegriffe darstellen, sondern plausibel Bezug zur Lebenswirklichkeit haben?

Bibel oder Akasha-Chronik?

Eine weitere Anfrage seitens der Anthroposophie besteht im Blick auf das Verhältnis der Gottesoffenbarung in Jesus Christus, wie sie in den Zeugnissen der Bibel überliefert ist, und der sogenannten Forschung in der Akasha-Chronik, die höhere Offenbarungsqualität beansprucht. In diesem „geistigen Weltengedächtnis“, das im „Weltenäther“ vorhanden sei, liest Steiner seine Aussagen zum Werden des Kosmos und der Erde, zur Entwicklung der Menschheit, zum Christus- und Gottesbild.

Die tiefere Anfrage heißt: Gibt es neue Offenbarungen, die weit über die Zeugnisse der Bibel hinausgehen und neue Inhalte haben (wie z. B. Reinkarnation und Karma)? Steiner betont den universalen Anspruch seiner „Forschungen“ in der Akasha-Chronik, während der Anthroposoph Michael Debus sie nur als „Privatoffenbarungen“ gelten lassen will. Steiner sagt: „Auf der einen Seite haben wir die alte Bibel, welche uns auf ihre Art die Geheimnisse der übersinnlichen Welt und deren Zusammenhang mit der Sinneswelt darstellt, und auf der anderen Seite haben wir durch die Geisteswissenschaft das, was der Forscher unmittelbar erfährt über diese übersinnliche Welt. Ist das nicht ein ganz ähnlicher Gesichtspunkt, wie er bei der Morgenröte der modernen Naturwissenschaft uns entgegentritt?“1 Oder wie sein Schüler Hans Erhard Lauer formuliert: „Nach der Auffassung der Konfessionen gilt als die einzige Quelle unseres Wissens von Christus die schriftliche und (für den Katholizismus auch) die mündliche Überlieferung ... Die Bibel kann aber heute kein Maßstab mehr sein für ein Urteil darüber, welche Auffassung vom Christentum die richtige ist.“2 Und weiter: „Wir bedürfen also, wenn Christus heute mit uns leben will, einer neuen, einer heutigen Form seiner Offenbarung. Wäre es verwunderlich, wenn diese mit der damaligen in einem gewissen ‚Widerspruch’ stände?“3

Das Problem der Anfrage ist klar: „sola scriptura“ – oder neue Offenbarung? Wie können wir in die mäßig interessierte und informierte Öffentlichkeit vermitteln, dass die Bibel, die so unterschiedliche Aussagen macht und vor allem so unterschiedlich interpretiert wird, eine besondere Dignität und Autorität hat? Wie können Theologie und Kirche plausibel machen, dass es nach Jesus Christus nur noch „sekundäre Offenbarungen“, Privatoffenbarungen u. Ä. gibt – geben kann, geben darf? Die Fülle neuer Offenbarungen seit dem 19. Jahrhundert zeigt, dass sich viele Menschen damit nicht abfinden – und die Einordnung biblischer Texte in den zeitgeschichtlichen Kontext durch die historisch-kritische Forschung scheint die Besonderheit biblischer Texte zusätzlich zu nivellieren. Es ist also eine Antwort zu geben, warum neue Offenbarungen, die grundlegend Neues bringen, im christlichen Raum nicht sein können (oder nur: nicht nötig sind?).

Theorie und Praxis

Ein Letztes sei angesprochen: das Verhältnis von Theorie und Praxis. Hier begegnet mir oft der Hinweis: Die Kirche hat die bessere Theorie (die sei ja in der Anthroposophie recht verquast), aber die Anthroposophie habe die bessere und glaubwürdigere Praxis.

Ein Riss zwischen Theorie und Praxis ist ein Verlust an Authentizität – und damit an Glaubwürdigkeit, der gerade in unserer Zeit nicht akzeptiert wird. Rudolf Steiner verbindet den Fortschritt auf dem meditativen Erkenntnisweg mit Fortschritten in der Ethik. Und die überall anerkannte Weise, wie Anthroposophen sich um Behinderte kümmern, wie in ihren Krankenhäusern und Arztpraxen der ganze Mensch im Zentrum steht (so wird es immer wieder erlebt und berichtet), macht geneigt, sich mit der Anthroposophie näher zu beschäftigen.

Inwieweit gilt das für die kirchliche Praxis, für kirchliche Krankenhäuser, diakonische Einrichtungen? Wie kann im öffentlichen Bewusstsein deutlich werden, dass Kirche nicht primär eine Institution ist, die um ihre Privilegien kämpft, sondern den Menschen ins Zentrum ihres Handelns stellt? Die Anfrage könnte auch in die Worte Heinrich Bölls gekleidet werden: „Wie ist es möglich, dass 800 Millionen Christen diese Welt so wenig zu verändern vermögen?“ Seither hat sich die Zahl der Christen deutlich erhöht – aber die Anfrage bleibt.

Fazit

Es gibt auf verschiedenen Feldern der Anthroposophie Anfragen an Kirche und Theologie, die ernst genommen werden müssen: nicht, weil sie unbedingt neu sind, sondern weil sie Fragen vieler Menschen heute betreffen und von daher schlüssige Reaktionen von Theologie und Kirche erfordern – in einer Sprache und einer Rationalität, die der Komplexität heutigen Lebens angemessen ist.

Man kann mit Fug und Recht die Gegenfrage stellen: Ist denn die Anthroposophie rational, logisch und sprachlich verständlich? Man kann alle drei Punkte getrost verneinen. Aber wenn man, wie in anderen Religionsformen, die Grundlage glaubend akzeptiert – Steiners wissenschaftliche „Forschung“ in der Akasha-Chronik – dann lässt sich alles andere deduzieren! Reinkarnation, Karma, alles ist berechenbar, wenn man die Grundlage, die sogenannten „geistigen Gesetze“, akzeptiert. Und die selbst zu bewältigende Aufgabe des Aufstiegs in höhere geistige Sphären („Selbsterlösung“) trifft einen Zeitgeist, der davor warnt, sich etwas schenken zu lassen. Der mündige Bürger möchte auch seine Spiritualität selbstbestimmt leben. Auch hier liegen tiefe Anfragen an die Kompatibilität von christlichem Glauben und Theologie mit der Lebenswelt der Gegenwart. Und wie steht es um die verständliche Sprache? Das geheimnisvolle Raunen Steiners wird als Aufgabe lebenslanger Bemühung akzeptiert. Die Grundzüge sind einfach – man muss sie ja nicht im Original lesen.

Die Anfragen zeigen: Kirchen und ihre Theologen haben mindestens ein Vermittlungsproblem, wahrscheinlich geht das Problem aber tiefer: Viele Lehrmeinungen, die für grundsätzlich gehalten werden, müssen wohl einer ehrlichen Revision unterzogen werden, damit sie für Menschen unserer Zeit überhaupt verständlich und mit ihrem Alltag kompatibel werden. Das ist eine große Aufgabe, der sich Kirche und Theologie immer wieder neu unterziehen müssen – und unterzogen haben, damit christlicher Glaube für die Zeitgenossen relevant und plausibel wird.


Jan Badewien


Anmerkungen

1 Rudolf Steiner, Bibel und Weisheit, Dornach 1943, 11.
2 Hans Erhard Lauer, Die Anthroposophie und die Zukunft des Christentums, Stuttgart 1966, 37f.
3 Ebd., 40.