Jehovas Zeugen

Aktuelle Entwicklungen innerhalb der Organisation

(Letzter Bericht: 11/2015, 427f) Juristisch läuft es für die christliche Sondergemeinschaft gut. Nachdem in Bremen Bewegung in den Antrag auf die Körperschaftsrechte gekommen ist (vgl. MD 10/2015, 389f), hat im November 2015 die Landesregierung in Baden-Württemberg nach einem jahrelangen Rechtsstreit die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt. Damit folge die Landesregierung einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, hieß es in der knappen Erklärung. Nur noch Bremen und Nordrhein-Westfalen verwehren dieser Gruppe damit die Körperschaftsrechte und den damit verbundenen Imagegewinn.

Intern scheint es der Religionsgemeinschaft aber nicht gut zu gehen. Immense Prozesskosten in Sachen Kindesmissbrauch in den USA und in Australien, ein angeblich erheblicher Spendenrückgang bei gleichzeitig hohem Finanzierungsbedarf der Großbaustelle in Warwick (New York), wo die neue „Weltzentrale“ entsteht, haben die Wachtturm-Gesellschaft offenbar in eine massive finanzielle Schieflage gebracht. Ein gravierender Einschnitt betrifft ein charakteristisches Aushängeschild der Zeugen: ihre Publizistik. Ab Januar 2016 erscheinen „Wachtturm“ und „Erwachet!“ nur noch zweimonatlich, also die beiden Zeitschriften im Wechsel. Ehemalige Mitglieder der Zeugen Jehovas vom „Bruderdienst“ haben daran erinnert, dass erst vor wenigen Jahren die Seitenanzahl jeder Ausgabe halbiert worden ist. Akribisch haben sie nachgerechnet, dass im Vergleich zu 2005 die gedruckte Seitenzahl beider Zeitschriften ab 2016 einer Reduzierung um sage und schreibe 57 Prozent betrage. Natürlich ist zu berücksichtigen, dass zahlreiche Zeugen Jehovas für ihr Bibelstudium mittlerweile ihr Tablet oder Smartphone verwenden. Hochprofessionell stellt die Wachtturm-Gesellschaft seit einigen Jahren den Großteil ihrer Publikationen in allen gängigen Formaten zum Herunterladen von ihrer Internetseite zur Verfügung. Dieses Angebot wird auch rege genutzt, wovon man sich bei Besuchen in den örtlichen Versammlungen überzeugen kann. Allerdings setzen digitale Medien – die Organisation unterhält sogar einen eigenen Internet-TV-Kanal (http://tv.jw.org) – die entsprechende Hardware voraus, was in den Wachstumsregionen dieser Gemeinschaft, in Afrika und Asien, nicht immer gegeben ist.

Ein weiteres Indiz für finanzielle Engpässe sind Umstrukturierungsmaßnahmen: Auch Jehovas Zeugen in Deutschland sind dabei, sich in großer Zahl von ihren hauptamtlichen Vollzeitdienern („Sonderpionieren“) zu trennen. Ein offener Brief eines „Sonderpioniers“ an das europäische Zweigbüro der Zeugen in Selters wurde im Internet veröffentlicht. Der Betreffende hat keinerlei Berufsausbildung und steht nach 16 Jahren Predigtdienst finanziell vor dem Nichts. Er beklagt sich bei den „Brüdern“: „Eure Ermunterung, mich auf die Macht Jehovas zu verlassen, klingt für mich wie Hohn … In dem Bewusstsein, dass das Ende nahe ist und Jehovas Organisation von Gottes Geist geleitet wird, habe ich schon als junger Mann auf euren Rat hin den Pionierdienst aufgenommen. Ich habe auf eine anständige Ausbildung verzichtet in der Hoffnung, in Jehovas Organisation gebraucht zu werden. Jehova ist doch der beste Arbeitgeber, so wurde mir und vielen anderen immer wieder gesagt … Es stellt sich für mich die Frage, warum für meinen Sonderpionierdienst aktuell keine Notwendigkeit besteht? Liegt es am Geld? Sind die Sonderpioniere zu teuer für die Organisation? Wird das Geld, welches die Brüder für das Predigtwerk willig spenden, für andere Aktivitäten gebraucht? Zum Beispiel für Bauprojekte wie Warwick oder die Tempelfarm? Tatsächlich fühle ich mich verraten und ausgenutzt. Es scheint, dass Bauprojekte dem Sklaven wichtiger sind als Menschen, die sich um Menschen bemühen … Ja, ich habe nun wirklich verstanden, worum es der Organisation Jehovas geht: Es geht euch nur noch um Effektivität und Nützlichkeit für die Organisation, nicht um Menschen.“

Trotz dieser Veränderungen werden die Mitglieder weiterhin zu intensiver Missionstätigkeit aufgefordert. Auch die hohe Zahl der Flüchtlinge scheint aus Sicht der Wachtturm-Gesellschaft ein geeignetes Missionsfeld zu eröffnen. In einem internen „Merkblatt zur Bearbeitung von Asylantenheimen“ werden konkrete Hinweise zur Missionstätigkeit gegeben. Schon allein die Formulierung „Bearbeitung von Asylantenheimen“ offenbart den unbeirrbaren Missionierungsdrang der Organisation. Gezielt werden die „Verkündiger“ dazu aufgefordert, auch in kleinen Orten Ausschau nach Flüchtlingsunterkünften zu halten. Immer solle man sein Tablet oder Smartphone parat haben, um Flüchtlinge auf das Internetportal der Zeugen Jehovas hinzuweisen. Man könne alternativ auch Traktate und Broschüren verteilen. Um am Aufsichtspersonal vorbeizukommen, wird als Strategie die Behauptung empfohlen, dass man von einem Bewohner direkt eingeladen worden sei. Um das zu erreichen, wird angeraten, mit dem Trolley vor der Unterkunft auf und ab zu gehen, um dann eingeladen zu werden.

Mission unter Flüchtlingen wird von kirchlichen Organisationen wie Diakonie oder Caritas abgelehnt. Im europäischen Zweigbüro im hessischen Selters halten die Verantwortlichen in einer schriftlichen Stellungnahme dagegen: „Als Träger der freien Wohlfahrtspflege gebührt uns der freie Zugang zu den Asylunterkünften. Neben dieser allgemeinen Hilfe sind wir als Christen allerdings der Ansicht, dass die größte Hilfe, die man einem Menschen geben kann, das Kennenlernen der guten Botschaft der Bibel ist, wie unser Herr Jesus Christus sie gepredigt hat. Sie ist die beste Grundlage dafür, Menschen Trost zu vermitteln, Geborgenheit bei Gott zu finden und damit Probleme und Traumata überwinden zu können.“

Ohne Zweifel kann das hochprofessionelle Internetportal der Zeugen (www.jw.org), das umfangreiche Materialien in 773 (!) Sprachen vorhält, durch die sprachliche Vertrautheit Heimatgefühle erzeugen. Sehr problematisch ist allerdings, dass das Menschen- und Weltbild der Zeugen universal angewandt wird. In einem Büro der New Yorker Weltzentrale wird der gesamte Erdkreis einheitlich durch ein Schwarz-Weiß-Raster gepresst und der Heilsplan Jehovas festgelegt. Kulturelle Unterschiede und ethnische Besonderheiten werden schlicht übergangen. Auch dies mag ein Grund dafür sein, das sich viele Ratsuchende nach einer kurzen Zeit der Zugehörigkeit zu dieser geschlossenen Gruppe enttäuscht wieder abwenden.


Michael Utsch, 10.12.2015