Michael Utsch

50 Jahre nach dem Tod von Johann Gottfried Bischoff

Neuer Anlauf zur Geschichtsaufarbeitung in der Neuapostolischen Kirche

Die jüngere Geschichte der Neuapostolischen Kirche (NAK) verlangt insbesondere in drei Problembereichen nach einer kritischen Aufarbeitung: die Anpassung der Kirche an den Nationalsozialismus, der autoritäre Führungsstil des Stammapostels Johann Gottfried Bischoff (1871-1960), der in seiner Amtszeit von 1930 bis 1960 zahlreiche Abspaltungen nach sich zog, und seine falsche „Botschaft“, dass Jesus zu seinen Lebzeiten wiederkommen werde.

Ein Versuch der NAK, ihre Geschichte aufzuarbeiten, schlug vor drei Jahren fehl.1 Die umfangreiche Ausarbeitung der „Projektgruppe Geschichte“, die am zweiten Informationsabend im Dezember 2007 in Zürich vorgestellt wurde, überging viele offene Fragen oder bot fragwürdige Erklärungen an. Es war kein Wunder, dass heftige Kontroversen innerhalb und außerhalb der NAK folgten. Kurz vor dem 50. Todestag von Stammapostel Bischoff im Juli 2010 setzte nun der amtierende Stammapostel Wilhelm Leber ein versöhnliches Zeichen: Das umstrittene Geschichtspapier wurde Mitte Juni 2010 von der Internet-Präsenz der NAK entfernt.

In der aktuellen Ausgabe der Mitgliederzeitschrift „Unsere Familie“2 wird auf acht Seiten ein neuer Versuch der Geschichtsaufarbeitung unternommen, der erfolgversprechender erscheint. Ohne Deutungen und Erklärungen seitens der Redaktion werden die Erinnerungen und Gefühle von 22 Zeitzeugen wiedergegeben. Seit der „Botschaft“ Bischoffs im Jahr 1951 glaubten sie gemeinsam mit den meisten NAK-Mitgliedern neun Jahre lang an die unmittelbar bevorstehende Wiederkunft Christi. Bischoff hatte im Weihnachtsgottesdienst 1951 in Gießen verkündet, dass er der letzte Stammapostel sei: „Ich bin der Letzte, nach mir kommt keiner mehr. So steht es im Ratschluss unseres Gottes, so ist es festgelegt, und so wird es der Herr bestätigen!“ Doch im Gottesdienst am 10. Juli 1960 wurden die NAK-Mitglieder dann vor vollendete Tatsachen gestellt. Es wurde ihnen mitgeteilt, dass der Stammapostel in den Abendstunden des 6. Juli 1960 in Karlsruhe verstorben sei.

Die so schlichte wie brisante Frage in „Unsere Familie“ lautet nun: „Mit welchen Gefühlen erlebten Sie den Gottesdienst am 10. Juni 1960, in dem Bezirksapostel Walter Schmidt das Stammapostelamt übernahm?“ Die Zeugnisse geben lebendige Einblicke in die existenziellen Krisen und die tiefen seelischen Wunden, die durch die falsche Prophezeiung des damaligen Stammapostels und die eilige Nachfolgeregelung hervorgerufen wurden: „Bei der Bekanntgabe im Gottesdienst war ich wie erstarrt und weinte bitterlich in dem Gedanken: ‚Ich bin nicht dabei’ ... Es war für uns wie der Weltuntergang ... Es traf uns wie ein Schlag ... Wir weinten in diesen Tagen viel und sagten immer wieder, es kann doch nicht sein. Wir kamen uns so hilflos vor ... Eine Welt war zusammengebrochen. Wohin sollten wir gehen?“ Die Rückblicke machen den emotionalen Ausnahmezustand deutlich, in den viele Mitglieder geführt wurden. Wenn der Prophet einer Endzeitgemeinschaft die Wiederkunft Jesu ankündigt und dann verstirbt, ist die schlimmste aller Schreckensvisionen eingetreten. Es ist also kein Wunder, dass die Verzweiflung der neuapostolischen Gläubigen nach dem Tod des Stammapostels extrem groß war. Der Handlungsdruck für die zurückgelassenen Bezirksapostel war jedoch ähnlich hoch. Wie konnte man sich in dieser ausweglosen Lage verhalten, ohne das Stammapostelamt zu beschädigen und trotzdem der verstörten, zurückgelassenen Gemeinde eine neue Zukunftsperspektive aufzeigen?

In einem offenen Brief warf Kurt Hutten schon kurz nach Bischoffs Tod der Apostelversammlung mangelnde Ehrlichkeit vor: Es sei eine „faule Unternehmung“ gewesen, den Irrtum Bischoffs nicht zuzugeben: „Aber sein Grab war noch nicht geschlossen, als sie schon einen neuen Stammapostel wählten.“ Vielen verunsicherten Gemeindemitgliedern der NAK sprach er sicher aus dem Herzen: „Eigentlich hättet ihr von den Aposteln erwarten dürfen, dass sie nach dem Tod Bischoffs vor euch treten und ehrlich bekennen: Wir haben uns vom Stammapostel irreführen lassen und haben euch irregeführt“.3 Der eindringliche Appell Huttens wollte die enttäuschten und verwirrten neuapostolischen Christen ermutigen, ihr Vertrauen nicht auf den Stammapostel und die Versiegelung zu setzen, sondern sich allein Gottes Gnade und seinem Wort anzuvertrauen.

Die Redaktion des Bischoff-Verlags lässt in „Unsere Familie“ als Zeitzeugen sogar auch einige „abtrünnige“ NAK-Mitglieder zu Wort kommen, die heute der Vereinigung apostolischer Gemeinden (VAG) angehören. Schon auf dem europäischen Jugendtag 2009 der NAK hatte Stammapostel Leber eine versöhnliche Geste in Richtung der VAG gezeigt. Auch wenn die klare Bitte um Vergebung für die „Botschaft“ und ihre Folgen seitens der NAK-Führung noch aussteht – die Aufarbeitung der Problematik hat begonnen.

Zum kritischen Umgang mit der eigenen Geschichte gehört jedoch ebenso die Aufarbeitung des Verhältnisses der NAK zum Nationalsozialismus, die bisher nur in ersten Ansätzen erfolgte.4 Um ein Verbot seiner Kirche zu verhindern, passte sich Bischoff, der sein Amt 1930 angetreten hatte, vielen Forderungen der Machthaber an. Nachweislich gehörten schließlich er selbst und zwölf weitere Apostel und Bezirksapostel der NSDAP an.5 Der Stammapostel „trug die nationalsozialistische Kriegsbegeisterung und den Glauben an den Endsieg mit“6. Der Anpassungskurs ist als eine der Ursachen dafür anzusehen, dass ausländische NAK-Gemeinden den deutschen Stammapostel ablehnten. Mitte der 1940er Jahre trennten sich 25 000 niederländische Mitglieder von der NAK. Wie reagierte die NAK „auf den Zusammenbruch Hitlerdeutschlands? Wie wurden der große Irrtum und die damit zusammenhängende Schuld verarbeitet? Die Reaktion war verschweigen, verdrängen, verfälschen. Es gab kein Schuldbekenntnis, wie es etwa die Vertreter der evangelischen Kirche in Deutschland am 18./ 19. Oktober 1945 ablegten“.7 Auch aus anderen als politischen Gründen kam es nach dem Zweiten Weltkrieg in Südhessen und im Saarland zu Abspaltungen von der NAK. Während der Amtszeit Bischoffs gab es ungewöhnlich viele Zerwürfnisse, bei denen es vor allem um Machtfragen und um die Anerkennung der „Botschaft“ des Stammapostels ging.8 Die Dogmatisierung der „Botschaft“ ist hier als besonders problematisch zu werten, denn das Glauben der „Botschaft“ wurde den Gemeindegliedern nach 1951 als Dogma auferlegt. Versiegelungen sowie Berufungen in neuapostolische Ämter wurden von der Annahme der „Botschaft“ abhängig gemacht.

Die Aufarbeitung der Geschichte der NAK hat mit den Erinnerungen der Zeitzeugen in „Unsere Familie“ begonnen, aber hier liegt noch eine weite Wegstrecke vor dieser Gemeinschaft. Nur durch schonungslose Offenheit könnten alte Wunden heilen und neues Vertrauen entstehen. Aber mit den seelischen Abwehrreflexen der Verdrängung und Verleugnung ist man in der NAK leider gut vertraut. Dies lässt sich derzeit auch am Umgang mit den neuen Glaubensartikeln beobachten9. Obwohl vielfache Kritik an ihnen geäußert wurde, findet sich niemand der Bezirksapostel dazu bereit, sie zu begründen und zu verteidigen.10 Mit einem komplizierten Rückmeldeverfahren via Internet wird das direkte Gespräch unterbunden und der einheitlich apostolischen Leitung unterworfen. Mehr Mut zur Wahrheit und eine respektvolle, aber offene Streitkultur könnte diese Gemeinschaft verändern – wenn die Leitung es zulassen würde.


Michael Utsch


Anmerkungen

1 Vgl. Michael Utsch, Mangelnde Geschichtsaufarbeitung in der NAK, in: MD 3/2008, 106f.

Unsere Familie 12/2010, 30-38.

3 Siehe www.apostolischekritiek.nl/brhutten.html 

4 Vgl. Richard Fehr, Verhalten der NAK in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Unsere Familie 56/1996, 19.

5 Vgl. Michael König / Jürgen Marschall (Hg.), Die Neuapostolische Kirche in der N.S.-Zeit und die Auswirkungen bis zur Gegenwart, Feldafing 1994.

6 Helmut Obst: NAK – die exklusive Endzeitkirche? R.A.T. 8, Neukirchen-Vluyn 1996, 54.

7 Ebd., 55.

8 Vgl. Kurt Hutten, Seher, Grübler, Enthusiasten, Stuttgart 151997, 504-512.

9 Siehe dazu den vorstehenden Bericht von Christian Ruch.

10 „Das neue Glaubensbekenntnis hat in seinen Artikeln 4-9 ... die neuapostolischen Gläubigen wieder in die Sektenecke gestellt“ (Michael Koch, Keiner will es rechtfertigen. Editorial vom 1.7.2010 unter www.glaubenskultur.de).