Friedmann Eißler

20 Jahre Pogrom von Sivas

Die Bedeutung von „Sivas“ für den Weg der Aleviten von der takiye zur Anerkennung

Am 2. Juli 1993 starben 37 Menschen in der zentralanatolischen Stadt Sivas in einem Hotel, das ein aufgebrachter Mob in Brand gesetzt hatte, darunter 33 Intellektuelle, Künstler und Jugendliche überwiegend alevitischer Herkunft und zwei Hotelangestellte. Viele Täter sind bis heute auf freiem Fuß, neun von ihnen leben inzwischen in Deutschland, einer hat seit Mai 2013 sogar die deutsche Staatsangehörigkeit.

In diesem Jahr veranstaltete die Alevitische Gemeinde zu Berlin die jährliche Gedenkfeier zum ersten Mal in deutscher Sprache – eine Tatsache, die den Anlass und das Thema weiteren Kreisen der Gesellschaft öffnete und ins Bewusstsein hob. Die von der Generalsekretärin der Gemeinde Hayal Düz organisierte Veranstaltung stieß auf große Resonanz. Beteiligt waren unter anderem die Witwe des in Sivas umgekommenen jungen kurdisch-alevitischen Künstlers Hasret Gültekin, Yeter Gültekin, der Rechtsanwalt und Krimiautor Wilfried Eggers („Paragraf 301“) und der Bundestagsabgeordnete der Grünen Memet Kılıç.1

Gedenken und Protest

Bis heute ist das Gedenken an das Pogrom von Sivas ein für viele Aleviten in hohem Maße identitätsprägender Anlass im Jahreslauf, der der gemeinsamen Trauer wie auch dem Protest gegen die nach wie vor fehlende Anerkennung der Aleviten in der Türkei gewidmet ist. Auch in vielen Städten Deutschlands finden Kundgebungen und Demonstrationen statt.

Sivas ist längst zu einem Symbol für anti-alevitische Diskriminierung und Unterdrückung in der Türkei geworden, zugleich aber auch für „die Auferstehung der Aleviten“ (SPIEGEL). Sivas bedeutet für viele Aleviten die Verpflichtung, sich nicht mehr zu verstecken und wegzuducken, sondern alevitische Anliegen offensiv in der Öffentlichkeit zu thematisieren. „Ich bin ein Ergebnis von Sivas“, sagt der Berliner Gemeindevorsitzende Ahmet Taner. „Der kulturelle Schatz der Aleviten muss in die Öffentlichkeit getragen werden. Heute, nach Sivas 1993, hat Sivas die alevitische Bewegung, die alevitischen Menschen, dazu gebracht, dass sie sich organisieren. Und wir denken, als Diaspora sind wir für die türkischen Aleviten ein sehr wichtiger Kooperationspartner, der den türkischen Aleviten Hoffnung und auch Mut gibt.“2

Von der takiye zur Anerkennung

Vor unseren Augen vollzieht sich inmitten unserer Gesellschaft ein dynamischer Selbstfindungsprozess einer ganzen Religionsgemeinschaft, der nur staunend zur Kenntnis genommen werden kann. In diesem Prozess hat sich der Brandanschlag von Sivas als so etwas wie ein Katalysator für die weitere Öffnung der Aleviten erwiesen. Den Anfangspunkt dieser Entwicklung kann man indessen schon Jahre früher festmachen. Die Alevitische Kulturwoche in Hamburg im Oktober 1989 war die erste Veranstaltung, die öffentlich die Bezeichnung „alevitisch“ trug.

Vor 1989 war der Ausdruck „Aleviten“ hierzulande praktisch unbekannt. Es war allenfalls gelegentlich von „alevitischen Muslimen“ zu hören, die „irgendwie besonders“ seien. Worin diese Besonderheit bestehen sollte, wusste jedoch so gut wie niemand. Das ausdrückliche Anliegen der Hamburger Kulturwoche war es, das Verbergen des Alevitentums, die takiye, zu durchbrechen, das Alevitentum öffentlich zu machen und seine Anerkennung einzufordern. In seiner berühmten Eröffnungsansprache sagte Ismail Kaplan, bis heute einer der wichtigsten Akteure der alevitischen Bewegung in Deutschland: „Ich möchte, dass alle, die es wollen, sagen können: Ich bin ein Alevit.“

Wie wenig selbstverständlich dies war, hat bis tief in die alevitischen Familien hinein Spuren hinterlassen. Es gab und gibt nicht wenige Aleviten mittleren Alters, die in Gesprächen über ihre Herkunft berichten, wie man sich zurückhalten musste, damals in der Türkei, wie man gelernt hatte, nicht zu viel zu sagen, um unter den Sunniten nicht aufzufallen, um sich nicht unbeliebt zu machen und sich womöglich in Gefahr zu bringen. Dabei fällt gelegentlich ein Satz (ich habe ihn nicht nur einmal gehört), der ein ebenso überraschendes wie aufschlussreiches Bekenntnis enthält: „Ich wusste zwar, dass ich Alevit bin, ich wusste aber nicht, was das ist.“

Dass es zu einer solchen prekären Situation kommen konnte, hängt mit der alevitischen Geschichte in der Türkei zusammen. Über Jahrhunderte wurden die Aleviten unterdrückt und immer wieder massiv verfolgt. Alevilik (eigentlich „Alevitum“) ist ein moderner Überbegriff für ursprünglich verschiedene „häretische“ Strömungen im Osmanischen Reich, die sich nicht osmanisch-türkisch-sunnitisch vermessen ließen. Sie waren als anatolische Kızılbaş, „Rotköpfe“, bekannt oder sammelten sich ab dem 16. Jahrhundert im Bektaşi-Orden, dessen Namensgeber der Sufimeister Hacı Bektaş Veli (13. Jahrhundert) ist – bis heute eine zentrale Gestalt für Glauben und Lehre der Aleviten. Sie lebten als weitgehend separate Glaubens-, Kultur- und Sozialgemeinschaften in ihren anatolischen Dörfern. Sie pflegten ihre Religiosität in den Cem-Versammlungen mit ihren eigenen Sozialstrukturen. Der Koran hat einen anderen Stellenwert als bei Sunniten, Schariaregelungen haben bei Aleviten keine Geltung, Menschenbild und Gottesverständnis sind tiefgreifend anders als im sunnitischen Islam. Unter sunnitisch-osmanischer Herrschaft sahen die Aleviten sich gezwungen, takiye zu praktizieren, jenes Verbergen der eigenen religiösen Identität, um in einem potenziell missgünstigen Umfeld nicht aufzufallen.

Hinzu kommt, dass die Traditionsvermittlung bis weit ins 20. Jahrhundert hinein überwiegend mündlich erfolgte, insbesondere durch persönliche Unterweisung und durch die Pflege religiösen Liedguts. Erst in jüngerer Zeit bezieht man sich auch auf verschriftlichte Texte, deren Heterogenität und teilweise ungeklärter Status jedoch die sehr unterschiedlichen Interpretationen der eigenen Herkunftsgeschichte widerspiegeln. So kommt es zu unterschiedlichen Einschätzungen der alevitischen Identität. Volksislam, Schamanismus, Schiitentum, Sufismus – das Alevitentum hat aus vielen Quellen geschöpft. So erscheint das Alevitentum als eigenständige Religion, sei es kurdisch-mazdaistischer oder vorislamisch-schamanistischer Prägung, als „wahre Schia“, wenn nicht gar als der „wahre Islam“, oder auch als spezifisch türkische Variante des Islam. Besonders im Hinblick auf Bindungen zum oder Gemeinsamkeiten mit dem Islam divergieren die Meinungen. Gelegentlich werden die religiösen Aspekte auch ganz zurückgedrängt und der philosophische Charakter des Alevitentums im Sinne einer humanitären Ethik hervorgehoben.

Das alles ist seit der Aufgabe der takiye und damit der gesellschaftlichen Zurückhaltung seit 1989 in lebhafter Bewegung, und dies zeitgleich in der Türkei und in Deutschland. Das ist Crux und Chance zugleich. Verbindliche Lehren würden die Vielfalt vielleicht etwas gezähmt haben. In der neu gewonnenen Freiheit liegt jedoch auch die Chance: Die Diasporasituation hierzulande eröffnet neue Entfaltungsmöglichkeiten. Viele Aleviten, die in ihrer Kindheit und Jugend keinen Zugang zu den eigenen Wurzeln hatten (haben konnten!), entdecken nun ihre religiösen und kulturellen Überlieferungen neu, teilweise mit beträchtlichen biografischen Folgen. Erstmals wächst eine selbstbewusste alevitische Generation heran, die freilich zugleich mit den tief sitzenden Prägungen der älter werdenden Generation umgehen muss, für die die Entwicklungen zum Teil schwer nachvollziehbar sind.

Mit einem Schlag hat 2007 ein NDR-„Tatort“ („Wem Ehre gebührt“) die Situation der Aleviten in Deutschland beleuchtet. In dem Krimi vergewaltigt ein alevitischer Vater seine Tochter. Damit wurde der unberechtigte Inzestvorwurf, der jahrhundertelang Aleviten in der Türkei belastete, medial in deutsche Wohnzimmer transportiert und der Eindruck vermittelt, dass Familienmitglieder während der Religionsausübung schamlose Orgien feierten. Die Ereignisse um den „Tatort“ machten aber auch deutlich: Die Aleviten waren inzwischen so gut organisiert, dass sie innerhalb kürzester Zeit rund 20 000 Menschen zum Protestmarsch auf die Straße brachten. Der NDR wurde wegen Volksverhetzung verklagt.

Die Aleviten gelten als gut integriert, der Anteil der Einbürgerungen ist unter ihnen besonders hoch. Sie sind unternehmerisch erfolgreich, sie sind überproportional in der Politik vertreten, sie sind gut organisiert. Rund 130 Vereine haben sich im Dachverband AABF mit Sitz in Köln zusammengeschlossen. Die Alevitische Gemeinde wurde als Religionsgemeinschaft anerkannt. Seit 2002 gibt es einen ordentlichen alevitischen Religionsunterricht nach GG Art. 7,3. Er wird inzwischen in vielen Bundesländern durchgeführt. Dies gehört zu den größten Erfolgen der Alevitischen Gemeinde in Deutschland.

Die konkreten Rückwirkungen auf die Lage in der Türkei wird man erst in der Zukunft angemessen würdigen können. Sie sind schon jetzt erheblich. Der Kampf für die formelle und gesellschaftliche Anerkennung der Aleviten in der Türkei hält jedoch an.

Sivas

„Sivas“ steht in einer Reihe geschichtlicher Ereignisse, Verbrechen an Alevitinnen und Aleviten, die immer wieder und zu Recht in einem Atemzug genannt werden. Ich berufe mich im Folgenden auf Angaben der AABF:

  • Zwischen 1937 und 1939 kamen in Dersim, heute Tunceli, während Strafexpeditionen der türkischen Armee 70 000 Menschen zu Tode, es kam zu massenhaften Zwangsumsiedlungen.
  • 1978 wurden in Maraş in Südostanatolien mehrere hundert Menschen massakriert. 80 Prozent der alevitischen Bevölkerung verließen die Stadt. Die erste Gedenkfeier, die erst 2010 stattfand, wurde massiv attackiert.
  • Am 4.7.1980 ereignete sich in der türkischen Provinz Çorum ein weiteres Pogrom, in dessen Verlauf alevitische Wohnviertel und Dörfer angegriffen und Häuser in Brand gesetzt wurden. 57 Menschen, darunter Kinder und Frauen, kamen ums Leben.
  • 2.7.1993, Sivas: Im Rahmen eines Kulturfestivals zu Ehren des alevitischen Geistlichen und Volksdichters Pir Sultan Abdal kamen 37 Menschen ums Leben, darunter Kultur-, Musik- und Literaturschaffende alevitischen Glaubens, zwei Hotelangestellte und außerhalb des Hotels zwei Täter aus der fanatischen und aufgebrachten Menschenmenge, die die Unterkunft der Künstler und Jugendlichen – das Hotel Madımak in Sivas – umstellte und mit islamistischen Parolen Brandsätze gegen das Hotel warf. 35 Menschen verbrannten gleichsam vor laufenden Fernsehkameras, stundenlang wurde live übertragen. Es gibt Anzeichen mindestens für die Duldung durch staatliche Behörden. Polizei und Rettungskräfte wurden gerufen, griffen jedoch erst nach dem Hotelbrand ein.

Nach einem 19 Jahre andauernden Strafverfahren stellte das türkische Strafgericht in Ankara am 13. März 2012 das Verfahren gegen einige Drahtzieher und Täter des Massakers ein. Die Drahtzieher und die politisch Verantwortlichen waren nicht zurückgetreten. Der Bürgermeister Temel Karamollaoğlu, der Pflastersteine an die Straßenecken vor dem Madımak Hotel transportieren ließ, obwohl keine Bauarbeiten geplant waren, und vor dem Brand zu der Menschenmenge gesprochen hatte, wurde ins Parlament gewählt und als Abgeordneter mit der parlamentarischen Immunität belohnt. Er spielt das Geschehen bis heute bei Fernsehreportagen herunter. Weder 1993 noch später haben türkische Politiker ein öffentliches Beileid ausgesprochen oder die Opfer gewürdigt. Sieben freiwillige Anwälte der Täter sind heute Minister im AKP-Kabinett. Die von der AKP dominierte türkische Justiz erklärte die Taten von vier Tätern für verjährt. Damit sollte auch die Strafe für die verurteilten Täter des Sivas-Massakers verjährt sein, die bis heute unbehelligt in Deutschland leben. Die Auslieferung von neun Straftätern misslang. Die juristische Sachlage ist kompliziert, da (halbherzigen) türkischen Auslieferungsgesuchen von deutschen Behörden offenbar angesichts der Erkenntnislage über die Gerichtsverfahren in der Türkei nicht (einfach) stattgegeben werden kann. Von insgesamt geschätzt 15 000 Demonstranten sind nur 160 verhaftet worden, die meisten wurden wieder freigelassen. 42 wurden verurteilt, 16 Verurteilte wurden gesucht. Die Gesuchten konnten in Sivas ihren Führerschein bekommen, beim Standesamt in Altınyayla-Sivas heiraten, ihren Militärdienst in der Türkei leisten, beim Oberbürgermeister in Istanbul als Kassierer eine öffentliche Stelle antreten – allein die türkischen Sicherheitskräfte konnten sie nicht finden. Andere konnten unbehelligt nach Deutschland oder Frankreich reisen, sie sind weder beim Grenzübergang noch bei der Einreise aufgefallen.

Ein weiteres Ärgernis ist aus alevitischer Sicht, dass die Forderungen, das Hotel Madımak zu einer Gedenkstätte für die Opfer zu machen, nicht umgesetzt wurden. Zwar sind in dem Gebäude inzwischen eine Kinderbücherei und ein Forschungszentrum untergebracht, und im Erdgeschoss ist eine Gedenktafel mit den Namen der Toten zu finden. Die Liste beginnt allerdings mit den Namen der zwei Täter, die mit den ermordeten Opfern den Tod gefunden hatten. Von einer allseits befriedigenden Lösung ist man noch weit entfernt.

Es gab weitere Vorfälle, bei denen Aleviten zu Tode kamen oder verletzt wurden. Für all diese Ereignisse übernimmt die Türkei keine Verantwortung, sie werden von der türkischen Administration bestritten oder blieben ungeklärt.

Schluss

Zurückdrehen lässt sich das Rad der Geschichte nicht. Aber es ist nicht von der Hand zu weisen, was Aleviten über die erwähnten Geschehnisse, so schrecklich sie im Einzelnen gewesen sind, gesagt haben: Sie haben die „alevitische Bewegung“ letztlich gestärkt. Mit dazu beigetragen hat nicht zuletzt die positive und engagierte Haltung vieler Alevitinnen und Aleviten in Deutschland gegenüber ihrer neuen Heimat. Der ehemalige Bundesvorsitzende der AABF, Turgut Öker, hat die Empfindungen vieler 2009 auf den Punkt gebracht, als er sich an die Adresse Deutschlands ausdrücklich bedankte für die Anwerbung von „Gastarbeitern“ aus der Türkei. Und er stellte die Frage: „Was wäre wohl aus uns Aleviten und aus dem Alevitentum geworden, wenn wir in der Türkei geblieben wären?“ Wie immer diese Frage zu beantworten ist, eines kann mit Sicherheit gesagt werden, und das erfüllt die Alevitinnen und Aleviten mit Genugtuung und Zuversicht im Blick auf die Zukunft: Heute können alle, die es wollen – ob sie aus Dersim/Tunceli, aus dem Südosten, aus Maraş, oder auch aus Köln, Stuttgart oder Berlin kommen –, stolz und frei sagen, wie es Ismail Kaplan 1989 formuliert hatte: Ich bin ein Alevit!3


Friedmann Eißler


Anmerkungen

1 „Der ‚Paragraf 301’ ist aus der Wut des Unbeteiligten entstanden“, schreibt Eggers auf seiner Homepage über seinen spannenden Krimi auf der Grundlage der wahren – und teilweise unglaublichen – Vorgänge in und um Sivas (Dortmund 2008). Zu Yeter Gültekin vgl. die bewegende Reportage von Helga Hirsch „Als 15.000 Islamisten Jagd auf Aleviten machten“, in: Die Welt vom 2.7.2013 (www.welt.de/117621279).

2 Thomas Klatt, Aleviten wollen sich nicht mehr verstecken, Deutschlandradio vom 24.6.2013 (www.dradio.de/dlf/sendungen/tagfuertag/2151694).

3 Zum Thema im Zusammenhang der aktuellen Entwicklungen vgl. Friedmann Eißler (Hg.), Aleviten in Deutschland. Grundlagen, Veränderungsprozesse, Perspektiven, EZW-Texte 211, 2., erw. Aufl. Berlin 2013.