Gesellschaft

150 Jahre Jugendweihe

(Letzter Bericht: 6/2002, 189f) Am 4. Mai 2002 luden die drei wichtigsten Anbieter von Jugendweihen, der Dachverband Freier Weltanschauungsgemeinschaften (DFW), der Humanistische Verband Deutschlands (HVD) und die Jugendweihe Deutschland (JWD) zu einem Festakt nach Berlin ein. Unter der Schirmherrschaft des Regierenden Bürgermeisters wurde im Palais am Festungsgraben die 150-jährige Tradition der Jugendweihe gefeiert. Die Wurzeln der Jugendweihe liegen in Mündigkeitsfeiern evangelischer Christen, die sich mittels eines neuen Festes von als inhaltsleer empfundenen Konfirmationsfeiern abgrenzen wollten. Diese Feiern wurden zuerst "Einführung in die Gemeinde", "feierliche Einsegnung" oder "Kindereinführung" genannt - und schon bald "Jugendweihe". Erstmals wurde dieser Begriff wohl am 20. Mai 1852 aus Anlass einer Feier in Nordhausen (Sachsen-Anhalt) verwendet. Darüber berichtet das von dem freireligiösen Prediger - und Pionier des Vegetarismus - Eduard Baltzer (1814 - 1887) herausgegebene Mitteilungsblatt der Freien Gemeinde Halle.

Der Berliner Festakt war die erste gemeinsame Veranstaltung der drei genannten Organisationen. Damit bestätigt sich, was an anderer Stelle bereits angedeutet wurde: Die großen kirchenkritischen Organisationen ebnen den Weg für eine bessere Koordinierung bzw. Bündelung ihrer Kräfte.1

Vor diesem Hintergrund erstaunt es um so mehr, dass der Deutsche Freidenker Verband (DFV), der - wenngleich im bescheidenem Umfang - ebenfalls Jugendweihen anbietet, nicht zugegen war. Ob man diese Abstinenz als bewusste Distanzierung der traditionellen Freidenker deuten kann oder ob diese aus anderen Gründen kein Interesse an dem Festakt hatten, ist für Außenstehende schwer zu entscheiden.

In den Festreden gingen die Präsidenten der beteiligten Verbände bzw. der Vorsitzende des HVD auf die wechselvolle und widersprüchliche Geschichte der Jugendweihe ein. Gemeinsam betonten sie, dass dieses Fest heute seinen Platz in der pluralen Gesellschaft hat. Als Indiz für die Bedeutung der Jugendweihe wurde wiederholt angeführt, dass in diesem Frühjahr der eine millionste Jugendweihling seit 1990 begrüßt werden konnte. Für die JWD reklamierte Werner Riedel mit Nachdruck: "Wir haben Anspruch auf Förderung und Chancengleichheit... Wir haben ganz besonders Anspruch auf Toleranz und Akzeptanz."

In der Pressekonferenz wurde auch über die tragischen Ereignisse in Erfurt gesprochen. Verständlicherweise konnte man keine schnellen Antworten geben. Für den HVD unterstrich dessen Vorsitzender Rolf Stöckel (MdB-SPD) jedoch, dass die gewaltfreie Konfliktlösung eine Grundvoraussetzung für Demokratie und Frieden ist. Mit Blick auf die zentrale Trauerfeier vor dem Erfurter Dom wurde jedoch angefragt, ob es so etwas wie einen "moralischen Alleinvertretungsanspruch" der Kirchen gibt. (In freidenkerischen Kreisen wurde wiederholt moniert, dass eine größere Anzahl der ermordeten Lehrer konfessionslos bzw. nachweislich nichtkirchlicher Gesinnung waren und dennoch für alle eine mehr oder weniger christlich dominierte Feier veranstaltet wurde.)

Knapp eine Woche später fand am gleichen Veranstaltungsort das erste "Maiglockenfest" statt. Zur Erinnerung: Anfang vergangenen Jahres waren einige prominente Politiker (zum Beispiel Günther Nooke, CDU, und Richard Schröder, SPD) mit der Idee an die Öffentlichkeit getreten, als Alternative zu den atheistisch geprägten Jugendweihen ein bürgerliches "Maiglockenfest" etablieren zu wollen (vgl. MD 3/2001, 104f). Schon vor einem Jahr wurden kritische Stimmen laut, die fragten, welchen "Sitz im Leben" ein solches Fest haben könne. Jetzt zeigt sich, wie berechtigt diese Bedenken waren: Zum ersten Maiglockenfest hatten sich lediglich neun Jugendliche angemeldet. Wie man hört, kursierte sogar das Gerücht, eine "Sekte" würde am prominenten Ort feiern wollen. Die Festrede zum ersten Maiglockenfest hielt Richard Schröder.

Andreas Fincke

Anmerkung

1Vgl. Andreas Fincke: Freidenker - Freigeister - Freireligiöse. Kirchenkritische Organisationen in Deutschland seit 1989, EZW-Text Nr. 162, Berlin 2002, 20f.