Wittenberger „Judensau“ darf hängen bleiben – vorerst

„Mahnmal oder Beleidigung?“ Über diese Frage entschied zuletzt das OLG Naumburg mit Blick auf die „Judensau“ an der Wittenberger Stadtkirche. Jeannine Kunert wirft einen kritischen Blick auf diesen Rechtsstreit sowie auf den Umgang mit historischem Antisemitismus in Deutschland.

Jeannine Kunert
Ansicht von Wittenberg mit dem Marktplatz und der Stadtkirche St. Marien

Am 4. Februar 2020 befand das Oberlandesgericht (OLG) Naumburg, dass das mittelalterliche Relief aus dem 13. Jahrhundert an der Wittenberger Stadtkirche, das eine sogenannte Judensau darstellt, weiterhin Bestandteil der Kirche sein darf. Im Jahr 1570 wurde darüber zusätzlich in Bezug auf den unaussprechlichen Namen Gottes die Inschrift „Schem Ha Mphoras“ hinzugefügt, die an die antijüdische Schrift Martin Luthers „Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi“ (1543) erinnert. Damit wurde der bildsprachlichen Verhöhnung des Judentums eine textsprachliche hinzugefügt. In seiner jetzigen Einbettung in ein Mahnmal, so das OLG, stelle es keine Beleidung in einem juristischen Sinne mehr dar. 

Der Kläger, Michael Dietrich Düllmann, sieht allerdings genau dies darin: eine Beleidigung seines jüdischen Glaubens und einen Verstoß gegen seine Persönlichkeitsrechte. Der Bonner ist der Meinung, die Schmähplastik gehöre in ein Museum, symbolisiere sie doch den alltäglichen Antisemitismus in der Kirche und der Gesellschaft und befördere diesen. Auch die Beklagte, die Evangelische Stadtkirchengemeinde Wittenberg, ist sich des schwierigen Erbes der Plastik bewusst, bevorzugt jedoch einen öffentlichen Diskurs und die gesellschaftliche Auseinandersetzung am Originalplatz. Dafür setzt sie sich im Rechtsstreit ein. 

Seit 1988 wird das Relief von einem Mahnmal in Form einer Bodenplatte gerahmt. Die Kirchengemeinde distanziert sich ausdrücklich von der Bildaussage des Reliefs. Das Mahnmal soll, wie der Stadtkirchenpfarrer Johannes Block betont, zukünftig weiterentwickelt und so die Erinnerungskultur gestärkt werden. Das Angebot, daran mitzuwirken, lehnte der Kläger ab. Allerdings steht Block darüber im Gespräch mit dem Zentralrat der Juden. Zudem wird in Kooperation mit der Stiftung Leucorea (Universität Halle-Wittenberg) an einem Projekt gearbeitet, das sich mit Gedenkkultur und der Geschichte der Schmähplastik auseinandersetzt. 

Zahlreiche Historiker sind der Meinung, dass Luthers Antijudaismus maßgeblich zur Ausbildung des Antisemitismus in Deutschland beitrug. Im derzeit zu beobachtendem Streit wird daher nicht zuletzt eine Verbringung des Reliefs in das Lutherhaus in Wittenberg gefordert. Inwieweit es sich hier um eine Engführung der eigentlichen Geschichte der Plastik und ein Abschneiden der öffentlichen Auseinandersetzung handeln würde, bleibt weiter zu diskutieren. Ebenso wie die Frage, ob in der Konsequenz alle historischen antisemitischen Symbole aus dem öffentlichen Raum entfernt oder besser vor Ort historisiert und kritisiert werden sollten. Hierin zeigt sich die Gesellschaft gespalten. So trat beispielsweise der Antisemitismusbeauftrage der Bundesregierung Felix Klein für eine Abnahme der Plastik von der denkmalgeschützten Fassade ein. Der Präsident des Zentralrats der Juden Josef Schuster dagegen akzeptiert das juristische Urteil und sprach sich für eine stärkere historische Kontextualisierung am konkreten Ort aus.

Der 9. Zivilsenat des OLG Naumburg ließ eine Revision vor dem Bundesgerichtshof zu, womit das Urteil noch nicht rechtskräftig ist. Bereits zuvor hatte Düllmann angekündigt, den juristischen Weg fortzusetzen.

Jeannine Kunert