Neue Studie untersucht Befinden nach dem Ausstieg aus christlich-fundamentalistischen Gruppen

Eine große religionspsychologische Studie hat Eigenschaften beschrieben, die den Ausstieg aus einer christlich-fundamentalistischen Gruppe erleichtern können.

Michael Utsch
Ein Umfragebogen wird ausgefüllt

Über die Befindlichkeit von Personen, die christlich-fundamentalistische Gruppen verlassen haben, existieren nur wenige wissenschaftliche Befunde. Die bisherige Forschung zu AussteigerInnen oder Ausgeschlossenen hat gezeigt, dass sich häufig depressive Symptome, Schuldgefühle, Ängste, ein geringeres Selbstwertgefühl, Einsamkeit, soziale Isolation und manchmal sogar Suizidgedanken einstellen können. Vor kurzem wurde eine Studie veröffentlicht, die im Rahmen einer Masterarbeit 15 ausgestiegene „Sektenkinder“ untersucht und auf den hohen psychosozialen Unterstützungsbedarf der Betroffenen hingewiesen hat (ZRW 84/2021, 32–43). Die Art der Gewinnung und der schmale Umfang der Stichprobe sowie der unklare Sektenbegriff schmälern aber den Wert der Studie.

Entgegen dieser Studie haben frühere Erhebungen, etwa der Enquete-Kommission „Sog. Sekten“, ergeben, dass sich eine Mitgliedschaft nicht zwingend problematisch und einengend auswirken muss. Eine temporäre Zugehörigkeit zu einer geschlossenen Gruppe erleben manche auch als hilfreich. Das Modell der Kult-Bedürfnis-Passung kann erklären, warum die strikten Vorgaben geschlossener Gemeinschaften phasenweise Antworten auf individuelle und soziale Lebensprobleme und Sinnfragen bieten und damit stabilisierend wirken können.

Eine neue Untersuchung unter Leitung der Züricher Stressforscherin Myriam Thoma hat nun im größeren Umfang untersucht, wie ehemalige Mitglieder christlich-fundamentalistischer Gruppen mit ihrer neuen Lebenssituation zurechtkommen. Die nach eigenen Angaben erste und größte Studie zum Wohlbefinden nach einem Sektenausstieg hat sich vor allem dafür interessiert, wovon die Zufriedenheit eines Lebens ohne intensive Gruppenbindung abhängt.

Anders als die oben genannte Masterarbeit, in der zur Datengewinnung aufwändige Interviewanalysen durchgeführt wurden, setzte die Züricher Forschungsgruppe bewährte Fragebögen zum Stresserleben, Wohlbefinden und Gesundheitszustand ein. Insgesamt konnten die Daten von 622 Teilnehmenden aus deutschsprachigen Ländern verwendet werden, wovon zwei Drittel weiblich waren. Im Durchschnitt waren die teilnehmenden Personen 41 Jahre alt; die jüngste Person war zum Zeitpunkt der Datenerhebung 19 und die älteste 83 Jahre alt. Die meisten waren ehemalige Mitglieder von Jehovas Zeugen (68%), gefolgt von verschiedenen Freikirchen (9%), Pfingstgemeinden (3%) und anderen Gemeinschaften (20%). Die Mehrheit der Teilnehmenden wurde in die jeweilige Gemeinschaft hineingeboren. Während ihrer Zugehörigkeit vermieden über zwei Drittel der Teilnehmenden den Kontakt zu Nichtmitgliedern, Freunde und Familie eingeschlossen. Die meisten Personen verließen die Gemeinschaft freiwillig, nur 16 Prozent wurden ausgeschlossen. Mehr als die Hälfte verließ die Gemeinschaft zur selben Zeit wie eine ihnen nahestehende Person. Ebenfalls mehr als die Hälfte der Teilnehmenden gab zudem an, sich sozial gut unterstützt und emotional betreut gefühlt zu haben, als sie die Glaubensgemeinschaft verließen bzw. ausgeschlossen wurden. Dieser Befund erstaunt, weil viele Betroffenenberichte hier ein anderes Bild zeichnen. Dennoch stellen die Forscher heraus, dass ein Ausstieg riskant sei. Er sei aber bei dieser Stichprobe von den meisten Teilnehmenden als Chance zur Weiterentwicklung genutzt worden.

Was ihren allgemeinen Gesundheitszustand betrifft, berichteten etwa zwei Drittel der Personen rückblickend von einer verbesserten psychischen und fast die Hälfte von einer verbesserten körperlichen Gesundheit nach dem Austritt oder Ausschluss. Im Vergleich dazu berichtete etwa ein Drittel im Rückblick von einer Verschlechterung der psychischen und ein Fünftel von einer Verschlechterung der körperlichen Gesundheit. Die Forschergruppe interpretiert diesen Befund so, dass der Austritt oder ein Ausschluss von solchen religiösen Gruppen eine Lebenskrise darstellt, die starken Einfluss auf das Wohlbefinden hat. Allerdings zeigt die Studie auf, wie stark das Wohlfinden von den individuellen Persönlichkeitsfaktoren der Betroffenen abhängt. Kurz gesagt: Mache kommen mit einem Ausstieg erstaunlich gut zurecht, andere überhaupt nicht. Besonders förderlich zeigten sich Persönlichkeitseigenschaften wie höhere emotionale Stabilität, Extravertiertheit oder ein stabiles Selbstwertgefühl. Wenig erstaunlich ist der Befund, dass soziale Unterstützung ein wichtiger Faktor ist, der die Widerstandkraft von Personen in hohem Ausmaß stärkt.

Die neue Studie beschreibt eine große Bandbreite, wie ehemalige Mitglieder nach einem Austritt bzw. Ausschluss aus einer fundamentalistischen christlichen Glaubensgemeinschaft mit ihrer neuen Lebenssituation umgehen. Demnach hängt das Wohlbefinden nach einem Ausstieg/Ausschluss mit unterschiedlichen Faktoren zusammen. Einige dieser Faktoren sind bis zu einem gewissen Grad durch die Personen selbst beeinflussbar, z. B. die Fähigkeit, unterschiedliche Perspektiven zu übernehmen oder Sinnzusammenhänge im größeren Kontext zu verstehen. Diese potenziell veränderbaren Faktoren stellt die Forschungsgruppe als günstige Ansatzpunkte vor, die genutzt werden können, um ehemalige Mitglieder auf der Suche nach einer neuen inneren Balance und einem neuen Wohlbefinden ohne die Gruppenzugehörigkeit zu unterstützen. Die sorgfältig durchgeführte Studie bietet Hinweise für die Ausstiegsbegleitung und verschweigt dabei nicht, dass manche Ausstiegsprozesse aus fundamentalistischen Gruppen kompliziert verlaufen und psychosoziale Unterstützung benötigen. Vertiefend wären weiterführende Einzelfallstudien wichtig, die besser verständlich machen, welche Gruppenstrukturen für welche Persönlichkeitseigenschaften hilfreich oder hinderlich sind.


Michael Utsch

 

Quelle

Myriam V. Thoma u.a.: Identifying well-being profiles and resilience characteristics in exmembers of fundamentalist Christian faith communities. Stress and Health 1/2022, zugänglich unter https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1002/smi.3157

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Foto Dr. Michael UtschProf. Dr. phil. Michael Utsch
Wissenschaftlicher Referent
Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen
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