Neue Diskussionen um den Körperschaftsstatus von Jehovas Zeugen

Im Jahr 2006 verlieh der Berliner Senat der Religionsgemeinschaft „Jehovas Zeugen“ den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts. Dem folgen mittlerweile alle Bundesländer. Ein Urteil des Züricher Bezirksgerichts, das seit Februar 2020 rechtskräftig ist, hat nun neue Diskussionen über die Rechtmäßigkeit dieser Einschätzung auch in Deutschland entfacht.

Michael Utsch
Jehovas Zeugen, Außenansicht Gebäude Königreichsaal

Nach einem fünfzehnjährigen Rechtsstreit hat der Berliner Senat im Jahr 2006 der Religionsgemeinschaft „Jehovas Zeugen“ den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts (KdöR) verliehen. Dem folgten nach zahlreichen intensiven regionalen Gerichtsverfahren mittlerweile alle Bundesländer, zuletzt 2017 Nordrhein-Westfalen (vgl. MdEZW 3/2017, 104f). Ein Urteil des Züricher Bezirksgerichts, das seit Februar 2020 rechtskräftig ist, hat nun neue Diskussionen über die Rechtmäßigkeit dieser Einschätzung auch in Deutschland entfacht. 

Ein Kommentar der kirchenkritischen Giordano-Bruno-Stiftung plädierte kürzlich mit differenzierten juristischen Argumenten dafür, den KdöR-Status der Religionsgemeinschaft rückgängig zu machen. Dies sei nötig, weil die Voraussetzungen zur Verleihung der damit verbundenen Rechte und Vorteile („Privilegienbündel“) nicht vorlägen und nie vorgelegen hätten. Die Entscheide der deutschen Verwaltungsgerichte widersprächen in mehreren zentralen Punkten den präzisen Tatsachenwürdigungen des Züricher Bezirksgerichts. Auf Grundlage der klaren Argumentation müssen man zu dem Ergebnis kommen. „dass sich auch die Zeugen Jehovas Deutschland systematisch grundrechtswidrig verhalten. Die religiösen Bestimmungen insbesondere hinsichtlich der Ächtung auch innerhalb der Kernfamilie, der Begünstigung des sexuellen Missbrauchs sowie des faktischen Zwangs der Ablehnung lebenserhaltender Maßnahmen verletzen die Grundrechte der Gläubigen und ihrer Angehören“, so der Kommentar (S. 5). Dieser Vorstoß ist bemerkenswert, weil Jehovas Zeugen schon oft aus theologischen Gründen von den beiden großen Kirchen kritisiert wurden, nicht aber so massiv und grundsätzlich von einer atheistischen Position aus in Frage gestellt wurden. 

Viele Betroffenenberichte, erschütternde Biografien und empirische Studien belegen das pathologische Potenzial einer Mitgliedschaft bei Jehovas Zeugen (z.B. Will Cook, Rainer Ref (Hrsg.): Aus erster Hand – ehemalige Zeugen Jehovas und Mitbetroffene berichten. Mossel Bay 2014; Stefanie de Velascos: Kein Teil der Welt. Hamburg 2019; Hege Kristin Ringnes u.a. : End Time and Emotions: Emotion Regulation Functions of Eschatological Expectations among Jehovah’s Witnesses in Norway. Journal of Empirical Theology 32/2019, 105–137). Auch Blogs und Videos liefern aufrüttelnde Geschichten (z.B. https://anchor.fm/dina-hellwig7 oder  https://www.youtube.com/watch?v=fO-AvKq4BSE). Es wäre wünschenswert, wenn die nüchtern-sachlich vorgetragenen juristischen Gründe Anlass sind, die Rechtsprechung auf Grundlage der aktuellen Tatbestände noch einmal zu prüfen. Weil Jehovas Zeugen die mit dem Status verbundenen Vorteile auch gar nicht nutzen, sollte der Grundrechtschutz der Mitglieder wichtiger sein als das Image einer Körperschaft. 
     
Michael Utsch

„Muss den Zeugen Jehovas der KdöR-Status in Deutschland entzogen werden?“
https://weltanschauungsrecht.de/meldung/schweizer-urteil-zeugen-jehovas-konsequenzen-deutschland
 

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Foto Dr. Michael UtschProf. Dr. phil. Michael Utsch
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