Echte Distanzierung oder „Betroffenheits-Folklore“?

Nach den islamistisch motivierten Anschlägen in Paris, Nizza und Wien wurden nicht nur muslimische Verbände in Deutschland dazu aufgefordert, sich von den im Namen ihrer Religion verübten Taten zu distanzieren, sondern auch der interreligiöse Dialog sah und sieht sich kritischen Anfragen ausgesetzt. Alexander Benatar berichtet über eine Online-Diskussion der Evangelischen Akademie zu Berlin.

Alexander Benatar
Ansicht der Stadt Wien mit dem Stephansdom

Nach den islamistisch motivierten Anschlägen in Paris, Nizza und Wien wurden nicht nur muslimische Verbände in Deutschland dazu aufgefordert, sich von den im Namen ihrer Religion verübten Taten zu distanzieren, sondern auch der interreligiöse Dialog sah und sieht sich kritischen Anfragen ausgesetzt. Zum Teil wurde christlichen DialogpartnerInnen gar ein naiver „Kuscheldialog“ vorgeworfen, der „unbequemen Fragen“ lieber aus dem Weg gehe, statt sie deutlich anzusprechen. Diese Beobachtung griff die Evangelische Akademie zu Berlin auf und lud am Freitagabend, den 27. November zu einem Online-Abendforum mit Diskussion zum Thema „In Gottes Namen?! Was Terror mit uns zu tun hat – muslimische und christliche Reaktionen auf islamistischen Terrorismus in Europa“. Zu Gast waren neben Carla Amina Baghajati, Leiterin des Schulamts der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) und Murat Kayman, Gründungsmitglied der Alhambra Gesellschaft und früherer Justiziar des DITIB-Bundesverbands auch Prof. Dr. Wolfgang Reinbold, Beauftragter für Kirche und Islam der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers sowie Vorsitzender des interreligiösen Dialog-Projekts „Haus der Religionen“ (vgl. MD 3/2020).

Eröffnet wurde der Abend durch die Moderatorin Dr. Sarah Albrecht, Studienleiterin für Theologie und Interreligiösen Dialog der Evangelischen Akademie zu Berlin, die Carla Amina Baghajati um eine Schilderung der muslimisch-christlichen Reaktionen auf den islamistischen Anschlag in Wien bat. In ihrer Antwort verwies Baghajati auf die generell gute interreligiöse Zusammenarbeit in Österreich. Sofort nach der Anschlagsnacht habe die Einstellung vorgeherrscht „Wir lassen uns nicht spalten!“ In den folgenden Tagen habe es eine live übertragene interreligiöse Gedenkveranstaltung im Wiener Stephansdom sowie einen interreligiösen Gedenkmarsch an den Orten des Attentats gegeben. Sie gab jedoch auch zu bedenken, dass es nach einem tödlichen Attentat, bei dem ein Täter sich auf den Islam beruft, auch einer genauen Analyse bedürfe, worin genau dies religiös begründet sein könnte.

Letztere Überlegung griff auch Murat Kayman auf. Sich als MuslimIn angesichts eines islamistischen Attentats einfach darauf zu berufen, dass Islam doch eigentlich „Frieden“ bedeute, ein solcher Angriff also nichts mit dem Islam als Religion zu tun haben könne, genüge nicht – zumal bestimmte Menschen nach tödlichen Anschlägen stets eine Art „stiller Hoffnung“ hegten, dass diese islamistisch motiviert sein mögen (vgl. unten das ze.tt-Interview mit Saba-Nur Cheema). Auch seitens vieler islamischer Verbände beobachtete Kayman eine gewisse Ratlosigkeit. Diese trügen zwar keine direkte Verantwortung für die Tat als solche, aber doch eine Mitverantwortung dafür, dass MuslimInnen in Europa nicht mit dem Selbstverständnis aufwüchsen, in „Feindesland“ zu leben. Wolfgang Reinbold ergänzte diesen Gedanken: Die Distanzierung muslimischer Verbände sei zwar wichtig, es brauche aber auch eine islamisch-theologische Aufarbeitung islamistischen Terrors, analog vielleicht zur Aufarbeitung antisemitischer Inhalte der christlichen Theologie nach der NS-Zeit.

Der Blogger Murat Kayman unterstrich dies nachdrücklich. Islamistische Attentäter stellten die Nähe ihrer Taten zum Islam bewusst her. Entsprechend sei von muslimischen Verbänden mehr gefordert als ein gebetsmühlenartiges „wir verurteilen aufs Schärfste“. Dies sei kaum mehr als „Betroffenheits-Folklore“, so Kayman. Stattdessen sollten die Verbände, die eine große öffentliche Wirkung und Reichweite hätten, klar artikulieren: „Wir stehen mit der Gesellschaft, in der Gesellschaft, gegen den Täter!“ Er vermisse solche Äußerungen, die eine explizite Nähe der Verbände zur Gesellschaft herstellten und so überwinden könnten, dass sie weiterhin als „Fremdkörper“ wahrgenommen würden. Andererseits hat die in den vergangenen Jahren geführte Debatte, ob „der Islam zu Deutschland gehöre“ diesen Eindruck natürlich verstärkt und man kann die Aufgabe, sich gesellschaftlich zugehörig zu fühlen und entsprechend zu agieren, nicht einseitig nur den MuslimInnen aufbürden. Seitens der muslimischen Verbände sei neben Distanzierung auch ein klarer Widerspruch gegen islamistische Anschläge nötig, ergänzte Wolfgang Reinbold die Mahnung seines Vorredners. Gleichzeitig sollten sie nicht verleugnen, dass es auch durchaus AkteurInnen gebe, die genau solche religiös begründete Gewalt mit theologischen Begründungen dezidiert befeuern, so Reinbold und verwies dabei etwa auf die entsprechenden Äußerungen des türkischen Präsidenten.

Als einen Ort, solchen Einflüssen wirksam zu begegnen, identifizierte Carla Amina Baghajati die Schule. Islamischer Religionsunterricht müsse auch Demokratiekunde sein, so die Lehrerin. An diesen pädagogischen Ansatz zur Extremismus-Prävention knüpfte auch Murat Kayman an. Ein wesentliches Problem seien die auf beiden Seiten vorherrschenden „Überlegenheitserzählungen“: MuslimInnen blickten auf die scheinbar hedonistische und promiskuitive „Mehrheitsgesellschaft“ herab und diese wiederum auf die MuslimInnen als rückständig und gewalttätig. Dabei käme es doch „nicht darauf an, was ich glaube, sondern wie ich mich verhalte in dieser Gesellschaft!“, betonte Kayman, der mit dem Stichwort „Überlegenheitserzählung“ aus Sicht eines Zuschauers das „Lernwort des Abends“ eingebracht hatte. Zugleich schloss er damit auch an aktuelle Debatten zur derzeit immer wieder konstatierten gesellschaftlichen Spaltung an, in denen häufig die Frage nach widersprüchlichen Perspektiven bzw. „Narrativen“ aufgeworfen wird.

In der Abschlussrunde bat Sarah Albrecht ihre Gäste um eine Reaktion auf den zuletzt erhobenen Vorwurf, christliche VertreterInnen begegneten ihren muslimischen GesprächspartnerInnen allzu oft unkritisch. Nicht alle Probleme würden auch öffentlich angesprochen, entgegnete dem Wolfgang Reinbold und stellte fest: „Wir sind Geschwister. Wir finden viel Gemeinsames, aber wir können uns auch streiten.“ Und Baghajati ergänzte: Gerade für in ihren jeweiligen Religionsgemeinschaften engagierte Frauen könne der interreligiöse Dialog wichtige Diskussionsräume eröffnen, die ihnen in ihren Gemeinschaften selbst mitunter verschlossen blieben. Murat Kayman mahnte außerdem zu Differenzierung und erinnerte daran, dass vermeintlich klare gesellschaftliche Grenzziehungen tatsächlich meist deutliche Schattierungen aufwiesen. So seien noch während des islamistischen Attentats in Wien auch muslimische Österreicher ihren bedrohten MitbürgerInnen zu Hilfe geeilt. Die pauschale Verurteilung konservativer MuslimInnen hielt er ebenso für verfehlt. Religiös konservativ zu sein bedeute nicht, sich nicht konstruktiv in die Gesellschaft einbringen zu können.

Wolfgang Reinbold stimmte dem zu und forderte eine scharfe Unterscheidung zwischen konservativen MuslimInnen und dem Islamismus. Insofern wäre es auch falsch, würde man sich im interreligiösen Dialog allein an liberale MuslimInnen wenden. Wichtiger als die Strenge der religiösen Praxis sei doch das Bekenntnis zur gemeinsamen Verfassungskultur. „Unser Staat lebt davon, dass Menschen sich in ihn einbringen“, erinnerte abschließend auch der Jurist Kayman in Anlehnung an das Böckenförde-Theorem. Man dürfe MuslimInnen einen politischen Gestaltungswillen daher nicht rundheraus verbieten. Dieser könne sogar durchaus auch aus der islamischen Religion motiviert sein, so Kayman und nannte als Beispiel die muslimische Almosengabe „Zakat“, die übersetzt in womöglich auch aktuell relevante politische Forderungen etwa dazu führen könnte, dass MuslimInnen sich religiös begründet für die Einführung einer Vermögenssteuer einsetzen. Vor diesem Hintergrund sei auch das verbreitete Schlagwort „politischer Islam“ kritisch zu hinterfragen.

Mit diesem Appell zur kritischen (Selbst)Reflektion endete ein Diskussionsabend, der nicht nur einmal mehr illustrierte, dass anspruchsvolle und hochaktuelle gesellschaftspolitische Debatten auch virtuell geführt werden können, sondern auch den dringenden Bedarf nach Differenzierung im Dialog in Erinnerung rief. Komplexe Probleme brauchen komplexe Antworten. Die einfachsten Lösungen sind selten die besten und vorurteilsbehaftete Pauschalisierungen für das gemeinsame Ringen der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften um ein friedliches Miteinander kaum förderlich.

Alexander Benatar


Zur vertiefenden Lektüre:

- Der Link zur Veranstaltung: https://www.eaberlin.de/seminars/data/2020/rel/in-gottes-namen-was-terror-mit-uns-zu-tun-hat/.

Außerdem noch interessant:
- „Islamisten und Rechtsextreme brauchen einander“, ein Interview mit Saba-Nur Cheema, Programmleiterin der Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank, abrufbar auf: https://ze.tt/nach-anschlag-in-wien-islamisten-und-rechtsextreme-brauchen-einander/ und
- „Kommt die Gewalt aus dem Islam? Zehn Behauptungen und zehn Antworten“, ein Beitrag von Ahmad Milad Karimi, Professor am Zentrum für Islamische Theologie in Münster, abrufbar auf: https://www.uni-muenster.de/ZIT/Personen/Professoren/personen_karimi_milad.shtml.

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Foto Dr. Alexander BenatarDr. phil. Alexander Benatar
Wissenschaftlicher Mitarbeiter
Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen
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