Tödliche Therapiesitzung
Ein niedergelassener Facharzt für Allgemeinmedizin hat im September 2009 im Rahmen einer „psycholytischen Gruppentherapie“ in Berlin den meisten der zwölf Gruppenteilnehmer bewusstseinserweiternde Drogencocktails verabreicht. Aufgrund einer Überdosis Ecstasy verstarben zwei Teilnehmer, und viele Verletzte sind zu beklagen. Gegen den Arzt wurde Haftbefehl erlassen. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Mediziner unter anderem zweifachen Mord, mehrfache gefährliche Körperverletzung und Drogenhandel vor.
In der „psycholytischen Therapie“ wird mit psychoaktiven Substanzen gearbeitet – angeblich, um traumatische Erlebnisse stärker empfinden und verarbeiten zu können. Ein Begründer dieser Behandlungsmethode ist Stanislav Grof, nach dessen Lehre der Berliner Arzt gearbeitet haben soll. Dem 1931 in Prag geborenen Psychiater Grof geht es in seinen Behandlungen darum, die Identifikation mit einem persönlichen Schicksal aufzulösen und hineinzufinden „in eine neue Identität als eines Wesens, dessen Sein viele Leben umspannt“ (Kosmos und Psyche, Frankfurt 2000, 251). Die spekulativen Lehren von Karma und Reinkarnation bilden eine wesentliche Säule der Transpersonalen Psychologie, zu deren Mitbegründern Grof zählt (vgl. www.ekd.de/ezw/Lexikon_1900.php). Durch „Rückführungen“ in angeblich frühere Leben – unterstützt durch Atemtechniken, geführte Imaginationen, laute Musik, Tanz oder gar Drogen – sollen karmische Belastungen aufgelöst werden, die als Ursache für aktuelle seelische Störungen angesehen werden.
Der Berliner Arzt arbeitete mit seiner Ehefrau zusammen, mit der er vier Kinder hat und die als Heilpraktikerin tätig ist. Beide waren Referenten einer „Therapeutisch-tantrisch-spirituellen Universität“ in der Schweiz. Dort hat sich eine spirituelle „Kirschblütengemeinschaft“ unter der Leitung des umstrittenen Arztes Samuel Widmer gebildet. In der Kommune leben nach eigenen Angaben 75 Erwachsene und 60 Kinder (vgl. dazu www.relinfo.ch/widmer/index.html) Widmer hat mit abstrusen Theorien über einen „ehrbaren Inzest“ von sich reden gemacht. Für Juni 2010 ist ein Seminar von Widmer in der Berliner Arztpraxis angekündigt.
Nach den tödlichen Folgen dieses riskanten Therapieansatzes stellen sich einige Fragen:
• In einer fachlichen Psychotherapie werden niemals bewusstseinserweiternde Techniken oder gar illegale Drogen eingesetzt. Psychotherapie soll Menschen befähigen, selbstbestimmt zu handeln – die Verabreichung von Drogen ist das Gegenteil und selbstverständlich von den Kassen nicht zugelassen. Aber warum ist es laut Berliner Ärztekammer nicht möglich, einem approbierten Arzt zu verbieten, auch obskure Heilmethoden als „besondere Therapieverfahren“ anzubieten und auszuüben? Hier sind dringend Verbesserungen des Patientenschutzes nötig.
• Während traditionelle Sekten wie die Zeugen Jehovas in Europa keinen nennenswerten Zuwachs verzeichnen, erleben therapeutische Kleingruppen und spirituelle Heilungsangebote auf dem Psychomarkt vermehrt Zulauf (vgl. MD 5/2008, 163ff, und MD 6/2008, 203ff). Esoterisches Gedankengut und bewusstseinserweiternde Techniken werden hier vielfältig eingesetzt. Die Grenzen zwischen einem therapeutischen Heilverfahren und einem spirituellen Heilsangebot sind jedoch strikt zu wahren, um die fachlichen Qualitätskriterien zu erfüllen. In Berlin und anderswo praktizieren noch mehr Ärzte und approbierte Psychotherapeuten mit spirituellen Behandlungsmethoden. Wann greifen die Ärzte- und Psychotherapeutenkammern ein?
• Das seit zehn Jahren gültige Psychotherapeutengesetz hat dazu beigetragen, auf dem Psychomarkt die Spreu vom Weizen zu trennen. Immer noch wird aber die Zulassung zum „Heilpraktiker für Psychotherapie“ als Nische genutzt, um psychotherapeutisch tätig zu werden. Die Heilpraktikerprüfung beim Gesundheitsamt genügt jedoch den Erfordernissen der verantwortungsvollen psychotherapeutischen Tätigkeit längst nicht mehr. Wie lange dauert es noch, bis das Heilpraktikergesetz, das aus dem Jahr 1939 (!) stammt, den heutigen Bedingungen angepasst wird
Michael Utsch