Ásatrú (germanische Neuheiden)

Ásatrú (pl. Ásatrúar; von altnordisch áss bzw. æsir [pl.]: Asen und trú: Treue, Gelöbnis, Glaube) ist eine Wortneuschöpfung, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Skandinavien entstand. Sie bezeichnet den „Glauben an die Asen“ bzw. das gegenseitige Treueverhältnis zwischen dem aus dem altisländischen Versepos Edda bekannten Göttergeschlecht der Asen und den Gläubigen. Es ist neben „Alter Weg“, „Alte Sitte“ die häufigste Selbstbezeichnung einer neuen religiösen Bewegung, die auf Englisch auch als Heathenry (Untergruppe des Paganism, beides heißt auf Deutsch „Heidentum“) und religionswissenschaftlich auch als germanisches Neuheidentum bzw. neugermanisches Heidentum bekannt ist. Viele Anhänger lehnen den Zusatz „neu“ ab, da sie sich nicht als neue, sondern als wiederbelebte alte Religion verstehen.

Als „Heiden“ (lat. pagani, engl. heathen) wurden aus christlicher Sicht die religiös Anderen bezeichnet. Es handelt sich um einen identitätssichernden Begriff zur Unterscheidung der eigenen Gruppe vom Fremden anhand religiöser Kriterien. Auch andere Religionen mit universalem Geltungsanspruch kennen ähnliche Unterscheidungen und Begriffe: Arabisch kuffār (Ungläubige, vgl. „Kaffer“) und dschāhilīya (Unwissen) im Islam, hebräisch gojim (Völker) im Judentum, in der Septuaginta als ethnê und in der Vulgata als gentes bzw. gentiles wiedergegeben.

Der Begriff „Heidentum“ zur Bezeichnung fremder Religionen verlor nach 1945 im Zuge der Selbständigwerdung junger Kirchen, der Entkolonialisierung und der gesellschaftlichen, politischen und der damit einhergehenden theologischen Veränderungen im Verhältnis zu anderen Religionen rapide an Akzeptanz. Er ist heute wegen seiner pejorativen Bedeutung ungebräuchlich und lebt nur in religions- und missionsgeschichtlicher Terminologie sowie als Selbstbezeichnung fort. (Neu)heiden nutzen die abgrenzende und abwertende Bedeutung, um mit dem Begriff ihre Rolle als Unterdrückte im Gegenüber zur mächtigen Großreligion zu betonen.

Ásatrú ist wie Wicca (Initiatorisches Hexentum) und Neo-Schamanismus eine Unterströmung des Neuheidentums, aber stärker gemeinschaftsorientiert und weniger urban als diese (vgl. Calico 2018). Die Bewegung will in der Moderne autochthone vorchristliche Stammesreligionen wiederbegründen. Bei Ásatrú bezieht sich diese Wiederbelebung auf Kultur, Mythologie und Glaubenswelt der Germanen bzw. der Skandinavier (Parallelen in anderen Ländern knüpfen an slawische, griechische oder kanaanäische Religionen an).

Allen neuheidnischen Bewegungen ist gemeinsam, dass sie fast nur im westlichen Kulturraum auftreten. Ásatrúgruppen gibt es v. a. in Island, Norwegen, Schweden, Dänemark, Deutschland, den Niederlanden, Belgien und Britannien sowie unter der europäischstämmigen Bevölkerung in den USA und Australien. Die jeweils unterschiedliche Konstellation von Herkunfts- bzw. Abstammungsgemeinschaft und die (fehlende) Autochthonie moderner Anhänger bedingen unterschiedliche Akzente in Selbstverständnis und Lehre. Ásatrúar in ehemaligen europäischen Siedlungskolonien müssen sich notgedrungen stärker auf ihre Abstammung und weniger auf buchstäbliche „Bodenhaftung“ berufen, wenn sie sich am Wiederbeleben des „Alten Weges“ versuchen.

Aufgrund der Vielfalt von Gruppen in verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen ideologischen Grundlagen bis in die Kernbereiche des Glaubens hinein und eines hohen Grades an Individualismus gelten nur wenige Aussagen universal und ausnahmslos für alle Ásatrúar.

Geschichte

Geistige Wegbereitung für die Bewegung leisteten die nationalromantischen Aufbrüche in Europa im späten 18. und 19. Jahrhundert, die eine Neubesinnung auf die Ahnen als Mittel zur nationalen und demokratischen Einigung ihrer Länder propagierten (in Deutschland z. B. die Gebr. Grimm). Hier wurde mithilfe von Sagen, Liedern, Brauchtum, Archäologie, Historiografie (Caesar, Tacitus) und Linguistik (indogermanische Sprachgruppe) eine gemeinsame germanische Vorfahrenkultur in Zentral- und Nordeuropa rekonstruiert, an welche heutige Ásatrúar anknüpfen. Die Existenz einer gemeinsamen großräumigen germanischen Kultur wird allerdings heute in der Wissenschaft bestritten. Nach dieser Auffassung würde Ásatrú also unabhängig von der Kreativität in der „Rekonstruktion“ des Alten schon im Ansatz auf einer Fiktion beruhen.

In Skandinavien wurde die Vergangenheit durch Olof Rudbeck (Atlantis, 4 Bde., 1679) auf der Grundlage von Sagen und des isländischen Versepos Edda rekonstruiert. Die Edda ist eine Beschreibung des Heidentums durch eine christianisierte Elite aus dem 12./13. Jahrhundert. Sie wird in Ältere und Jüngere bzw. Snorra- und Lieder-Edda unterteilt. Bei Rudbeck stand die kulturelle Größe des „Nordens“ im Vordergrund, ein Rekurs auf angeblich auch in Skandinavien ansässige „Germanen“ fand nicht statt. Darum unterscheidet man „germanisches“ (kontinentales) und „nordisches“ (skandinavisches) Heidentum, da beide sich als Ásatrú, aber nicht beide in „germanischer“ Tradition sehen. Trotzdem ist die Szene international gut vernetzt, viele deutsche Ásatrúgruppen entstanden als angelsächsische Dependancen, und die meisten beziehen sich mangels kontinentalgermanischer Schriftquellen auf die Edda.

Ásatrú im engeren Sinne entstand 1972 in Island, als Sveinbjörn Beinteinsson (1924 – 1993) die Wikingerreligion Ásatrúarfélagið (Ásatrúvereinigung) gründete, die sich historisch am 6. bis 8. Jahrhundert orientierte. Fast gleichzeitig wurde die Idee in der naturreligiösen Szene der USA aufgegriffen. Ab den 1990er Jahren drang diese Tradition nach Festlandeuropa vor. Hier traf sie auf ältere Kleingruppen, die auf der Basis von deutschgläubigen und völkischen Traditionen wie zum Beispiel der Ariosophie fußten. Diese waren zwischen 1880 und 1930 entstanden und hatten ein an Rassenvorstellungen orientiertes germanisches Heidentum begründet (Artgemeinschaft – Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung, Armanenorden, Germanische Glaubens-Gemeinschaft). Aus diesen beiden Ursprüngen und ihren geistigen Grundlagen entstanden teils bis heute anhaltende Richtungsstreitigkeiten innerhalb der Szene.

Wie viele heidnische Richtungen erklären sich Ásatrúar selbst zu den rechtmäßigen Nachfolgern lange untergegangener religiöser Traditionen, über die wenig bekannt ist. Dabei deklariert man sich selbst zum Opfer christlicher Verfolgung, die zwischen dem Mittelalter und der frühen Neuzeit zum Untergang der eigenen (bzw. der angeeigneten) Religion geführt habe. Germanische Neuheiden verweisen insbesondere auf die Sachsenkriege und die blutige Sachsenmission Karls des Großen, aber auch auf die Missionstätigkeit Bonifatius‘ und anderer. Die damaligen kulturellen und religiösen Wandlungsprozesse der germanischen Stammesgesellschaften werden oft ausschließlich als Geschichte von Gewalt, Zwang und Unterdrückung durch „die Kirche“ bzw. „das Christentum“ wahrgenommen. Dabei vermischen sich Historie und Legende zur Schaffung eines identitätsstiftenden Opfernarrativs. Unberücksichtigt bleibt in der Regel, dass dieses blutige Kapitel der Germanen-Christianisierung die Ausnahme war und schon zeitgenössisch von kirchlichen Vertretern heftig kritisiert wurde. Das Judentum spielt hingegen als Negativfolie in der christlich-jüdischen Kulturgeschichte des Abendlands kaum eine Rolle.

Verbreitung, Gestalt und Organisation

Zuverlässige Zahlen sind schwer zu erheben. Es gibt viele kleine Gruppen, teils streben auch regelmäßige Ritualteilnehmer keine formale Mitgliedschaft an, und schließlich sind die Abgrenzung und Definition von Ásatrú auch intern umstritten. In Island werden offiziell knapp 4000 Ásatrúar (bei 300 000 Einwohnern) gezählt, in Deutschland sind ca. 1000 in Vereinen organisiert. Hinzu kommt eine unbekannte Zahl loser Blót- und Kultgruppen ohne übergeordnete Mitgliedschaftsstrukturen. Von Schnurbein (2016) schätzt 20 000 Anhänger und Anhängerinnen weltweit, Calico (2018) nimmt diese Zahl als Obergrenze allein für Amerika an. Internationale Treffen finden gelegentlich statt, aber eine internationale Dachorganisation gibt es nicht.

Trotz einer Ethik, die oft unterschiedliche Geschlechterrollen betont, ist kultische und soziale Gleichberechtigung die Regel, schon wegen der meistens basisdemokratischen Strukturen. Die meisten deutschen Ásatrúgruppen haben höchstens zwei bis drei Dutzend Mitglieder, so etwa Nornirs Ætt und der Verein für Germanisches Heidentum (VfGH, ehemals deutsche Sektion des britischen Odinic Rite). Die größte ist der aus dem amerikanischen The Troth hervorgegangene Eldaring e. V., dessen in den letzten Jahren deutlich gestiegene Mitgliederzahl derzeit bei ca. 400 Personen in 27 „Herden“ bzw. „Stammtischen“ liegt (davon gut ein Drittel unter 40 Jahre alt). Das Ritualleben findet häufig in lokalen Untergruppen statt, die sich z. B. beim VfGH „Herd“, „Gruppe“ und „Gilde“ nennen.

In Island (seit 1973), Norwegen (1996) und Dänemark (2003) sind Ásatrú als Religionsgemeinschaften staatlich anerkannt, in Britannien sind sie es indirekt als Teil der allgemeinheidnischen Pagan Federation (betrifft offizielle Trauungen, Feiertagsrecht usw.).

Lehre und Ausprägungen

Ásatrú sehen sich selbst als polytheistische, undogmatische Erfahrungsreligion. Man kann verschiedene Strömungen unterscheiden, die in ihrer Einstellung zu den Quellen ihrer Religion und in ihrem Verhältnis zu ethnischen Fragen voneinander abweichen. Insbesondere Letzteres birgt Konfliktstoff, da Ásatrú bis heute mit den in den ersten Jahrzehnten sehr engen Verbindungen zu Rassentheorien des 19. Jahrhunderts und ihren späteren rechtsextremen und antisemitischen Ausgestaltungen kämpft. So war etwa Jürgen Rieger, langjähriger Leiter der Artgemeinschaft, zugleich NPD-Vorsitzender. Das Problem haben vor allem jene gemäßigten modernen Gruppen, die sich (auch mangels Alternativen) auf ihre Vorläufer beziehen wollen, deren rassistische Elemente aber ablehnen. Umstritten ist, ob das überhaupt möglich ist, ob man zum Beispiel ariosophische Runenmagie rezipieren, aber ariosophische Rassevorstellungen ignorieren könne – wobei eine verneinende Antwort jedem germanischen Neuheidentum die Legitimität bestreiten müsste.

Im Konflikt zwischen biologistischen und kulturalistischen Ansätzen kann man drei Strömungen unterscheiden (Terminologien nach Gründer 2009, von Schnurbein 2016, Calico 2018), die allerdings in der Praxis nicht immer streng geschieden sind, weil die betreffenden Fragen für die Außenwelt oft wichtiger sind als für die Ásatrúar:

  • Folkish / racial-religious Ásatrú sieht eine Zugehörigkeit nur aufgrund ethnischer Herkunft (Abstammungsgemeinschaft) vor. Gemeinsame Ahnen, Verwurzelung im Boden sind Voraussetzung für eine Verbindung mit den germanischen Göttern.
  • Tribalist / ethnicist Ásatrú hat oft eine ökoregionalistische Gestalt, die auf Heimat- und naturromantischen Umweltschutz zielt; die Zugehörigkeit ist herkunftsunabhängig möglich, setzt aber eine „spirituelle Akkulturation“ voraus. So bezeichnet sich etwa der VfGH als „ethnische Naturreligion“, verneint aber eine Verknüpfung von Religion mit genetischer Abstammung. Vielmehr seien „ethnische Religionen gerade durch die Volksbindung offen: Wer in ein Volk integriert wird – was durch Heirat, Zuzug, Bündnisse usw. stets geschah – hat auch Anteil an seinem gemeinsamen Mythos. Er gehört den Göttern des Volkes an, das nun auch seines ist“ (Ringhorn, Heft 41, 4).
  • Universalist / a-racist Ásatrú ist eine individualistische Strömung, die für die Bezugnahme auf germanische Götter rassisch-ethnische Kriterien explizit ablehnt. In diesen Gruppen, die von anderen Ásatrúar bisweilen wegen ihrer offenen Grenzen z. B. zum ökofeministischen Wicca, zum Neo-Schamanismus, zu okkulter Runenmagie und zur Zauberei auch spöttisch „Wiccatru“ genannt werden, sind etwa 50 % Frauen. Ansonsten sind im Gegensatz zu fast allen anderen heidnischen Strömungen Ásatrúar zu zwei Dritteln Männer.

In den letzten Jahren haben deutsche Ásatrúar nicht ohne Erfolg Anstrengungen unternommen, um offen rassistische Gruppen und Individuen zu isolieren: Der Armanenorden scheint erloschen, die Artgemeinschaft tritt öffentlich kaum noch in Erscheinung, und die von jeher winzige Germanische Glaubens-Gemeinschaft besteht nur noch aus einer Handvoll Mitglieder. Zahlenmäßig waren diese Gruppen schon lange nur ein kleiner Teil der Szene. Dabei entstanden über Art und Umfang dieser „Reinigung“ Konflikte zwischen verschiedenen Gruppen wie z. B. Rabenclan und Nornirs Ætt. Zugleich besteht Interesse daran, die ideologischen Vorläufer, auf die man sich literarisch beruft, auf z. B. völkische Traditionen zu untersuchen, um die eigene Verarbeitung bestimmter Ideologeme (Runenmagie u. a.) im Hinblick auf implizite Rasse-Ideologien kritisch zu durchdenken. Dazu rezipieren Ásatrúar oft intensiv seriöse akademische Literatur, auch über sie selbst. (Zum daraus folgenden „Feedback-Loop“ zwischen Forschern und Forschungsgegenstand vgl. von Schnurbein 2016).

Einige der Mythologie entnommenen Symbole, die als Amulette, als Erkennungszeichen (Schmuck, Aufkleber) und als Ritualgegenstände vorkommen, sind den meisten Ásatrúar gemeinsam. Dazu gehören der Thorshammer „Mjölnir“ (magische Waffe des Gottes Thor, aus der Edda), die Irminsul (ein frühmittelalterliches sächsisches Heiligtum, das in späterer Interpretation mit dem Weltenbaum identifiziert wurde) und der Wodansknoten (Valknut, historisch unklare Bedeutung). Alle sind auch als Modeaccessoire verbreitet und lassen nicht immer auf eine religiöse Orientierung schließen. Sie begegnen teilweise auch bei Neonazis und in der dazugehörigen Musikszene, was ihre Deutung im Einzelfall schwierig machen kann. Entgegen verbreiteten Annahmen kann aus der Verwendung insbesondere des Mjölnir bei Neuheiden nicht automatisch auf einen Bezug zur Neonazi-Szene geschlossen werden.

Ásatrú ist in der Regel polytheistisch und umfasst in der Praxis ein Dutzend aus der Mythologie bekannte Götter (Odin, Freya usw.). Während einige Ásatrúar (z. B. VfGH) explizit auf der Personhaftigkeit der Götter bestehen, sehen andere diese eher als Symbole für pantheistische Naturkräfte. Die hervorgehobene spirituelle persönliche Beziehung zu einer einzelnen ausgewählten Gottheit, wie sie viele Ásatrúar heute pflegen, ist ähnlich wie das Konzept hinter dem Begriff Ásatrú („Asen-Treue“ / „Asen-Glaube“) möglicherweise eine Übertragung: Die christlichen Autoren der Edda haben vermutlich ihre Vorstellung einer Beziehung zu einem persönlichen Heiligen auf ihre heidnischen Vorfahren projiziert. Es ist völlig unklar, ob das vorchristliche Heidentum wirklich in dieser Weise religiös gestaltet war.

Vorstellungen von einer Existenz nach dem Tod spielen kaum eine Rolle. Die Ethik des Ásatrú ist tendenziell wertkonservativ und wird öfters in Abgrenzung vom Christentum formuliert. Sie betont vor allem die Selbstverantwortung des Menschen, der sich keinem Gott unterordnet. Das Verhältnis Mensch-Gott ist gleichberechtigt, von gegenseitigen Treuepflichten auf Augenhöhe bestimmt. Götter und Menschen sind wechselseitig aufeinander angewiesen. Trotz der Betonung des undogmatischen Charakters kursieren (leicht variierende) Listen von neun Grundtugenden: Tapferkeit, Wahrheitsliebe, Ehre, Treue, Disziplin, Gastfreundschaft, Selbstverantwortung, Geschicklichkeit, Ausdauer.

Rituale

Die meisten Ásatrúar betonen, dass ihre Religion weniger aus Glaubenslehren als aus praktischen Ritualvollzügen bestehe. Diese finden zu bestimmten Jahreskreisfesten (u. a. Sonnenwenden und Tagundnachtgleichen) statt, hierbei kommen auch die in jüngerer Zeit konzipierte „germanische Göttin“ Ostara und das Julfest zum Einsatz, die nach heidnischer Ansicht die ursprüngliche Tradition hinter Ostern und Weihnachten sein sollen (historisch beides nicht nachweisbar). Rituale gibt es auch für Beerdigung und Eheschließung („Eheleite“). Die meisten Ásatrúgruppen kennen keinen festen Klerus, sondern erlauben jedem Mitglied, gegebenenfalls als Ritualleiter zu fungieren. Einige bieten gegen Gebühr auch Ritualhandlungen für Nichtmitglieder an.

Jahreskreisrituale, sogenannte „Blóts“ (Opferdarbietungen, bei amerikanischen und skandinavischen Ásatrúar auch Tieropfer), finden aus praktischen (Feuer) wie grundsätzlichen Gründen (Naturbezug) meist im Freien an festen Kultplätzen statt. In Reikjavik gibt es einen eigenen Tempelbau („Hof“), dessen Errichtung weltweit als Erfolg begrüßt, aber auch als Verbürgerlichung und Abkehr von der Naturreligion kritisiert wurde.

Der Ritualablauf ist aus praktischen Gründen (zeitaufwändige, da konsekutive Ritualteilnahme) meist auf 30 bis 40 Menschen beschränkt. Zum Ritual gehören die Eröffnung, die Platzweihe (Einhegung), Anrufungen der Götter, symbolische Opfer, „Sumbel“ (im Kreis herumgegebener Trunk zu Ehren der Götter), Abschlussdank. Ritualabläufe sind als Vorschläge zur Orientierung von Neulingen oft auf den Ásatrú-Webseiten einsehbar.

Ein Ritual des Hilliger Holt, einer wenig sichtbaren Gruppe mit knapp 30 erwachsenen Mitgliedern in Westfalen, schildert Fügmann (2016b). Es dauert zwei Stunden und umfasst Götteranrufung in einem eingehegten Kultplatz unter freiem Himmel, Gruppentanz, das Trinken aus einem Gemeinschaftskelch, Opfer, Musik und Gesang. Als Opfer dienen neben dem Rest des Ritualtranks, der vor Götterstatuen ausgeschüttet wird, mitgebrachte Gaben, die jeder Teilnehmer selbst darbringt, indem er sie einem Feuer, einem Teich oder einer Erdgrube übergibt.

Einschätzung

Die früher oft aggressive Abgrenzung vom Christentum tritt in den letzten Jahren etwas zurück, auch wenn sich in den entsprechenden Internetforen auch heute noch regelmäßig antichristliche Polemik bis hin zu Gewaltfantasien gegen christliche Symbole (Gipfel- und Wegkreuze, Externsteine, vgl. hierzu Materialdienst der EZW 80/3, 2017) finden. Insgesamt aber beginnen auch deutsche Ásatrúar, wie schon die britischen und amerikanischen vor ihnen, gelassener mit der religiösen Vielfalt zu leben.

Auch wenn sich germanisches Heidentum nicht mehr primär über seinen antichristlichen Affekt konstituiert, besteht inhaltlich eine große Distanz zwischen beiden Religionen. Das Verständnis des ebenbürtigen Verhältnisses zwischen Göttern und Menschen ist Ausdruck eines zutiefst modernen, prometheischen Menschenbildes, das aus christlicher Sicht eine Auflehnung des Geschöpfs gegen seinen Schöpfer darstellt und die Schuldverwobenheit der menschlichen Natur verharmlost. Die Grenze zwischen Gott und Mensch wird hier letztlich zugunsten eines „do ut des“-Vertragsverhältnisses zweier Gleicher verwischt, wenn nicht aufgehoben. Das Menschenbild des Ásatrú feiert die Stärke und neigt nicht selten zur Verachtung der Schwäche, was offensichtlich im Gegensatz zur christlichen Botschaft vom Wort Gottes am Kreuz steht.

Selbst beim „a-racist Ásatrú“ (mehr noch bei den anderen beiden Strömungen) stellt sich die Frage nach der Bedeutung der ethnischen Herkunft. Können Menschen nichteuropäischer Herkunft Zugang zum germanischen Götterhimmel und zu der Gemeinschaft finden? Müssen Gruppen dafür offen sein? Und wenn nicht, ist das problematisch angesichts dessen, dass sich ja auch kein Europäer einer afrikanischen tribalen Religion anschließen kann, ohne dass diese Unmöglichkeit als rassistisch gilt? Die Frage nach Ethnizität und Zugehörigkeit ist im Ásatrú theologisch nicht so eindeutig universalistisch zu beantworten wie im Christentum, wo die Universalität als Geltungsanspruch und Zugangsoffenheit zur Grundlage des Glaubens gehört (Gal 3,28). Zu christlichem Hochmut besteht gleichwohl kein Anlass, denn in der Praxis sind die meisten christlichen Gemeinden ebenso ethnisch homogen wie eine typische Ásatrúgruppe.

Berührungspunkte bestehen in der Betonung der Gemeinschaft für die religiöse und soziale Identität des Menschen sowie in gewissen ethischen Orientierungen. An verschiedenen Stellen ist es darum zwischen Ásatrúar und Kirchengemeinden auch schon zu interreligiösen Kooperationen für soziale Anliegen gekommen.

Kai Funkschmidt, August 2021


Quellen

Gundarsson, Kveldúlf Hagan / Oertel, Kurt (2012): Ásatrú. Die Rückkehr der Götter, Rudolstadt.

Jones, Prudence / Pennick, Nigel (1997): Heidnisches Europa, Engerda.

Spiesberger, Karl (1954): Runenmagie. Handbuch der Runenkunde, Berlin.

Steinbock, Fritz (2004): Das heilige Fest: Rituale des traditionellen germanischen Heidentums in heutiger Zeit, Hamburg.


Zeitschriften

Herdfeuer. Die Zeitschrift des Eldaring e. V., 2003ff.

Nordische Zeitung. Die Stimme des Artglaubens (Hg. Artgemeinschaft – Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung), 1934ff.

Ringhorn. Zeitschrift für das Heidentum heute (Hg. VfGH), 1994ff.


Internet

http://asatru.de (Homepage der rechtsextremen Artgemeinschaft).

https://eldaring.de (Homepage des Eldaring e. V. inkl. Ritualbuch zum Download und Zeitschrift „Herdfeuer“).

http://nornirsaett.de/asatru-was-ist-nornirs-aett (Auseinandersetzung mit Fragen von Ásatrú als Religion und der zweifelhaften Konstruktion historischen Germanentums).

https://www.vfgh.de (Homepage des Vereins für Germanisches Heidentum, mit Zeitschrift „Ringhorn“).

(Abruf der Internetseiten: 20.7.2021)


Sekundärliteratur

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Calico, Jefferson S. (2018): Being Viking: Heathenism in Modern America, Sheffield.

Fügmann, Dagmar (2016a): Ásatrú: Germanisches Neuheidentum?, in: Klöcker / Tworuschka (Hg.): HdR, XII 2.2.

Fügmann, Dagmar (2016b): Zeitgenössisches Germanisches Heidentum in Deutschland, in: Klöcker / Tworuschka (Hg.): HdR, XII 2.1.

Gardell, Matthias (2003): Gods of the Blood. The Pagan Revival and White Separatism, Durham / London.

Gründer, René (2009): Blótgemeinschaften. Eine Religionsethnografie des „germanischen Neuheidentums“, Würzburg.

Jennerjahn, Miro (2006): Neue Rechte und Heidentum. Zur Funktionalität eines ideologischen Konstrukts, Frankfurt a. M.

Paetzold-Siewert, Sylvia (2006): Die Germanische Glaubensgemeinschaft, in: Klöcker / Tworuschka (Hg.): HdR, XII 6.

Schnurbein, Stefanie von (1993): Göttertrost in Wendezeiten. Neugermanisches Heidentum zwischen New Age und Rechtsradikalismus, München.

Schnurbein, Stefanie von (2016): Norse Revival. Transformations of Germanic Neopaganism (Studies in Critical Research on Religion 5), Boston.

Warnemann, Alexander (2017): Runen: „Back to the roots“ oder nordistisches Spezialgebiet?, in: Materialdienst der EZW 80/12, 445 – 453.

White, Ethan Doyle (2017): Northern Gods for Northern Folk. Racial Identity and Right-wing Ideology among Britain‘s Folkish Heathens, in: Journal of Religion in Europe 10, 241 – 273.