Schamanismus und Neo-Schamanismus

In der Esoterik gehören Schamanenangebote zum Standard. Reisen in eine Welt hinter den Dingen, Heilung an Leib und Seele, ein neues Selbstverständnis werden versprochen. Wie viele Menschen im Westen heute Schamanismus praktizieren oder lehren, ist kaum festzustellen. Die Zeitschrift „ConnectionSpirit“ listet auf ihrer Internetseite 44 lehrende Schamanen und 22 Lehreinrichtungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz auf, was aber allenfalls einen Teil des Marktes wiedergeben dürfte, weil schamanistische Kurse oft als Teil eines breiten esoterischen Gesamtangebots auftauchen. Ebenso wenig ist zu schätzen, wie viele der Teilnehmer anschließend dauerhaft auf Traumreisen in die Anderswelt gehen. Klar ist aber: Im Gegensatz zu vielen anderen Angeboten hat Schamanismus jedoch einen ursprünglichen realen Sitz im Leben.

Traditioneller Schamanismus

Der Begriff „Šamán“ (in etwa „verrückt“, „verbrennen“, verwandt mit Sanskrit „sramana“, Asket) bezeichnet beim ostsibirischen Volk der Tungusen den religiösen Spezialisten für den Kontakt mit jenseitigen Wirklichkeiten, insbesondere Geistern. Es handelt sich dabei um eine Funktion, die von Männern wie Frauen ausgeübt werden kann und die auch bei anderen sibirischen Nomaden bekannt ist. Das konstitutive Merkmal des Schamanen ist der Zustand der Ekstase oder Trance, in welchem Jenseitsreisen unternommen werden. Daneben kann es auch andere religiöse Funktionsträger wie z. B. Opferpriester oder Heiler geben.

Je nach Definition ist die Verbreitung des Schamanismus umstritten. Im strengen Sinne wird er nur für das nordöstliche Eurasien und die zirkumpolaren Länder benutzt, doch sind ähnliche Phänomene aus Nord- und Südamerika bekannt. So bezeichnet Mircea Eliade den Schamanismus als die archaische Ekstasetechnik schlechthin und zählt auch Phänomene in Ozeanien und Afrika dazu. Allerdings fehlt den dortigen Ekstasetechnikern die für Schamanen typische sozio-religiöse Zentralstellung in ihrer Gesellschaft. Für Eliade ist dieser globale Schamanismus die Urform jeder okkulten Tradition, für Michael Harner sogar die Urform von Religion überhaupt, für die sich erste Belege u. a. schon in den neolithischen Höhlenmalereien von Lascaux zeigen. Diese Lesart ist nach heutigem Forschungsstand überholt, wird aber gerade im Neo-Schamanismus gern aufgegriffen: „Schamanismus ist die erste und ursprünglichste spirituelle Praxis der Menschheit. Sie entstand vor ca. 26.000 Jahren“ (Anja Gundelach).

Zum Schamanen gehört neben der Trancetechnik eine lange leidvolle Berufungsgeschichte und Initiation. Dieser Prozess geschieht häufig gegen den Willen des Betroffenen. Hinweise sind beim Jugendlichen, der häufig Schamanenvorfahren hat, ein sozial auffälliges Verhalten, selbstgewählte Isolation, Reizbarkeit, Wildheit, epilepsieartige Anfälle, Ohnmachten, lange Abwesenheiten in der Wildnis, Depressionen. Seit Langem gibt es daher Versuche, Schamanismus als sozial integrierte Form diverser Psychopathologien zu deuten (Devereux). Allerdings gilt gerade die Heilung dieser Symptome als Initiation, sodass die Krankheit nicht zum Wesen des Schamanen gehört. In den Phasen, in denen er sich absondert, wird die Seele des angehenden Schamanen in der Jenseitswelt durch Geister in Fachkenntnissen unterwiesen, teilweise erlebt er auch seinen eigenen Tod durch Zerstückelung und Verspeisung als Aufhebung seiner bisherigen Identität. Die Initiation kann durch einen älteren Schamanen begleitet werden, der dem von den Geistern ausersehenen Lehrling die Techniken beibringt, die zur gefahrlosen Bewegung in den Jenseitswelten vonnöten sind.

Die Trance ist jener Bewusstseinszustand, in dem die Seele des Schamanen sich vom Körper trennt und auf Reisen durch die andere Welt, eine „nichtalltägliche Wirklichkeit“ geht. Diese Seelenreisen führen in einen dreistufigen, entlang einer Weltachse aufgehängten Kosmos: in die himmlische Welt, in eine Realität hinter der Realität der irdischen Sphäre und in die Unterwelt zu den Geistern der Toten, insbesondere der Ahnen. Alle diese Sphären sind belebt, und diverse Schutzgeister begleiten den Schamanen auf seiner Reise. Die meisten Gesellschaften, die Schamanismus kennen, sind weltanschaulich im Bereich von Animismus und Pantheismus angesiedelt.

Schamanen wenden je nach Anlass unterschiedliche Techniken an, um sich in Trance zu versetzen. Weit verbreitet sind Trommeln, Gesang und Tanz, im nord­amerikanischen Kontext auch die im Neo-Schamanismus populäre „Schwitzhütte“. Diese körperlich anstrengenden Verfahren können teilweise durch den Gebrauch psychedelischer Drogen auf pflanzlicher Basis abgekürzt werden. Das sind z. B. in Südamerika Ayahuasca, sonst auch Fliegenpilz, Hanf und Peyote. Zur Ausstattung des Schamanen gehört weiterhin eine reich mit Symbolen versehene Schutzkleidung („Schamanenmantel“, Masken).

Die schamanische Reise ist immer in die sozialen Bedürfnisse der Gemeinschaft eingebettet, dergestalt, dass der Schamane für seine Aufgabe je und je beauftragt wird, also nicht aus eigenem Antrieb handelt. Er hilft dabei der Gemeinschaft oder Einzelnen. Zum Beispiel geleitet er die Seelen Verstorbener ins Totenreich. Da die Ursprungsgesellschaften des Schamanismus überwiegend Jäger und Sammler waren, gehören zu den vorrangigen Themen kontextgemäß auch Jagdzauber und Krieg. Weitere wichtige Aufgaben sind Krankenheilung, indem der Schamane sich auf die Suche nach der verirrten oder von Dämonen geraubten Seele des Kranken macht und sie wieder zu ihrem Besitzer zurückführt. Bestimmte Rituale sind notwendig, um das soziale und seelische Ungleichgewicht bei Unfruchtbarkeit, nach schwerer Geburt, Todesfällen oder Vergehen wiederherzustellen. Damit das gelingen kann, muss die schamanische Praxis in einem gesellschaftlichen Kontext stattfinden, in dem die Menschen die zugrunde liegende Weltsicht teilen. Die Wirksamkeit der schamanistisch besuchten Geister zeitigt nur dort Ergebnisse, wo die Menschen an Geister glauben. Denn erst die „kollektive Anerkennung verwandelt den Geisterglauben und Schamanismus in eine gesellschaftliche Realität; ...[sie] wird in der Praxis zur gesellschaftlichen Macht“ (Zinser 1988, 253, Beispiel: Ausfindigmachens eines Diebes). In dieser Weise kann von einem tatsächlichen „Funktionieren“ des Schamanismus gesprochen werden.

Neo-Schamanismus

Heute treten auch in westlichen Gesellschaften Menschen auf, die sich auf die beschriebenen Traditionen berufen. Dabei gibt es einige Parallelen, aber auch massive Veränderungen.

Seit den 1960er und 1970er Jahren verstärkte sich bei der Suche nach alternativen Gesellschaftsmodellen auch das Interesse an indigenen Kulturen sogenannter „Naturvölker“. In diesem Zusammenhang verbreiteten sich schamanistische Techniken im Westen. Hintergrund war ein Protest gegen eine als naturzerstörend, patriarchal, rationalistisch und unkontrollierbar komplex erlebte Kultur, die es mithilfe der „uralten Weisheit“ anderer Kulturen zu überwinden galt. In diesem Zuge flossen soziale Utopien, Interesse an bewusstseinsverändernden Techniken, Naturmystik, feministische und ökologische Ideen in die wachsende New-Age-Bewegung und damit auch den Neo-Schamanismus ein. Die Wiederentdeckung dieser vermeintlich alten Ideen steht in einer europäischen Tradition von Aufklärungskritik, die unter anderem über Rousseaus Fiktion des Edlen Wilden und die deutsche Romantik führt. Praktisch alle neo-schamanischen Gruppen teilen die Projektion, derzufolge „im Einklang mit der Natur“ lebende Völker eine Weisheit bewahrt hätten, die der technisierten Welt verloren gegangen sei. Typischerweise findet der Neo-Schamanismus seinen Markt denn auch vor allem unter Bewohnern westlicher Großstädte, für die die Natur weniger Lebensraum als Erholungsraum und idealisierter Sehnsuchtsort ist.

Die Verbreitung, die ausgerechnet der Schamanismus unter den diversen religiösen Elementen exotischer Kulturen fand, verdankt sich in starkem Maße dem amerikanischen Ethnologieprofessor Michael Harner (geb. 1929). Außerdem trug der Ethnologe und Dichter Carlos Castaneda (1925 oder 1931 bis 1998) mit seinen Büchern sehr zur Popularisierung bei. Beginnend mit „Die Lehren des Don Juan – Ein Yaqui-Weg des Wissens“ (1968, dt. 1972) beschreibt er Begegnungen mit einem Indianer, der ihn mithilfe drogenunterstützter schamanischer Reisen in das geheime Weisheitswissen seiner Kultur eingeweiht habe. Obwohl die Person des Lehrers Don Juan später als rein fiktiv entlarvt wurde, blieben Castanedas Bücher lange Zeit einflussreich.

Harner erforschte seit 1956 Schamanismus im Amazonasgebiet. Als sein persönliches Interesse wuchs, gab er 1987 seine Universitätslaufbahn auf und widmete sich ganz der Adaptation und Verbreitung des Schamanismus für die westliche Welt. Bis heute besteht die 1987 zu diesem Zweck gegründete „Foundation for Shamanic Studies“ (FSS), deren Ziel es ist, „Menschen der westlichen Gesellschaften mithilfe von qualitativ hochwertigen Seminaren des Core-Schamanismus auf ihr angestammtes Recht auf spirituelle Selbstbestimmung ... hinzuweisen“ (http://shamanicstudies.net). Harner spricht lieber von „Core-“, also „Kern-“ als von „Neo“-Schamanismus, weil er versucht, eine Essenz schamanistischer Lehre und Praxis aus verschiedenen Kulturen zu kondensieren.

Harner knüpft ebenso wie die meisten anderen neo-schamanistischen Anbieter an Eliades universalen Schamanismusbegriff an. Aber bei dieser modernen „schamanischen Praxis bleibt nicht viel vom sibirischen Schamanentum ... übrig. Was in diesen Schriften als Schamane oder als schamanische Veranstaltung bezeichnet wird, hat kaum mehr als das Wort mit dem gemeinsam, was in Sibirien bei den Tschuktchen, Tungusen und Buriaten unter Schamanismus zu fassen ist“ (Zinser 1987, 175).

Unterschiede

Zwar berichten manche Neo-Schamanen von langwierigen Sinnsucheprozessen und einer sogenannten „Schamanenkrankheit“ (oft depressive Zustände), was entfernt an die Initiation traditioneller Schamanen erinnert. Häufiger aber ist an die Stelle der unfreiwilligen, schmerzhaften und langwierigen Initiation ein gut zu vermarktender, leichter Zugang getreten, der in Wochenendseminaren zur Bewusstseinserweiterung käuflich erworben wird.

Der traditionelle Schamane begibt sich in körperlich strapaziöser Weise mit Tanz, Trommeln usw. in einen Trancezustand, um stellvertretend für seine Gemeinschaft in gefährliche Begegnungen und Aufgaben einzutreten (Totengeister, seelenraubende Dämonen!). Dagegen findet die neo-schamanistische Praxis gerne im heimischen Wohnzimmer auf weicher Matte bei Trommelklängen von der CD statt und führt eher in Jenseitswelten, die von harmonischen Naturlandschaften und liebevoll zugewandten persönlichen Krafttieren bevölkert sind.

Vielleicht weil dies weit entfernt von den ekstatischen Zuständen traditioneller Schamanen sein dürfte, zeigen zumindest einige Anbieter wenig Distanz zu der Möglichkeit, den Weg zur Trance mit Drogen abzukürzen. Da das rechtliche Probleme aufwirft, lässt sich naturgemäß kaum feststellen, wie verbreitet das in die Praxis umgesetzt wird.

Viele neo-schamanische Traditionen sind stark esoterisch-synkretistisch und wirken wie das Abbild der persönlichen Sinnsuchebiografie des jeweiligen Anbieters. So mischen sich zum Beispiel im sogenannten „Gaia-Schamanismus“, 1990 von Helmut Christof gegründet, Tantra, Tao, diverse Ekstasetechniken, Chakrenlehre, Kristallarbeit, Schwitzhüttenzeremonien und vieles andere, was irgendwann en vogue war. Neo-Schamanismus ist hier mehr noch als sonst ein Mischangebot, das nicht mehr von der allgemeinen Esoterikszene unterscheidbar ist.

Der traditionelle Schamane erfüllt in einer persönlich belastenden Weise punktuell in Krisenmomenten eine elementare Aufgabe für seine Gemeinschaft. Dabei ist er in den kulturellen Konsens einer Kosmologie der Geister und der beseelten Natur eingebettet. Der Neo-Schamane dagegen stellt sich explizit in Gegensatz zu seiner als defizitär, ja destruktiv und entfremdend erlebten Kultur und sucht nach intensiven Erfahrungen, die sein eigenes seelisches Wohlbefinden und Heilung fördern sollen, indem sie Welt und Selbst verstehend in Einklang bringen. Dabei wird die Rolle des Schamanen einerseits radikal demokratisiert (Fenkart: „Auch du bist ein Schamane“), andererseits aber jeglicher gesellschaftlich verantworteten Anbindung entzogen. Statt der Praxis einer sozial engagierten Rolle wird vielmehr die Flucht in eine persönliche Traumwelt geübt. Gerade an diesem Punkt ist zweifelhaft, ob sich in diesem Zusammenhang überhaupt sinnvoll von Schamanismus sprechen lässt, denn seine zentrale gesellschaftliche Rolle und Funktion macht ja den traditionellen Schamanen aus.

Obwohl manche Anbieter hierzulande traditionelle Schamanen aus Sibirien oder Amerika einfliegen, wird von anderen traditionellen Schamanen die westliche Übernahme ihrer alten Kulturtechnik kritisiert.

Kai Funkschmidt, April 2012


Literatur

Castaneda, Carlos, A Separate Reality. A Yaqui Way of Knowledge, 1968 (dt. 1972)

Devereux, George, „Shamans as Neurotics“, in: American Anthropologist, New Series, 63 (1961), 1088-1090

Eliade, Mircea, Le Chamanisme et les techniques archaïques de l’extase, 1951 (dt. 1975)

Fenkart, Kurt, Auch du bist ein Schamane. Vision, Seelenkraft, Heilung, München 2010

Harner, Michael, The Way of the Shaman: A Guide to Power and Healing, New York/San Francisco 1980 (dt. 1981)

Ruppert, Hans-Jürgen, Die Wiederkehr der Schamanen. Beobachtungen zum Neoschamanismus in der New Age-Szene, Wien 1989

Schmid, Georg, Art. „Schamanismus“, in: Baer, Harald / Gasper, Hans / Sinabell, Johannes / Müller, Joachim (Hg.), Lexikon nichtchristlicher Religionsgemeinschaften, Freiburg i. Br. u. a. 2009, 203-205

Zinser, Hartmut, Schamanismus im „New Age“, in: Pye, Michael / Stegerhoff, Renate (Hg.), Religion in fremder Kultur. Religion als Minderheit in Europa und Asien, Saarbrücken 1987, 175-185

Zinser, Hartmut, Traumreisen und Schamanisieren. Beobachtungen zum „New Age“-Schamanismus, in: MD 9/1988, 249-60


Internet

www.shamanism.com (Foundation for Shamanic Studies, Michael Harner)

www.schamanismus-akademie.com (Kurt Fenkart)

www.connection.de/liste/magazintexte/schamanismus (u. a. Aufstellung in Deutschland, Österreich und der Schweiz praktizierender Schamanen)

www.schamanismus-berlin.org (Anja Gundelach)