Die Erscheinungsformen des Satanismus - vom jugendlichen Protest-Satanismus und dem Privat-Satanismus psychisch gestörter Einzelgänger, über den Ordens-Satanismus und satanisch verbrämte sexuelle Perversionen bis hin zur Gewaltkriminalität - lassen sich phänomenologisch nur schwer in einen verstehbaren Zusammenhang bringen. Nicht nur ist die Recherche schwierig, da sich ernst gemeinter Satanismus oft nicht in der Öffentlichkeit präsentiert. Oder im Gegenteil: Man begegnet satanistischen Phantasiewelten, denen glücklicherweise keine Praxis entspricht. Man findet wenig Bindung an Traditionen, überhaupt wenig Interesse an der Stimmigkeit und Vermittelbarkeit ihres Denkens und Tuns unter Satanisten. Darauf weisen sowohl Hans-Jürgen Ruppert als auch Bernd Harder, Ingolf Christiansen und andere mit Recht hin.1 Religions- und ideengeschichtlich fällt eine Systematik ebenso schwer, da sich unter dem Etikett Satanismus okkulte, antikirchliche und antichristliche, sogar neuheidnische und rechtsextreme Traditionen in vielfältigen Gemengen versammeln. Dagegen weisen die Motive, sich in irgendeiner Form auf Satanismus einzulassen, über alle Unterschiede hinweg Gemeinsamkeiten auf.
Negative existentielle Symbolik
Religionspsychologisch lässt sich die Vielfalt satanistischer Lehren ebenso wie die satanistischen Bilderwelten, die Rituale und die "Gruppenkulturen" in satanischen Zirkeln als negative Symbolisierungen einer Grundspannung menschlichen Lebens verstehen, nämlich die Spannung zwischen Gut und Böse, zwischen Leben und Tod, zwischen Liebe und Hass, zwischen Wachstum und Zerstörung. Religionen bieten Wege an, diese Spannung zu bewältigen, wobei sie die Kräfte des Lebens und des Guten zu stärken und die Kräfte der Zerstörung zu bannen suchen. Der Satanismus verhält sich dazu wie eine Negation, indem er die gegenteilige Lösung anbietet: Hass und Zerstörung zu bejahen, der Liebe und dem Guten abzuschwören, den Impulsen der Zerstörung freien Lauf zu geben. Welche biographisch und psychologisch bedingten Bedürfnisse lassen dieses destruktive Angebot attraktiv werden? Um sich einer Antwort anzunähern, kann das "Passungsmodell" 2 dienlich sein, das von der Enquete-Kommission des 13. Deutschen Bundestags "Sogenannte Sekten und Psychogruppen" entwickelt wurde. Es geht davon aus, dass Menschen, die sich einem extremen religiösen Milieu bzw. einer Gemeinschaft anschließen, dort ihre Lebensthemen bearbeiten. Damit werden die Biographie (zeitweilig) dominierende Anliegen bezeichnet, an denen sich die Personen bei der Darstellung ihrer Lebensgeschichte orientieren, und die ein Leitmotiv ihres Denkens und Verhaltens bilden. Sie sind von einer gewissen Dauer, allerdings erledigen sich einige auch und werden durch andere ersetzt. Die Ursachen dafür, dass eine Person ein bestimmtes Lebensthema verfolgt, sind in der Biographie bzw. in Persönlichkeitsmerkmalen zu suchen. Dabei erfasst das Konzept der Lebensthemen nicht nur innerseelische, sondern auch andere Faktoren, zum Beispiel wirtschaftlicher Art. Dass zum Beispiel das Thema "Ansehen, Einfluss" bei einem sozial benachteiligten Menschen zum Lebensthema wird, bis er einen besseren sozialen Status erreicht hat, bedarf keiner psychodynamischen Begründung - schlägt sich aber sehr wohl biographisch nieder und kann zum Beispiel schwarzmagische Rituale attraktiv machen.
Die "Passung" von Sozialstruktur und Orientierungsangeboten eines Milieus bzw. einer Gruppe mit den Lebensthemen der Individuen entscheidet nach diesem Modell weitgehend über den Eintritt in das Milieu, über den Verbleib und über den Ausstieg.3
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Anmerkungen
1 Bernd Harder, Die jungen Satanisten, Augsburg 2002; Ingolf Christiansen, Hartmut Zinser, Okkultismus und Satanismus, hg von der Behörde für Inneres der Freien und Hansestadt Hamburg 2001; Joachim Müller, Wiederentdeckung des Bösen, Freiburg/Schweiz 2001; Ingolf Christiansen, Satanismus, Gütersloh 2000; Hans-Jürgen Ruppert, Satanismus, EZW-Text 140, Berlin 1998.
2 Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags "Sogenannte Sekten und Psychogruppen" (Hg.), Neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen - Forschungsprojekte und Gutachten der Enquete-Kommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppen", Hamm 1998, 19ff.
3 Wilfried Veeser, Ein dynamisches Passungsmodell zur Erklärung der Einstiegs- und Verbleibsprozesse, der Beheimatungswahrscheinlichkeit, der Konfliktpotentiale und der Fluktuation in christlichen Gemeinschaften, a.a.O., 48ff - die Graphik und Begrifflichkeit wurde verändert.