07.05.2024

Die atheistische Gesellschaft und ihre Kirche

Rezension zu Justus Geilhufe: Die atheistische Gesellschaft und ihre Kirche, München: Claudius, 2023, 133 Seiten, EUR 20,00

Martin Fritz

Justus Geilhufe, Pfarrer in der Erzgebirgsstadt Freiberg und im benachbarten Großschirma, hat 2023 einen Essay über „Die atheistische Gesellschaft und ihre Kirche“ veröffentlicht. Auf „Instagram“ bezeichnet der Autor sein Büchlein, das vom Claudius-Verlag für stolze 20 EURO vertrieben wird, als „längeren, sehr unterhaltsamen Instagrampost“1. Damit beugt er überzogenen Erwartungen an die zeitdiagnostischen und theologischen Reflexionen vor, die sich in dem Text an mehr oder weniger launige Schilderungen biographischer Situationen anschließen: Es handelt sich eher um locker hingeworfene Gedanken als um eingehende und sorgsam abgewogene Überlegungen.

Bei „Instagram“ lassen sich Posts direkt kommentieren. Geilhufes Verweis auf dieses Format lässt sich daher auch als Aufforderung zur Kommentierung verstehen. Dem versucht der Rezensent im Folgenden nachzukommen, indem er den Theoriegehalt des Essays in sieben Thesen verdichtet und sie jeweils mit Kommentaren versieht.

1. Die atheistische Gesellschaftssituation, die einst nur in der DDR herrschte, hat sich inzwischen auf ganz Deutschland ausgeweitet.

Diese Aussage wäre empirisch schon schwer zu halten, wenn Geilhufe statt „atheistisch“ „säkular“ gebrauchen würde. Denn auch wenn die aktuelle Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung eine Zunahme säkularer und säkularistischer Einstellungen in Deutschland diagnostiziert,2 heißt das noch lange nicht, dass Deutschland bereits dominant „säkular“ wäre (um von einem entschiedenen „Atheismus“ ganz zu schweigen). Individuelle Eindrücke werden von Geilhufe – in einem Essay ist das vielleicht erlaubt – recht umstandslos zur generellen Zeitdiagnose erhoben.

2. Mit der Ausbreitung des „Atheismus“ gehen der Gesellschaft Wahrheit, Güte und Schönheit verloren. An deren Stelle treten zersplitterte individuelle Wahrheiten, moralische Verrohung und ästhetische Verwahrlosung.

Sicherlich: Wahrheit, Güte und Schönheit sind große Ideen, die realiter oft mit Füßen getreten werden. Aber ob diese Malträtierung gegenüber früheren Zeiten zugenommen hat? Diesen Eindruck hat vermutlich jede Gegenwart, selbst dann, wenn offen zutage liegt, dass es in relativ naher Vergangenheit (z.B. 1933 bis 1945) mit den fraglichen Ideen weit schlechter bestellt war. Die betreffende Dekadenzdiagnose ist ein konservativer Allgemeinplatz. Das schließt natürlich nicht von vornherein aus, dass es sich lohnen könnte, über sie nachzudenken – hätte Geilhufe ihr in der Ausführung nur etwas mehr Breite und Tiefe verliehen.

3. Des Weiteren verliert die Gesellschaft mit der Ausbreitung des „Atheismus“ und dem Verlust der Transzendenz den Sinn für die unvermeidlichen Widersprüche und Negativitäten des Lebens. In ihrer verzweifelten Annahme, ein richtiges Leben herzustellen müsse im Hier und Jetzt möglich sein, liefert die „atheistische Gesellschaft“ die Menschen gnadenlos dem Scheitern aus.

Nun ja, auch das hat man so schon oft gehört. Es muss deshalb nicht falsch sein. Im Gegenteil: Der Umgang mit existenzieller Negativität ist unzweifelhaft eine der schwerlich zu ersetzenden Leistungen von Religion, und bei deren Ausfall sind existenzielle und kulturelle Folgen zu erwarten. Aber bei allzu gut Bekanntem erwartet man irgendeine vertiefende Reflexion oder ergänzende Perspektive. Hier: vergebens.

4. Um einen Sinn für die idealen Positivitäten Wahrheit, Güte und Schönheit, für deren unausweichliche Verfehlung im realen Leben sowie für die transzendente Aufhebung dieser Verfehlung durch die göttliche Gnade wachzuhalten, bedarf es einer allgemeinen Rückbesinnung der Gesellschaft auf die Kirche.

Das Anpreisen der eigenen Institution als Lösung für die großen Probleme der Gesellschaft dürfte nur kirchliche „Insider“ überzeugen, die davon schon zuvor überzeugt waren. Um die gesamtgesellschaftliche Funktion der Kirche auch Außenstehenden plausibel zu machen, bedürfte es einer weiter ausgreifenden Argumentation. Von einem Pfarrer, noch dazu schlagwortartig vorgebracht, erweckt das Plädoyer leicht den Eindruck pastoraler Selbstgefälligkeit.

5. Um die besagten Funktionen für die Gesellschaft erfüllen zu können, müsste sich allerdings auch die (evangelische) Kirche grundlegend ändern. Sie müsste sich von ihrem leerlaufenden Reformismus und ihrer dominierenden ethischen Ausrichtung, sprich: von ihren Dauerverlautbarungen zur Verbesserung der Welt lösen, die selbst den gnadenlosen Perfektionismus der atheistischen Gesellschaft reproduzieren. Stattdessen müsste sich die Kirche wieder auf ihre ureigene religiöse Aufgabe besinnen: Sie sollte primär die göttlichen Ideale und die göttliche Gnade verkörpern und vor diesem Hintergrund auch die gänzlich „unideale“ Gesellschaft mit ihren verdorbenen und verzweifelten Menschen lieben.

Auch der Vorwurf an die Kirchen, sich allzu sehr um ein (noch dazu einseitig linkslastiges) ethisches Profil zu bemühen, um damit verlorengegangene Anerkennung in der Gesellschaft zurückzugewinnen, anstatt ihrer Kernaufgabe, der christlich-religiösen Kommunikation, nachzukommen, ist ein konservativer Topos. Der Vorwurf ist nichtsdestoweniger diskussionswürdig; und man muss auch nicht zwingend konservativ sein, um ihm etwas abgewinnen zu können. Allerdings hätte auch er etwas mehr Gedankenaufwand nötig, um jenseits vorverständigter Meinungsgruppen zu verfangen. Bei Geilhufe kommt die Kritik wiederum als Stereotyp daher, zu abgegriffen, um Kirchenleitungspersonen gegebenenfalls zum Hinterfragen ihres eingespielten Selbstverständnisses zu bewegen. So dürfte sich der Effekt auf das mehr oder weniger heftige Kopfnicken gleichgesinnter Kirchenleitungskritiker:innen belaufen.

6. Um wiederum die Transzendenz in der Gesellschaft verkörpern zu können, müsste sich die Kirche entschieden auf ihre Tradition besinnen: Sie müsste ein ungebrochenes „Zutrauen in die Wahrheit der Heiligen Texte“ (93) wiedergewinnen und ein Zutrauen in die Kraft der „Feier des Gottesdienstes in der Liturgie, wie sie sich über die Jahrhunderte entwickelt und zugleich erhalten hat“ (93).

Mit dem Ruf nach mehr Traditionsorientierung nimmt Geilhufe einmal mehr einen konservativen Allgemeinplatz auf. Er provoziert naheliegende Rückfragen: Wie hätte man sich diese Traditionsbesinnung genauer vorzustellen? Wie wäre ein größeres „Zutrauen“ zur Bibel zu begründen, ohne einem Biblizismus zu verfallen? Und hat es nicht in den Kirchen insgesamt sehr viel Festhalten an den alten liturgischen Formen gegeben, ohne dass damit ein Nachlassen ihrer gesellschaftlichen Ausstrahlung hätte aufgehalten werden können? Und wäre nicht auch mit dem Phänomen eines Veraltens von Formen zu rechnen, so dass sie die Funktion der Transzendenzdarstellung nur noch bei einem immer kleiner werdenden Kreis entsprechend vorgeprägter Zeitgenossen zu erfüllen vermögen?

7. Die betreffende Traditionsorientierung könnte und müsste die Kirche im heutigen Deutschland von der DDR-Kirche lernen: „Das ist das große Geschenk, was sie der Kirche des Westens heute machen kann. Sie hat etwas bewahrt, was verloren gegangen ist: Durch ein Grundvertrauen in die Heilige Schrift, die Feier der alten Liturgie und den Versuch, niemanden verloren gehen zu lassen“ (93). Die DDR-Kirche kann der Kirche von heute darin Vorbild sein, dass sie „das Geheimnis der Güte, Wahrheit und Schönheit bewahrt hat in den Formen, die der Welt fremd sind“ (94). In ihrem Festhalten an alten, gegenwartsfremden Traditionen bildete die „Kirche des Ostens“ (94) damals eine Art Gegenkultur zur sozialistischen Gesamtkultur – und die Kirche von heute sollte sich offenbar heute wieder ähnlich gegenkulturell begreifen und ausrichten.

Die Behauptung der Vorbildfunktion der DDR-Kirche in Sachen Traditionsorientierung (oder pejorativ formuliert: in Sachen Traditionalismus) ist die eigentlich originelle These des Essays. Sie ist freilich so originell wie rätselhaft. Lässt sich die innere Signatur der DDR-Kirche, die ja mit der Situation im sozialistischen Staat eng zusammenhing, auf die völlig veränderte Situation im vereinigten Deutschland übertragen? Und wäre mit einer entschieden gegenkulturellen Prägung nicht auch gerade der Rückzug von gesellschaftlicher Breitenwirksamkeit verbunden? Und in welcher Form könnte das von der DDR-Kirche vermeintlich Bewahrte an die Gegenwartskirche vermittelt werden? Die Form eines essayistischen Einfalls verspricht diesbezüglich wohl eher wenig Erfolg.

Fazit: Es ist völlig legitim, konservative Positionen zu vertreten. Dies gilt – das muss man heute leider ausdrücklich hinzufügen –, auch wenn solches von weiter „links“ schnell als „rechts“ eingestuft wird und auch wenn in Teilen tatsächlich die Gefahr einer Vereinnahmung von weiter „rechts“ besteht. Konservative Positionen von vornherein zu diskreditieren, würde nur die allgemeine Polarisierung fördern und damit die Kräfte „rechts“ des Konservativismus stärken.3

Allerdings begnügt sich Geilhufe weitgehend damit, seine Position mit bekannten Stichworten anzusagen, anstatt ihr Kontur zu verleihen. Die Form des Essays und der Hang des Autors zum Stereotypen, der auch durch die biographischen Szenen nicht aufgefangen wird, lassen allzu viele Fragen offen: Wie genau ist diese und jene Diagnose begründet? Steckt mehr dahinter als nur biographisch-episodische Eindrücke und Einfälle? Wie genau wären diese und jene Vorschläge umsetzbar, was für Wirkungen hätten sie? Es ist daher im Grunde etwas unglücklich, dass Geilhufe mit seinen Reflexionen nicht bei „Instagram“ geblieben ist. Denn dort hätte er die Möglichkeit, direkt Antworten auf Nachfragen zu formulieren und damit zu zeigen, dass er mehr zu sagen hat.


Martin Fritz, 07.05.2024
 

  1. https://www.instagram.com/reel/CyQ6D3_t8K8/?hl=de.
  2. Vgl. Wie hältst du’s mit der Kirche? Zur Bedeutung der Kirche in der Gesellschaft. Erste Ergebnisse der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, hg. von der Evangelischen Kirche in Deutschland (Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2023); vgl. dazu Martin Fritz: Triumph der Säkularisierung. Skeptische Rückfragen an die Erstauswertung der EKD-Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU VI), in: ZRW 87/1 (2024), 3–24.
  3. Vgl. dazu Martin Fritz: Im Bann der Dekadenz. Theologische Grundmotive der christlichen Rechten in Deutschland (Berlin: EZW, 2021); Kurzfassung in: Johann Hinrich Claussen u.a.: Christentum von rechts. Theologische Erkundungen und Kritik (Tübingen: Mohr Siebeck, 2021), 9–63; vgl. auch die Zusammenfassung Ders.: Rechtes Christentum, in: ZRW 87/1 (2024), 65–74; online: https://tinyurl.com/2s3nhp22.

Ansprechpartner

Foto Dr. Martin FritzPD Dr. theol. Martin Fritz
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Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen
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